4. Leseabschnitt: Seite 241 bis 313 (Ende)

Sandra Brökel

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10. August 2020
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Ich ärgere mich gerade über Pavel. Er hat seiner Schwiegermutter verheimlicht, dass sie unheilbar an Krebs leidet. Er hat ihr verheimlicht, dass sie nie wieder zurückkehren wird.
Ich kann mir unschwer vorstellen, dass es mehr als schwierig ist, solche Nachrichten mitzuteilen. Das ist keine Frage. Es liegt auf der Hand. Aber manche Dinge sind eben schwierig und man muss sie trotzdem tun.
Es gibt keinen Moment, ab dem etwas nicht mehr möglich ist. Man kann auch nach diesem Moment die Dinge noch aufgreifen. Es ist eine Ausflucht, sich auf diesen Moment zu focusieren.
Seine Gedanken auf Seite 287 sind für mich ein Versinken in Selbstmitleid. Ja, er hat das alles getan. Aber er könnte jetzt etwas richtig machen. Er könnte es ihr jetzt sagen. Feinfühlig und mit Erklärungen, vielleicht Entschuldigungen.
Und er könnte auch mit seiner Frau sprechen. Und mit seinem nicht mehr hüpfenden Töchterlein. Meines Erachtens spricht er für einen Psychiater recht wenig und vor allem recht wenig offen. Letztendlich heilen und helfen Gespräche und Verständnis. Für mich ist Pavel einer, der sich zu sehr in seine Arbeit und in seine Gedanken flüchtet.

Bei alldem vergesse ich natürlich nicht, was er alles geschafft und erreicht hat. Für sich und seine Familie. Wie anstrengend das alles war. Wie viel Mühe all das gekostet hat.
Und ich sehe natürlich auch all die vielen positiven Seiten, die er hat. Keine Frage.

Jap!!! Unterschreibe jede einzelne deiner Zeilen!!!!
Das ist der Unterschied zum fiktiven Romanhelden! Er hat bisweilen (schwere!) Fehler gemacht!
Die ganze Familie (Vera und Pavli sowieso!), aber auch er selbst hätte dringend einen guten Psychiater/Psychologen gebraucht! ...

Es würde hier in der Leserunde vermutlich zu weit führen, das im Detail zu diskutieren. Ich kann dir aber versichern, dass das ein ganz großes Thema in der Entstehungsgeschichte des Romans zwischen Paulchen und mir war. Bisweilen erlag sie einem Zwiespalt zwischen Wut/Enttäuschung und einer unanfechtbaren Idealisierung ihres Vaters. Ein gesundes Mittelmaß war zu Beginn der Aufarbeitung nicht möglich. Nur schwarz-weiß. Im Laufe unserer Arbeit und je mehr der Roman wuchs, kamen die "Grautöne" zurück... Insofern war das ganz wichtig, seine Fehler, die geschehen sind, im Roman NICHT zu beschönigen...
Das nur so als Hintergrundfeedback. Soll keine Entschuldigung sein... ;-)))) Ich denke, du verstehst, was ich meine...
Vielleicht auf den Punkt gebracht:
Es ist - glaube ich - ein Unterschied, mit welchem Ziel ein Roman geschrieben wird. Ich hatte NICHT das Ziel, einen erfolgreichen Roman zu schreiben, sondern das Ziel der therapeutischen Aufarbeitung. Das Buch/der Roman war quasi eine Art von Nebenprodukt (ein sehr schönes!), das dabei entstand....

Ps. ich freue mich riiiiiiieeesig über deine Anmerkungen! Man merkt deine Professionalität! Chapeau! Und vielen Dank!!!
 

Literaturhexle

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Ich hatte NICHT das Ziel, einen erfolgreichen Roman zu schreiben, sondern das Ziel der therapeutischen
Das wiederum kommt (rein subjektiv) der Qualität des Romans zu Gute.
Mittlerweile bin ich als Leserin so versiert, dass ich schwarz/weiße Stereotype und konstruierte Plots ziemlich zügig erkenne und mich genervt fühle o_O.
ich freue mich riiiiiiieeesig über deine Anmerkungen! Man merkt deine Professionalität! Chapeau! Und vielen Dank!!!
Ja, ich weiß. Hier sind die Fachfrauen unter sich;)
Trotzdem schön, dass ihr uns teilhaben lasst.
 

Sandra Brökel

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S. 293: „Sei nett zu der Mama. Ist gerade nicht einfach für Sie.“
Ich fasse es nicht. Das kleine Mädchen hätte Trost gebraucht. Und Erklärungen. Und Verständnis.
Dazu schicke ich dir später mal den Text mit Paulchens Perspektive... das ist eine der Szenen, in der unsere Arbeit hinter den Kulissen des Romans deutlich wird. Die Texte hatten wir auch im Kolloquium zum Trauertherapeuten - die zusätzliche Ausbildung, die wir parallel zu dem ganzen anderen Wahnsinn von 2016-2017 absolviert hatten... Der Dozent hatte seine helle Freude mit uns beiden damals... wir haben ihn echt gefordert damit. Sehr lehrreiche Zeit für uns...Ein wunderbares Beispiel für Trauertherapie...
 

Sandra Brökel

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Ich muss an der Stelle ein Lob an Sandra Bröckel aussprechen. Es ist toll, dass sie Pavel so facettenreich gezeichnet hat. Er ist eine vielschichtige Persönlichkeit mit vielen Seiten. So wie jeder Mensch. Und sie hat es ganz toll hingekriegt, dem Leser das zu zeigen. Und nicht nur zu nüchtern aufzuzeigen. Sie schafft es auch, die entsprechenden Gefühle und Reaktionen auf diese Seiten beim Leser auszulösen.
Danke!
 
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RuLeka

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Ich ärgere mich gerade über Pavel. Er hat seiner Schwiegermutter verheimlicht, dass sie unheilbar an Krebs leidet. Er hat ihr verheimlicht, dass sie nie wieder zurückkehren wird.
Ich kann mir unschwer vorstellen, dass es mehr als schwierig ist, solche Nachrichten mitzuteilen. Das ist keine Frage. Es liegt auf der Hand. Aber manche Dinge sind eben schwierig und man muss sie trotzdem tun.
Es gibt keinen Moment, ab dem etwas nicht mehr möglich ist. Man kann auch nach diesem Moment die Dinge noch aufgreifen. Es ist eine Ausflucht, sich auf diesen Moment zu focusieren.
Seine Gedanken auf Seite 287 sind für mich ein Versinken in Selbstmitleid. Ja, er hat das alles getan. Aber er könnte jetzt etwas richtig machen. Er könnte es ihr jetzt sagen. Feinfühlig und mit Erklärungen, vielleicht Entschuldigungen.
Und er könnte auch mit seiner Frau sprechen. Und mit seinem nicht mehr hüpfenden Töchterlein. Meines Erachtens spricht er für einen Psychiater recht wenig und vor allem recht wenig offen. Letztendlich heilen und helfen Gespräche und Verständnis. Für mich ist Pavel einer, der sich zu sehr in seine Arbeit und in seine Gedanken flüchtet.

Bei alldem vergesse ich natürlich nicht, was er alles geschafft und erreicht hat. Für sich und seine Familie. Wie anstrengend das alles war. Wie viel Mühe all das gekostet hat.
Und ich sehe natürlich auch all die vielen positiven Seiten, die er hat. Keine Frage.
Ich glaube, er ist einfach überfordert mit der ganzen Sache.Verantwortung für alle, Zweifel, ob das richtig war, was er getan hat usw. Man merkt ja auch, wie er zusehends gereizter wird auf der Flucht. Und danach hat er den richtigen Zeitpunkt verpasst.
Außerdem muss man berücksichtigen, dass diese Geschichte 50 Jahre zurückliegt. Da war das Männerbild noch ein anderes. Der Mann entscheidet, trägt die Verantwortung für seine Familie. Da wurde nicht so viel diskutiert.
Davon mal abgesehen gefällt es mir, dass Sandra Brökel ihn nicht heroisiert. Er bleibt ein Mensch mit Fehlern.
 

RuLeka

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Ich fasse es nicht. Das Mädchen wird von ihm überschätzt und überfordert.
Das ist ja schon vorher der Fall. Pavel nimmt das Mädchen mit zu den Versammlungen oder führt Gespräche, die sie nicht unbedingt verstehen kann. Einerseits finde ich es gut, dass er das Mädchen ernst nimmt, aber er übersieht, dass sie mit ihren knapp 12 Jahren eigentlich noch ein Kind ist.
 

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Jap!!! Unterschreibe jede einzelne deiner Zeilen!!!!
Das ist der Unterschied zum fiktiven Romanhelden! Er hat bisweilen (schwere!) Fehler gemacht!
Die ganze Familie (Vera und Pavli sowieso!), aber auch er selbst hätte dringend einen guten Psychiater/Psychologen gebraucht! ...
... Und weißt du was ich so bewundernswert finde? Dass du in deinem Buch überhaupt nicht bewertest und urteilst. Du beschreibst es einfach. Ich könnte mir vorstellen, dass das gar nicht einfach war. Ich habe ja selbst als Leserin, die viel weiter weg ist, gemerkt, wie mein Bedürfnis schon beim Lesen wuchs, meine Gefühle loszuwerden und meine Eindrücke mit euch zu teilen.
 

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ich freue mich riiiiiiieeesig über deine Anmerkungen! Man merkt deine Professionalität! Chapeau! Und vielen Dank!!!
... Danke für diese Rückmeldung. Ich hatte schon ein bisschen befürchtet, dir mit meinen Worten auf die Füße zu treten. Und das würde ich keinesfalls wollen. Das läge mir fern.
 

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Die ganze Familie (Vera und Pavli sowieso!), aber auch er selbst hätte dringend einen guten Psychiater/Psychologen gebraucht! ...
... Zumindest Paulchen hätte ich so sehr eine intensive, kontinuierliche und hilfreiche Psychoanalyse gewünscht. Das meinte ich damals auch mit „größeren Kontext“ bezogen auf ihre Panikattacken.
Ich bin, obwohl ich sie nicht kannte, so froh, dass du dieses Buch für sie und mit ihr geschrieben hast. Wie kann man Freundschaft besser zum Ausdruck bringen.
 

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Dazu schicke ich dir später mal den Text mit Paulchens Perspektive... das ist eine der Szenen, in der unsere Arbeit hinter den Kulissen des Romans deutlich wird. Die Texte hatten wir auch im Kolloquium zum Trauertherapeuten - die zusätzliche Ausbildung, die wir parallel zu dem ganzen anderen Wahnsinn von 2016-2017 absolviert hatten... Der Dozent hatte seine helle Freude mit uns beiden damals... wir haben ihn echt gefordert damit. Sehr lehrreiche Zeit für uns...Ein wunderbares Beispiel für Trauertherapie...
... So ein einzelner Satz, eingebettet in den entsprechenden Kontext, kann so viel anrichten…
 
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Ich glaube, er ist einfach überfordert mit der ganzen Sache.
... das ist die Erklärung, aber es ist keine Entschuldigung. Den Mut aufzubringen, um die Wahrheit zu sagen ist heute nicht leichter oder schwerer als früher und der kleinen Pavli hat das geschadet. Erklärung hin oder her.
 

Literaturhexle

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.. das ist die Erklärung, aber es ist keine Entschuldigung.
Das ist wohl richtig. Dennoch muss man Entscheidungen vor dem historischen Kontext sehen. Als ich Kind war, hat man schwer erkrankten Erwachsenen oftmals ihre Diagnose verschwiegen. Es wurde immer gefragt: "Weiß er/sie es?". Dieser Trend zur kolossalen Offenheit kam erst später.
Ich verurteile das Verhalten Pavels auch, dass er seine Familie mit der Sterbenden alleine ließ. Meine Empörung könnt ihr auch oben nachlesen. Dennoch stimmt mich die Erklärung etwas gnädiger. Zudem ich keine Therapeutin bin und die erlittenen Verletzungen der Opfer heilen muss.
 

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Als ich Kind war, hat man
... Auch das ist letztlich nur eine Erklärung. Es wird dann besser nachvollziehbar. Aber es hilft den Opfern und denen, denen es geschadet hat, nicht weiter. Und es ändert nichts an der Tatsache, dass es geschadet hat.
Es ist immer wichtig, Erklärungen zu finden, damit man Zusammenhänge herstellen und Entwicklungen besser nachvollziehen kann. Aber Erklärungen nehmen den Geschehnissen nicht die Bedeutung. Mindern sie auch nicht. Man kann sie dann einfach besser einordnen und nachvollziehen. Und das ist schonmal sehr wichtig. Auch in einem therapeutischen Prozess.
 

Literaturhexle

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Es ist immer wichtig, Erklärungen zu finden, damit man Zusammenhänge herstellen und Entwicklungen besser nachvollziehen kann. Aber Erklärungen nehmen den Geschehnissen nicht die Bedeutung
Dann sind wir uns doch komplett einig.
Als Laie ist man da einfach nicht so sensibel. Weil man die Folgen nicht kennt. Mir sind Erklärungen aus den genannten Gründen aber wichtig. Wenn es die nicht gäbe, würde Pavels Verhalten ja willkürlich erscheinen.
 

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... das ist die Erklärung, aber es ist keine Entschuldigung. Den Mut aufzubringen, um die Wahrheit zu sagen ist heute nicht leichter oder schwerer als früher und der kleinen Pavli hat das geschadet. Erklärung hin oder her.
Ich wollte ihn damit nicht entschuldigen, sondern mir sein Verhalten erklären.
 

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Dann sind wir uns doch komplett einig.
Als Laie ist man da einfach nicht so sensibel. Weil man die Folgen nicht kennt. Mir sind Erklärungen aus den genannten Gründen aber wichtig. Wenn es die nicht gäbe, würde Pavels Verhalten ja willkürlich erscheinen.
Erklärungen sind nicht nur für „Laien“ wichtig, sondern unbedingt auch für „Profis“... Wenn man Zusammenhänge versteht kann man sich die Welt besser erklären. Dann ist es nicht mehr so, als würden viele Puzzleteile unverbunden nebeneinander liegen. Dann kann ein Bild entstehen.
 

Sandra Brökel

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Außerdem muss man berücksichtigen, dass diese Geschichte 50 Jahre zurückliegt. Da war das Männerbild noch ein anderes. Der Mann entscheidet, trägt die Verantwortung für seine Familie. Da wurde nicht so viel diskutiert.
Wow! Daran habe ich noch nie gedacht... interessant!! Ja, da könnte was dran sein.
Ich mag mich nicht wiederholen, was seine Fehler angeht... aber eines bitte bedenken: Er war hatte drei Facharztausbildungen: Neurologe, Kinderarzt und Kinder- und Jugendpsychiater! Insofern finde ich es schon etwas bedenklich, was da mit Paulchen gelaufen ist...
Wir beide (Paulchen und ich) haben manchmal die Volksweisheit "der Schuster hat die schlimmsten Schuhe" dafür benutzt. Ich bin davon überzeugt, dass er gesehen hat, dass es Frau und Tochter nicht gut ging, aber er selbst hatte natürlich keine Distanz, konnte da nichts ausrichten. Aber es hat es schlichtweg verpennt, sie in die Hände kompetenter Kollegen zu geben... Warum? Ich weiß es nicht. Überforderung? Verdrängung?... Es war eben so.
Und ich kann sehr gut verstehen, dass SuPro da fassungslos ist...
 

Sandra Brökel

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... Danke für diese Rückmeldung. Ich hatte schon ein bisschen befürchtet, dir mit meinen Worten auf die Füße zu treten. Und das würde ich keinesfalls wollen. Das läge mir fern.
Hähhh ????
Auf die Füße treten???? Wieso das denn?
Ich finde das enorm bereichernd!!!! Ich liebe solche Diskussionen! Nur diese Gespräche sind es doch, die einen Menschen voran bringen!
Bitte mach weiter so!