4. Leseabschnitt: Seite 215 bis 276

Barbara62

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19. März 2020
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Ich habe den letzten Abschnitt gestern gelesen, brauchte aber erst einmal ein paar Stunden, um mich zu sortieren. Zwischendurch hatte ich keine Vorstellung, wie der Roman mit so wenigen Seiten zu einem Ende kommen könnte, aber es ging - und zwar sehr gut. Kein rosarotes Happy End (zum Glück!), aber ein versöhnliches Ende mit Schub für beide Protagonisten, um ihrem Leben eine neue Richtung zu geben. Ob sie ihn nutzen können, bleibt unserer Fantasie überlassen und das ist gut so.

Edvard gesteht sich ein, dass er 1985 in Lübeck versagt hat. Er hätte mit Elsie neu anfangen können, sie war offensichtlich dazu bereit, aber er hat gekniffen: "Er hätte um das Leben mit Elsie kämpfen müssen." (S. 224). Aber Edvard war nie ein Kämpfer. Stattdessen brauchte er mit 28 Jahren, die er damals alt war, eine Ausrede vor seiner Mutter, warum er abends später heimkommen würde.

Und noch eine schöne Stelle, in der Edvard erkennt, was schiefgelaufen ist: "Die Zeit war gegen mich. Ich habe mich nicht gewehrt, nahm alles, wie es kam." (S. 227). Ein Stück Bequemlichkeit und Konfliktscheue gegenüber der Mutter steckt da mit Sicherheit drin.

Alva dagegen führte ihr Leben wie hinter einer Scheibe (S. 230), ein gutes Bild. Auch sie erkennt eigene Fehler, vor allem den, zuviel von der Beziehung zu Tom erwartet zu haben. Nun stellt sie ihre eigenen Bedürfnisse zurück, wirft nur einen kurzen Blick auf Kirkeporten, weil sie gebraucht wird. Die Rollen zwischen Edvard und Alva sind inzwischen komplett vertauscht.

"Ich muss nicht mehr suchen, was ich brauche. Ich brauche mich." (Alva, S. 274). Darüber habe ich lange nachgedacht. Für mich bedeutet es, dass sie es aus eigenen Kräften schaffen muss, nicht, indem sie sich von Tom stärken lässt, die Hilfe ihrer Mutter und ihres Stiefvaters in Anspruch nimmt oder von Jos Hilfe im Job profitiert.

Neben den Schicksalen von Edvard und Alva interessiert mich besonders die norwegisch-deutsche Geschichte. Die wird mit den Erzählungen von Lemskø und dem Eismeerjäger sehr gut eingeflochten, ohne dass es bemüht wirkt. Über die Finnmark wusste ich bereits aus Roy Jacobsens Roman "Die Unsichtbaren" einiges, über die Festung Herdla habe ich noch ein wenig recherchiert, die Vergeltungsmaßnahme der Wehrmacht allerdings nicht gefunden. Hat die tatsächlich stattgefunden? Falls nein, gab es genug solche bestialischen Aktionen anderswo. Auch der Abschnitt über die "Quislinge" war sehr interessant und genau das Thema von Simon Strangers "Vergesst unsere Namen nicht". Lange hat man in Norwegen darüber geschwiegen.

Das Motiv der Namensänderung kommt doppelt vor: bei Alva und bei Edvards Vater. Dazu der Hinweis, dass nach dem Glauben der Sami die Kräfte und Fähigkeiten unserer Ahnen im Moment der Namensgabe auf das Neugeborene übergehen. Was ginge demnach verloren, wenn man den Namen wechselt?

Es passt für mich sehr gut, dass Edvard die letzte Adresse des Vaters nicht aufsucht. Er hat, was er wollte, er hat den Verbleib des Vaters nach dessen Verschwinden aufgeklärt. Und er kann sich ein wenig mit der Lüge der Mutter aussöhnen, denn der Vater war ja für sie tot, "weil er nicht für uns gelebt hat" (S. 276).

Eine sehr beeindruckende Lektüre, ein absolut rundes Leseerlebnis. Auch dieses Buch müsste man eigentlich mehrmals lesen um alles zu erfassen. Jetzt bin ich auf euren Eindruck sehr gespannt!
 
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Literaturhexle

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@Barbara62
Leider sind mir gestern Abend die Augen zugefallen, ich habe die letzten 20 Seiten nicht geschafft. Aber das Buch hat ein waches Hexle verdient- deshalb passt das so. Ich freue mich, dass der Roman dir so gut gefallen hat (habe es aber im Grunde vorher gewusst;))
Bis später!
 
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ulrikerabe

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14. August 2017
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Ich fand schön, wie sich letztlich ein erzählerischer Kreis schließt. Ganz zu Beginn nimmt Edvard den Platz seiner Mutter am Bettrand ein, um zu sehen, was sie gesehen hat. Ganz zum Schluss kann er aus der Perspektive der Mutter verstehen. "Er ist tot... Weil er nicht für uns gelebt hat."
 
12. Januar 2021
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Über die Finnmark wusste ich bereits aus Roy Jacobsens Roman "Die Unsichtbaren" einiges, über die Festung Herdla habe ich noch ein wenig recherchiert, die Vergeltungsmaßnahme der Wehrmacht allerdings nicht gefunden. Hat die tatsächlich stattgefunden?
Es gab wohl tatsächlich solch ein Vergeltungsmaßnahme (und wahrscheinlich nicht nur eine), die sich gegen die norwegischen Fluchthelfer richtete. Mir wurde bei der Recherche auf der Insel davon berichtet.
 
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Auch der Abschnitt über die "Quislinge" war sehr interessant und genau das Thema von Simon Strangers "Vergesst unsere Namen nicht". Lange hat man in Norwegen darüber geschwiegen.
Meiner Erfahrung nach ist das noch immer ein ganz schwieriges Thema in Norwegen. Vor allem auch, wenn es um die norwegischen Frauen geht, die Beziehungen zu deutschen Soldaten haben. Sie wurden lange gesellschaftlich geächtet.
 

Die Häsin

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In dem Roman "Hitzewelle" der Norwegerin Anne B. Ragde kommt ein alter Herr vor, der sich an eine (homosexuelle) Beziehung mit einem deutschen Soldaten - während des Kriegs - erinnert. Was danach passiert ist, wird nie ausgesprochen - ich habe eben nochmal nachgesehen, es heißt nur, der junge Mann hätte Hitler gehasst und in Norwegen bleiben wollen, aber "dann haben sie ihn geholt ..." Die Geschichte wird, soweit ich mich erinnere, an keiner Stelle konkreter, kommt über diese Andeutungen nie hinaus, aber der alte Norweger, der sie berichtet, ist merkbar fürs Leben traumatisiert. Es gibt sicher viele solcher Schicksale bei den alten Leuten.
 

Literaturhexle

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So, jetzt habe ich die letzten 40 Seiten nochmal im wachen Zustand genossen:)
Eine wunderbar erzählte Geschichte mit so vielen Ebenen, so vielen Kleinigkeiten zu entdecken. Auch was @ulrikerabe sagte, dass Edvard am Ende des Buches die Sichtweise der Mutter vom Anfang verstehen kann - wirklich trefflich zusammengeführt.

In diesem letzten Abschnitt wird der Schwung vom vorletzten überführt. Die Zeichen stehen auf Veränderung:[zitat]Das Leben ändert sich nicht an einem Tag. Aber eines Tages weiß man, dass es sich verändert hat.216[/zitat]
Edvards Rückblick, als er Elsie als 28jähriger von der Bank abholen will und sich dann dermaßen einschüchtern lässt von dem vermeintlich perfekten Kollegen.... Das empfand ich sehr traurig, kann seine Gefühle aber nachvollziehen, hat er doch im Dorf mit der Mutter eine ziemliche Einsiedelei betrieben, die ihm Minderwertigkeitskomplexe gemacht hat.
[zitat]Die Zeit war gegen mich. Ich habe mich nicht gewehrt, nahm alles, wie es kam.227[/zitat]
Das sagt soviel aus über Edward. Insofern kommt der Aufbruch zur rechten Zeit. Auf die Mutter muss er keine Rücksicht mehr nehmen und Elsie - ein Geschenk des Himmels - ist wieder da und frei.

In der Szene mit den Schulabsolventinnen steckt wohl auch ganz viel Alva drin. Sie sieht sich selbst wieder beim Blick auf das langzopfige Mädchen... Diese kleinen, sensiblen Erinnerungssplitter zeigen uns immer wieder eine Facette der beiden Hauptfiguren. Schön!

Auf Seite 239 fragt sich Edward, ob die Mutter ihm bewusst vom Tod des Vaters erzählt hat, um ihm seinen Vater zu retten? Also dass er beim Sohn weiterhin als Held und positiv besetzt existieren kann.
Ich kann mir das kaum vorstellen. Zu egoistisch war die Mutter über all die Jahre. Sie hat ihren Sohn komplett für sich vereinnahmt, ihm keine Liebe, kein eigenes Leben gegönnt. Aus meiner Sicht wollte sie den Vater verbannen, sie wollte keine Konkurrenz, wollte verhindern, dass sich Edvard irgendwann auf die Suche begibt. Tut mir leid, von der Mutter habe ich kein gutes Bild. Sie hat den Sohn mit ihrer Liebe erdrückt und keine Flügel gegeben.

[zitat]Immer hatte Alva daran geglaubt, dass sich Menschen begegnen, die füreinander bestimmt sind. Zufall ist keine Erklärung. 241[/zitat]
Ich glaube, jeder, der den/die Richtige(n) gefunden hat, möchte dieses Zitat inhalieren:rolleyes:.

Die geschichtlichen Hintergründe fand ich spannend, sie waren mir weitgehend neu.

Das Ende des Romans lässt offene Stellen und das ist gut so, wie weiter oben schon ausgeführt wurde. Es wäre völlig unpassend gewesen, wenn sich nun alles in große Liebestaumel und geradlinige Lebensentwürfe aufgelöst hätte. Auch, wenn die beiden ein ganzes Stück weit zu sich und ihrem Weg gefunden haben, ist doch noch nicht alles ausgeräumt und gelöst. Es ist ein Anfang da. Mehr aber nicht.

Es war mir wie immer eine große Bereicherung, den Roman mit euch noch einmal gemeinsam zu lesen. "Noch alle Zeit" ist ein Buch, das man wohl in fast jedem Lebensalter lesen kann. Gewiss habe ich es nicht zum letzten Mal getan:).
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Das Motiv der Namensänderung kommt doppelt vor: bei Alva und bei Edvards Vater. Dazu der Hinweis, dass nach dem Glauben der Sami die Kräfte und Fähigkeiten unserer Ahnen im Moment der Namensgabe auf das Neugeborene übergehen. Was ginge demnach verloren, wenn man den Namen wechselt?
Das ist auch so ein Motiv, das immer mal wieder autaucht. Ebenso wie das Leben und natürlich die Zeit - in all ihren Zustandsformen. Wahrscheinlich gibt es noch mehr davon.
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Das ist auch so ein Motiv, das immer mal wieder autaucht. Ebenso wie das Leben und natürlich die Zeit - in all ihren Zustandsformen. Wahrscheinlich gibt es noch mehr davon.
Ja, das ist einer der vielschichtigsten Romane, die ich seit langem gelesen habe! Hut ab an dieser Stelle für @Alexander Häusser ! :cool:
 

Xirxe

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19. Februar 2017
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"Ich muss nicht mehr suchen, was ich brauche. Ich brauche mich." (Alva, S. 274). Darüber habe ich lange nachgedacht. Für mich bedeutet es, dass sie es aus eigenen Kräften schaffen muss, nicht, indem sie sich von Tom stärken lässt, die Hilfe ihrer Mutter und ihres Stiefvaters in Anspruch nimmt oder von Jos Hilfe im Job profitiert.
Wie gut, dass es solche Leserunden gibt, sonst würde man immer im eigenen Saft schmoren ;) Bei mir kamen diese Gedanken von Alva nämlich ganz anders an. Da man ihr ja immer wieder sagte, dass sie so anders sei, nicht normal, suchte sie immer nach etwas um so zu sein wie die Anderen. Und jetzt ist ihr klar, dass so wie sie ist, es genau richtig ist. Eigentlich sollte solch eine Erkenntnis selbstverständlich sein, denn die Definition von normal ist an sich schon fragwürdig ;)
Das fast offene Ende gefällt mir sehr gut, denn ein Happyend wird lediglich angedeutet, sodass es der eigenen Phantasie überlassen bleibt, sich die Fortsetzung vorzustellen.
 
12. Januar 2021
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Das Motiv der Namensänderung kommt doppelt vor: bei Alva und bei Edvards Vater. Dazu der Hinweis, dass nach dem Glauben der Sami die Kräfte und Fähigkeiten unserer Ahnen im Moment der Namensgabe auf das Neugeborene übergehen. Was ginge demnach verloren, wenn man den Namen wechselt?
Ja, das ist interessant. Es steckt die Frage dahinter: kann man sich eine neue Identität schaffen? Alles abstreifen und neu beginnen? Oder wird man von seiner Vergangenheit immer wieder eingeholt.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Was ginge demnach verloren, wenn man den Namen wechselt?
Viel, aber das ist ja gewollt. Man versucht, sein altes Selbst abzustreifen, sich neu zu erfinden.
Wobei das nie einfach und auf keinen Fall leicht ist. Etwas trägt man immer mit. Edvards Vater hat sicherlich nicht leicht die Gedanken an seine Familie in Deutschland verdrängen können. Auch wenn die Liebe zu seiner Frau in Norwegen größer war als die Liebe zu seiner Ehefrau, so wird er doch seinen Sohn schmerzlich vermisst haben.
 

RuLeka

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Es passt für mich sehr gut, dass Edvard die letzte Adresse des Vaters nicht aufsucht. Er hat, was er wollte, er hat den Verbleib des Vaters nach dessen Verschwinden aufgeklärt
Das passt für mich auch. Ein Wiedersehen wäre für beide schmerzlich geworden, das wollte er sich und v.a. seinem Vater ersparen. Ich denke, Edvard kann nun seinen Frieden mit den Eltern schließen. Er hat seinen Vater verstanden und konnte nun auch das Verhalten der Mutter für sich erklären.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Ich habe noch ein paar Seiten zu lesen, wollte aber schon mal festhalten, wie sehr mich die Szene auf Seite 235 - bei der Abschlussfeier der Schulabgänger - gerührt hat. Alvas Gedanken dazu. Ich musste beinahe weinen. Was für ein unglaublich berührender Moment, wunderbar erzählt.
Ja, eine sehr schöne Szene. Eher nebensächlich für die Handlung öffnet sie Alva die Augen. So ist die Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Nicht immer leicht, für beide Seiten nicht. Und Alva erkennt sich hierin in beiden Rollen, sich selbst als Kind und als Mutter.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Auf Seite 239 fragt sich Edward, ob die Mutter ihm bewusst vom Tod des Vaters erzählt hat, um ihm seinen Vater zu retten
So wie ich es verstanden habe, geht es hier nicht um die Lüge des toten Vaters, sondern dass ihn seine Mutter im Glauben gelassen hat, sein Vater war Pilot. Dabei war das nur Angabe. Vielleicht wollte sie schon, dass Edvard ein positives Bild vom Vater hat.
Sie hätte ihm ja die Wahrheit sagen können, im Stil von: Dein Vater liebt dich und mich nicht, sondern verlässt uns wegen einer anderen Frau.