4. Leseabschnitt: Seite 255 bis Ende

alasca

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13. Juni 2022
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Es kommt alles genau so, wie ich es erwartet habe. Keine Überraschungen.

Carmen wird von Pineiro ähnlich angelegt wie Julián, nur mit mehr Mumm. Wenn man es so bezeichnen will. Für ein starres Glaubensgebilde ist ihr Glaube erstaunlich flexibel. Alles ist die Sünde der anderen. Die Psychologie dieser kranken Seele fand ich durchaus überzeugend. Ihr Hass auf die Schwester, die ebenso schön ist wie sie, darf endlich ausgelebt werden. Alles das, was Carmen Ana an Konkurrenzdenken zuschreibt, ist ihr eigenes Empfinden. Zusammen mit religiösem Fanatismus wird eine toxische Mischung daraus.

Nicht gut finde ich den Keramikofen und die Trennscheibe, die plötzlich aus dem Ärmel gezogen werden. Auch dass der Torso verkohlt ist (und das muss für die Arme ja auch gelten), erfahren wir erst hier. Ich hatte die ganze Zeit den Eindruck, er sei nur teilverbrannt - und die Arme gar nicht. Pineiro legt den Roman wie einen Krimi an, befolgt aber nicht die Regeln des Genres.

Der Brief von Alfredo birgt ebenso keine Überraschungen. Auch er will die Wahrheit nur so weit wissen, wie sie nicht zu schrecklich wird. Es klingt so, als würde er etwas ahnen - wenn er von der dunklen Basis der Ehe von Julián und Carmen spricht. Aber den letzten Erkenntnisschritt geht er nicht - zu grauenhaft.

Aber da Carmen ja die Absicht geäußert hat, Julián alles zu erzählen, um seine Verzeihung (!) zu erlangen, kann man sich vorstellen, dass Mateo und Lìa in einer Zukunft jenseits der Erzählung doch noch davon erfahren.

Ein paar schöne Sätze über die Scheinheiligkeit, Abtreibung als Sünde anzusehen und die betroffen Frauen zu kriminalisieren. Und folgenden Satz kann ich nur unterstreichen: "Es braucht Mut, um an nichts zu glauben [...]." Atheismus ist nichts für Memmen.

Richard Dawkins´ "Gotteswahn" habe ich übrigens gelesen - empfehlenswert.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Das Kapitel „ Carmen“ fand ich schrecklich. Was für ein kranker Geist. Ständig das Wort Gott und Religion im Munde führen, aber völlig kalt und herzlos handeln.
Wie kann man die eigene Schwester zersägen? Das war so grauenvoll, auch zum Lesen. Ja, Ana war schon tot, aber trotzdem...
Claudia Pineiro muss schon einen Hass auf Katholiken haben, um sich solche Figuren auszudenken.

Interessant ist an der ganzen Geschichte, dass Ana die Einzige ist, die vor dem Gesetz ein Verbrechen begangen hat, alle anderen aber nicht. Wobei wir Leser es natürlich anders sehen ( sollen).
Der Roman ist eine einzige Kritik an dem Katholizismus und dessen rigider Sexualnorm.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Diesen letzten LA habe ich mit gemischten Gefühlen gelesen.

Zunächst einmal ist die Darstellung von Carmen nun "rund". Und zwar ist sie das für mich auch dahingehend, da sie in ihrem Abschnitt an einer Stelle behauptet, sie sei ja kein Psychopath. Ich glaube genau das Gegenteil ist der Fall. Sie ist über die Maßen manipulativ, nach außen charismatisch, nach innen zur Familie hin tyrannisch. Sie hat die nötige Abgeklärtheit, um ihrer toten Schwester die Beine und den Kopf abzuflexen und dann auch noch den Torso in einen Brennofen zu quetschen und unter schrecklichsten Gerüchen zu verkohlen. Und nicht außer Acht zu lassen: Vorher den Torso noch schön in beide Richtungen ausschütteln, um so viel wie möglich Blut herauszubekommen. Diese Szenen fand ich sehr grenzwertig für mich. Denn plötzlich zu etwas derartigem überhaupt fähig zu sein, ist schon unwahrscheinlich. Es ist eben nur unter der Prämisse möglich, dass sie gekonnt ihre Gefühle an- und abschalten kann. Aber das Ganze nicht in Form einer wahhanften Dissoziation, sondern bei vollem Bewusstsein und mit rationalem Denkvermögen. Deshalb für mich der Hinweis auf die Psychopathie gekoppelt mit dem religiösen Wahn.

Alfredos Brief hat mir weniger gut gefallen. Einfach weil die Autorin hier auf die Spitze treibt, was sie zuvor schon im Roman gemacht hat: Sie spricht aber auch alles bis aufs kleinste Detail aus bzw. lässt ihn aber auch alles erklären, damit es auch noch die letzten Lesenden kapieren. Bisher fand ich das okay im Roman, hier wirkte es mir ein bisschen wie ein abschließender Essay, um noch einmal alle Gedanken des Romans zusammenzufassen. Selbstständig denken wird also nicht mehr verlangt. Wenngleich grundsätzlich der Brief zur Person Alfredo durchaus passt, keine Frage.
Was mir in seinem Brief aufgefallen ist - und ich Frage mich, ob hier die Autorin geschlappt hat oder sie dies zeilt so gestaltet hat, dann wäre aber die Frage warum: Auf Seite 307 schreibt Alfredo, dass Marcela an einer "retrograden Amnesie" leide. Das ist nun gerade genau die falsche Art der Amnesie, sie geht in die falsche Richtung. Wie auch schon in Marcelas Abschnitt gesagt, leidet sie an einer "anterograden Amnesie". Sprich, es kommt bereits einmal im Buch der richtige Begriff vor, hier ist es der falsche. Der Brief von Alfredo klingt ansonsten immer noch unglaublich reflektiert, also nichts zu lesen von einer möglichen prämortalen Verwirrung. Warum sollte ihm nun dieser Fehler unterlaufen? Hm.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Diese Szenen fand ich sehr grenzwertig für mich.
Das waren sie für mich auch. Hat mich total abgestoßen, was sicher in der Intention der Autorin lag. Doch die Figur Carmen ist die für mich am plakativsten.
retrograden Amnesie" leide
Hier haben die Autorin, die Übersetzerin oder/und das Lektorat geschlampt. Nachdem dieses Krankheitsbild so detailiert beschrieben wurde und an Marcella genauestens demonstriert wurde, hätte das nicht passieren dürfen.

Der Brief Alfredos zeigt aber auch, dass man die Wahrheit nur bis zu einem gewissen Grad ertragen kann.

Hier wird nochmals das Motiv der Kathedralen durchexerziert.
Alfredo und damit die Autorin hofft auf einen, abseits jeglicher religiösen Doktrin, menschenfreundlichen Gott, dem jeder seine individuelle Kathedrale errichten soll.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Der Brief Alfredos zeigt aber auch, dass man die Wahrheit nur bis zu einem gewissen Grad ertragen kann.
Das stimmt, das ist gut herausgestellt.
Hier wird nochmals das Motiv der Kathedralen durchexerziert.
Alfredo und damit die Autorin hofft auf einen, abseits jeglicher religiösen Doktrin, menschenfreundlichen Gott, dem jeder seine individuelle Kathedrale errichten soll.
Und damit wird für mich persönlich das Buch auch rund. Die Kathedralen spielen - rein als kirchliche Bauwerke - im Mittelteil des Buches kaum bis gar keine Rolle (natürlich im übertragenen Sinne, der rigiden Kathedralen von Julián und Carmen). Dass Alfredo dieses Bild erneut aufgreift, passt zu ihm und zum Narrativ des Buches.
 

Irisblatt

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15. April 2022
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Carmens Teil fand ich überzeugend in der Darstellung (wobei ich die Details von Carmens Verstümmelungstaten nicht gebraucht hätte). Interessant fand ich, wie sie es schafft in ihrem rigiden Glaubensbild alles doch sehr flexibel zu drehen, damit sie am Ende aus ihrer Sicht fast keine Schuld trifft. Das einzige, mit dem sie vorgeblich hadert, ist, nicht das noch ungeborene Leben geschützt zu haben. Auch gelingt es ihr blendend Julians Schuld zu banalisieren - er war nur das Opfer einer bösen Hure. Was hätte er schon tun sollen?
Mich stört weiterhin die Art und Weise, in der diese Geschichte erzählt wird - sie lässt mir kaum Raum für eigene Gedanken. Obwohl es der Autorin um die unterschiedlichen Sichtweisen geht, die stark durch den Katholizismus und die Kirchendoktrin, geprägt sind, hätte mir eine andere Form - die ohne Frage wichtigen Themen zu thematisieren - besser gefallen.
 

Irisblatt

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15. April 2022
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Alfredos Brief hat mir weniger gut gefallen. Einfach weil die Autorin hier auf die Spitze treibt, was sie zuvor schon im Roman gemacht hat: Sie spricht aber auch alles bis aufs kleinste Detail aus bzw. lässt ihn aber auch alles erklären, damit es auch noch die letzten Lesenden kapieren.
Leider ...
Auf Seite 307 schreibt Alfredo, dass Marcela an einer "retrograden Amnesie" leide. Das ist nun gerade genau die falsche Art der Amnesie, sie geht in die falsche Richtung. Wie auch schon in Marcelas Abschnitt gesagt, leidet sie an einer "anterograden Amnesie". Sprich, es kommt bereits einmal im Buch der richtige Begriff vor, hier ist es der falsche. Der Brief von Alfredo klingt ansonsten immer noch unglaublich reflektiert, also nichts zu lesen von einer möglichen prämortalen Verwirrung. Warum sollte ihm nun dieser Fehler unterlaufen? Hm.
Das ist bestimmt ein unbeabsichtigter Fehler, der mir zum Glück nicht aufgefallen ist, weil ich mir den Namen dieser besonderen Amnesie-Form nicht gemerkt hatte.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Uups! Den Carmen-Abschnitt (ich wahrsten Sinne des Wortes) hätte ich gestern zur mitternächtlichen Stunde wahrlich nicht gebraucht. Die genauen Details zur Verstümmelung einer Leiche habe ich so nicht erwartet, vor allem nicht von einem Familienmitglied.
Der Schluss ist mir zu unrund. Alfredos Brief holt die Kuh auch nicht vom Eis. Er kannte die volle Wahrheit nicht, nur Julian und Carmen kennen sie, Pater Manuel erahnt sie.
Das Geständnis Alfredos, sich in Marcela verliebt zu haben, verleiht dieser ganzen Brutaloszenerie nur ein Pflaster auf einer klaffenden Wunde, die eines Chirurgen bedurft hätte.
Jetzt will Alfredo, dass Mateo und Lia eine Familie werden? Wie soll das funktionieren? Doch nur über den Hass auf Carmen und Julian... keine gute Idee!
 

Eulenhaus

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13. Juni 2022
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Mir bleiben Zweifel, ob ein solches religiös motiviertes Verbrechen durch nächste Angehörige tatsächlich möglich gewesen wäre oder ob die Autorin/der Verlag dieses grausame Element für den Verkauf des Buches förderlich sehen.
Dieser „Mord“ ohne wirkliche Täter-Ermittlung und Bestrafung scheint mir nur in der Zeit nach der Militärdiktatur möglich gewesen zu sein.
 

Irisblatt

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15. April 2022
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In Argentinien wurde Abtreibung erst im Dezember 2020 legalisiert. Piñeiro schrieb ihren Roman also zu einer Zeit, in der Abtreibungen noch illegal, die gesellschaftliche Debatte darüber aber in vollem Gang war.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Alles das, was Carmen Ana an Konkurrenzdenken zuschreibt, ist ihr eigenes Empfinden. Zusammen mit religiösem Fanatismus wird eine toxische Mischung daraus.
Gut formuliert.

Wir haben uns von Julian und Carmen auch einlullen lassen, was die Qualität der Beziehung zwischen Julian und Ana betrifft: Wer sagt uns, dass Julian ihr nicht doch die Liebe versprochen hat? Das Mädchen war doch bestimmt in ihn vernarrt, reine Berechnung (Aussage Carmen) war das nie! Sie war erst 17 und streng religiös erzogen. Ohne romantische Gefühle hätte sie sich nicht mit dem Kerl eingelassen. Behaupte ich mal.
Es klingt so, als würde er etwas ahnen - wenn er von der dunklen Basis der Ehe von Julián und Carmen spricht. Aber den letzten Erkenntnisschritt geht er nicht - zu grauenhaft.
Nein. Er ist sich nicht absolut sicher. Deshalb kann er dem Sohn nicht so etwas Grauenhaftes wie eine Leichenschändung seiner Eltern eröffnen. Er muss bei der (durch Geständnisse) erwiesenen Wahrheit bleiben in seinem Brief.
Claudia Pineiro muss schon einen Hass auf Katholiken haben, um sich solche Figuren auszudenken.
Ja. Aber vielleicht begründet sich der Hass auf jahrelange Erfahrungen. Das würde ich sie gerne fragen. Diese rigide katholische Welt hat so gar nichts mit unserem täglichen Erleben in Deutschland zu tun (von Sekten vielleicht abgesehen). Ich bin sicher, dass der "Hass" Pineiros und ihre Drastik nicht von Ungefähr kommen.
Warum sollte ihm nun dieser Fehler unterlaufen?
Hier haben die Autorin, die Übersetzerin oder/und das Lektorat geschlampt.
Genau. Und außer @GAIA wäre das niemandem aufgefallen;). Das Krankheitsbild war klar und den Wortklang habe ich auch wieder erkannt...
So ging es denn auch den Lektoren :grinning
 

Irisblatt

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15. April 2022
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Zur Anhörung im Parlament/ Recht auf Abtreibung
"Der konservative Präsident Mauricio Macri hatte grünes Licht für die Debatte im Parlament gegeben, die ein Teil der Zivilgesellschaft seit langem forderte. Dazu konnten sich seine Vorgänger nicht durchringen – der Einfluss der Kirche im mehrheitlich katholischen Argentinien spielte eine Rolle. Macri betonte aber auch, ein wenig diffus, er persönlich sei für das Leben. Die Öffentlichkeit interpretierte: für das Leben des ungeborenen Kindes. Die populäre Schriftstellerin Claudia Piñeiro, eingeladen vom Parlament, wandte sich deshalb an den Präsidenten:

„Es ist grandios, dass Sie dieser Debatte ihren Segen gegeben haben, für die so viele Frauen seit Jahren kämpfen. Vielen Dank dafür, aber ich habe noch eine Bitte: Sagen Sie nicht mehr, dass Sie für das Leben sind. Denn auch ich bin für das Leben."
Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/legalisierung-der-abtreibung-historisches-votum-im-100.html
Ja. Aber vielleicht begründet sich der Hass auf jahrelange Erfahrungen. Das würde ich sie gerne fragen. Diese rigide katholische Welt hat so gar nichts mit unserem täglichen Erleben in Deutschland zu tun (von Sekten vielleicht abgesehen). Ich bin sicher, dass der "Hass" Pineiros und ihre Drastik nicht von Ungefähr kommen.
Piñeiro positionierte sich wohl auch öffentlich im Kampf um das Recht auf Abtreibung, das vor allem von der Kirche und erzkonservativen katholischen Kreisen blockiert wurde (s.o) Ich könnte mir vorstellen, dass deshalb die Kirche und ihre Vertreter bzw. fanatisch Gläubige wie Carmen und Julian so schlecht im Roman wegkommen.
 

alasca

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13. Juni 2022
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In Argentinien wurde Abtreibung erst im Dezember 2020 legalisiert. Piñeiro schrieb ihren Roman also zu einer Zeit, in der Abtreibungen noch illegal, die gesellschaftliche Debatte darüber aber in vollem Gang war.
Und der argentinische (!) Papst "wirbt" für den Schutz des Lebens. Das Leben der Frauen ist aus Sicht der katholischen Kirche nicht schützenswert. :smilehorn :eek::sad
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Carmen bestätigt in ihrem Abschnitt nochmal alles, was wir schon über sie wussten.
Worin ich nicht ganz sicher bin, ob sie wirklich Julians Große Liebe war, oder ob Anas Tod sie unter dem Strich nicht doch zusammengeschweißt hat. Julian scheint der Schwächere zu sein. Carmen hat das Zepter im entscheidenden Moment übernommen. Sie hat dafür gesorgt, dass Julian Ana nicht zur Hilfe kam.

Hat er im Laufe der Jahre Carmens Version übernommen? Um weitermachen zu können wie bisher? Die beiden wiederholen dieselben Glaubenssätze, die auf mich fremd, kalt und auswendig gelernt wirken.
Auch sprachen sie nie über Ana. Sie wollten etwas vergessen, was man eigentlich nicht vergessen kann. Sie haben sich einen religiösen Rechtfertigungsdeckmantel gestrickt.
"Ihr Tod war Gottes Wille." - Meine Güte, wie verpeilt muss man sein! Und wie oft habe ich das hier gelesen?

Wenn man uns die Wahrheit vorenthält, hört der Schmerz nie auf. 300
Was hat Carmen ihren Eltern mit dieser Geschichte angetan? Sie hat "Schande" verhindert. Eine Schande, die längst vergangen wäre. Nach kurzer Zeit hätten die Großeltern ihr Enkelkind geliebt...
Anstelle dessen eine jahrzehntelang währende Lüge. Das Bild einer zerstückelten Tochter, die Vorstellung sexueller Gewalt und schrecklicher letzter Lebensstunden....
Carmen Motive sind total egoistisch. Sie wollte Julian und sich ihren Lebenstraum nicht zerstören lassen.

Alfredos Brief ist natürlich nicht frei von Pathetik. Aber das haben letzte Briefe so an sich. Ich mag Schreiber und Brief. Er fällt die richtigen Urteile. Losgelöst von katholischen Dogmen kann er das Unrecht definieren: Julian hat seine Tochter im Stich gelassen. Dass Carmen alles dafür getan hat, weiß er nicht. Das wissen wir.

Die kleine Liebesgeschichte finde ich nett. Weil sie Marcela gut tun wird, die Alfredo ja auch sehr mag. Das Geständnis hat nichts Sexuelles, was mir gefällt. Es geht um Liebe im wahren Sinn.

Vor dem Gesetz ist sie (Ana) die einzige, die ein Verbrechen begangen hat - sie hat abgetrieben. 306
Ich brauchte diesen Satz zur Verdeutlichung. Er ist nicht überflüssig.

Die Wiederaufnahme der Kathedralen erneut am Ende des Romans finde ich sehr stimmig. Was kommt nach dem Tod? Wir wissen es nicht. Alfredo hat ein paar tröstliche Varianten aufgezählt - ein irgendwie tröstliches Ende, auch wenn ich dieses "zusammen könnt ihr das verkraften" auch etwas dick aufgetragen finde. Ein letzter Brief eben.
 

Irisblatt

Bekanntes Mitglied
15. April 2022
1.325
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53
Hat er im Laufe der Jahre Carmens Version übernommen? Um weitermachen zu können wie bisher? Die beiden wiederholen dieselben Glaubenssätze, die auf mich fremd, kalt und auswendig gelernt wirken.
Das kann durchaus sein. Je häufiger Erinnerungen "falsch" erinnert werden umso "wahrer" werden sie für die Personen. So ist es möglich die eigene Geschichte anzupassen bis alles nicht mehr ganz so schlimm scheint.
Die beiden haben sich darin bestärkt, dass sie richtig gehandelt haben, dass sie nichts tun konnten, dass letztendlich alles Gottes Wille war. Ein paar Bibelstellen waren auch immer zur Hand - wie praktisch! Und beichten konnten sie auch. Der Akt der Verstümmelung war keine Sünde, weil Ana bereits tot war. Damit mussten sie sich also auch nicht beschäftigen.
Dass sie alle in die Irre geführt, also gelogen haben, scheint wiederum völlig unerheblich zu sein, weil dadurch das große Leid der Schande abgewehrt wurde.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
4.618
16.618
49
Rhönrand bei Fulda
Carmen ist wirklich ein Herzchen. Verglichen mit ihr verblasst Julian zu einem bloßen Armleuchter. Er ist armselig, Carmen dagegen die reinste Bestie. Sie würde einen Menschen, den sie nicht leiden kann, ins Wasser schmeißen und sich sagen, es sei Gottes Wille gewesen, wenn er ertrinkt. Ana zum Beispiel hätte ja von der heiligen Anna gerettet werden können (S. 262) - wenn also die heilige Anna die Rettung verweigert, dann ist diese Rettung offenbar nicht gottgewollt, also darf Carmen gar nichts für ihre Schwester tun, da Gott es offenbar nicht will ... man fasst sich wirklich an den Kopf. Das ist geisteskrank.

Ein weiterer Punkt: sie fürchtet, dass Anas Leichnam von Tieren angefallen wird. Sie betet zu Gott, das nicht zuzulassen. Bevor sie selbst hergeht und ihrer Schwester zersägt. Wenn es nicht zum Speien wäre, wäre es zum Lachen ...

Naja, wir sind uns ja alle einig.
Gut gefallen hat mir der Brief des Papas. Bevor ich ihn las, dachte ich darüber nach, wie eine Ehe zwischen Carmen und Julian nach diesen Vorfällen überhaupt gelingen konnte. Also, nach außen hin gelingen, ohne dass die beiden einander zerfleischen. So richtig verstehe ich immer noch nicht, wie man sich das Eheleben der beiden vorzustellen hat. Dass ihnen zum Beispiel noch sexuelle Begegnungen gelungen sind. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn Julian impotent geworden wäre.

Offenbar haben die beiden sich irgendwie mit ihrer Vergangenheit arrangiert. Dass irgendwas mit ihnen nicht stimmt, hat Alfredo aber mitbekommen.

"Was Julian und Carmen betrifft, kann ich ihnen nicht vergeben, egal was vor oder nach Anas Tod geschehen sein mag" schreibt Alfredo (S. 305). Wahrscheinlich ahnt er auch Carmens Mitwirkung und dass bei der Schändung des Leichnams die beiden die Finger im Spiel hatten. Aber, wie er selbst schreibt, das zu durchdringen wäre unerträglich.

Gut gefallen hat mir auch, wie er Marcelas Freundschaft hervorhebt. Denn Marcela ist die Heldin der Geschichte für mich. Wie sie zu Ana gestanden hat, mit ins Behandlungszimmer ging und sie bis zum Ende unterstützte, so gut sie konnte. Und das im Alter von fünfzehn - Hut ab. Es ist schön, dass wenigstens Alfredo das angemessen würdigt und sich um sie kümmert. Nur schade, dass sie ihn nun auch verloren hat. Eigentlich ist sie die große Verliererin des Buches; wir erfahren auch nicht, wie es nun mit ihr weitergehen wird, während wir für Lía und Mateo Hoffnung haben dürfen.

Habt ihr übrigens gesehen, dass die Autorin in ihrer Nachschrift Berna Gonzalez Harbour dankt? Unserer Goya-Krimi-Autorin! Von Sarah Schweblin, die ebenfalls in der Nachschrift auftaucht, wollte ich eigentlich mal etwas lesen - vor einiger Zeit gab es im TV eine gruselige Serie nach einem ihrer Bücher, in der es um einen Umweltskandal ging.