4. Leseabschnitt: Seite 148 bis zum Ende

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Ich dachte, ihr hättet vielleicht eine Idee.
Ulla ist in meinen Augen eine ähnlich Rastlose wie Karsten und in den Roman wohl deshalb als Nebenfigur eingebaut worden, weil sie jemand ist, mit dem sich Karsten auf eine gewisse Art identifizieren kann. Denn davon gibt es ja nicht so viele.

S. 189: "...sie werde nie dahin zurückkehren, denn alles dort sei ihr verhaßt, die Straßen, die Leute, die Sprache."

Das trifft auf zwei Arten ja auch auf Karsten zu. Einerseits hasst er Wildenburg, die Straßen, die Sprache, die Leute, die er in seiner Fantasie sogar tötet. Doch es kommt auch noch die Verbindung zu Plothow hinzu, denn auch Karsten kann oder will nicht in seine Heimat zurückkehren - wahrscheinlich weil der Schmerz zu groß wäre.

Ulla wurde "ihr Kind genommen", so wie Karsten die Kindheit genommen wurde, "meine Reisen töteten es", so wie Karstens "Reise" seine Kindheit tötete.

Ulla fängt "alle Augenblicke etwas Neues" an, so wie Karsten alle Augenblicke neue Orte bereist. Sie ist beziehungsunfähig wie Karsten, "verliebte sich in jeden Mann, den sie traf". Dadurch versuchte sie "Halt in der Stadt" zu finden. Und am deutlichsten auf S. 190: "Ulla sei, wieder auf der Flucht vor einer Enttäuschung, zurückgefahren...".

Ganz zentral hier die Verbindung von "Flucht" und "Enttäuschung".

Ich würde sie daher mitnichten als unwichtige Figur bezeichnen.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ganz zentral hier die Verbindung von "Flucht" und "Enttäuschung".

Ich würde sie daher mitnichten als unwichtige Figur bezeichnen.
Großartig!
Ich jetzt auch nicht mehr!
Ich habe all das gelesen (allerdings den Namen vergessen), allerdings für sich und nicht auf unseren Protagonisten bezogen. Aber selbst wenn, so schön wie du hätte ich es nicht herausarbeiten können. So offensichtlich wie die Sache mit dem Koffer ist es eben nicht;)

Danke fürs Nachfragen, @Barbara62 !!!
 

Barbara62

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19. März 2020
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Ulla ist in meinen Augen eine ähnlich Rastlose wie Karsten und in den Roman wohl deshalb als Nebenfigur eingebaut worden, weil sie jemand ist, mit dem sich Karsten auf eine gewisse Art identifizieren kann. Denn davon gibt es ja nicht so viele.

S. 189: "...sie werde nie dahin zurückkehren, denn alles dort sei ihr verhaßt, die Straßen, die Leute, die Sprache."

Das trifft auf zwei Arten ja auch auf Karsten zu. Einerseits hasst er Wildenburg, die Straßen, die Sprache, die Leute, die er in seiner Fantasie sogar tötet. Doch es kommt auch noch die Verbindung zu Plothow hinzu, denn auch Karsten kann oder will nicht in seine Heimat zurückkehren - wahrscheinlich weil der Schmerz zu groß wäre.

Ulla wurde "ihr Kind genommen", so wie Karsten die Kindheit genommen wurde, "meine Reisen töteten es", so wie Karstens "Reise" seine Kindheit tötete.

Ulla fängt "alle Augenblicke etwas Neues" an, so wie Karsten alle Augenblicke neue Orte bereist. Sie ist beziehungsunfähig wie Karsten, "verliebte sich in jeden Mann, den sie traf". Dadurch versuchte sie "Halt in der Stadt" zu finden. Und am deutlichsten auf S. 190: "Ulla sei, wieder auf der Flucht vor einer Enttäuschung, zurückgefahren...".

Ganz zentral hier die Verbindung von "Flucht" und "Enttäuschung".

Ich würde sie daher mitnichten als unwichtige Figur bezeichnen.
Vielen Dank. Das hast du beeindruckend herausgearbeitet und ja, es klingt alles sehr plausibel. Trotzdem ist mir das zu viel, zu viel von allem. Dem Text fehlt für mich jede Leichtigkeit, jedes Wort ist wahrscheinlich mit Bedacht gesetzt, aber dadurch wirkt es schwer und gekünstelt auf mich. Vermutlich werde ich deshalb weder mit der Geschichte noch mit der Person warm.
 

Circlestones Books Blog

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28. Oktober 2018
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Wäre auch möglich. Aber da wäre ich im Leben nicht drauf gekommen. Denn Burkis Nachname wurde doch nirgends erwähnt, oder?
Nein, aber der junge Karsten lauert seinem ekelhaften Sitzmanachbarn Burckhardt auf und zertrümmert die Geige und viele Jahre später dann das Wiedersehen und die etwas rätselhafte Szene mit dem Stein in Irland, vielleicht hat es Burki auf den Aran Inseln so gut gefallen, dass er dann später dort gelebt hat. Eine von wohl vielen möglichen Deutungen ...
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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wer solche (mitdenkenden) Knappen hat
Ich möchte gern auch mitdenken :)

Der letzte Abschnitt hat mir nochmal bewiesen, dass bei Loschütz "alles Wichtige nicht erzählt werden kann, weshalb es für alle nicht erzählbaren Geschichten eine andere gibt, eine zweitwichtige." (S. 195)

Meiner Meinung nach wird hier zum Ende hin noch einmal so deutlich, dass Loschütz immer wieder Geschichten, Ideen, Gedanken schildert, die nur Metaphern, Anspielungen, Verklausulierungen von Heimat und Heimatverlust sind.

Ich bin tatsächlich der Ansicht, dass es ein Roman ist, den man eher wie ein Gedicht lesen sollte - nichts hier ist eine eigentliche Geschichte mit Plot - alles ist Metapher, Anspielung, Parabel, Allegorie, Symbol...

Ich habe z.B. eine Idee, warum es ausgerechnet einen Handlungsstrang gibt, der in Irland spielt. In der irischen Literatur ist das Heimweh, vor allem der nach Amerika emigrierten Iren, von großer Bedeutung. Ein Beispiel dafür wäre Colm Toibins "Brooklyn", in dem die junge Irin zunächst nur ein Schatten ihrer selbst ist, weil sie in der Fremde unter so großem Heimweh leidet. Auch in Sebastian Barrys "Ein langer langer Weg" ist die Entwurzelung, die Verfremdung von der Heimat, ein zentrales Thema. Der Titel von Sebastian Barrys Roman spiel auch gleich auf "It's a long way to Tipperary" an und da schließt sich der Kreis - das ist ja das Vorzeige-"Sich-nach-Hause-sehnen"-Lied überhaupt.

Was will mir die Zirkusgeschichte sagen außer der Heimatnostalgie? Die daran anschließende Kundgebung?

Weitere Anspielungen auf den Heimatgedanken, die ich sehr beeindruckend fand, sind die Passagen, in dem die Jahreszeiten am Plothower Wasserturmplatz und am Plothower Berg geschildert werden:

Der Zirkus, der Fackelumzug und der Rummel hinterlassen tiefe Spuren auf dem Platz, die man im Rest des Jahres nicht sieht. Der Fackelumzug ist das Einbrennen der Fluchterfahrung in die Seele, der Zirkus vielleicht als die Aufregung, das Neue rund um die Flucht lesen, der Rummel schließlich die mühsame Anpassung unter einer Fassade an das neue Leben. All dies ruht verdeckt den größten Teil der Zeit und bricht einmal im Jahr wieder mit Macht (an dem Tag), lautstark und brennend wieder hervor.

Beim Berg hatte ich recht simpel die Assoziation das Ostern/Frühling die Kindheit sind, die so langsam wie die angeknacksten, verfärbten Eier ihre Risse bekommt. Man entwächst der Heimat sozusagen, betrachtet sie mit zunehmendem Alter rationaler, objektiver, distanzierter. "Im Sommer wurde der Berg vergessen" (S. 171) ist für mich ein Hinweis darauf, dass man als Erwachsener in der Mitte seines Lebens nicht viel Zeit hat, sich mit seiner Heimat zu befassen, es ist auch nicht nötig und nicht sonderlich relevant. Wenn man Loschütz folgt, würde man sagen, es ist fast zu anstrengend in die Heimat zu reisen, so wie es schwierig ist, den Berg zu sehen oder ihm nahe zu kommen. Im Herbst, also mit fortschreitendem Alter, wird es wieder leichter, sich dem Berg/der Heimat zu nähern - man erinnert sich wieder, flüchtig, aber deutlicher. Im Winter/Alter schließlich vereint man sich wieder mit der Heimat. Sie passt erst nicht so ganz - die Kufen vom Schlitten sind rostig (S. 172), aber sie empfängt einen mit Wärme und Geborgenheit ( "die Wollhandschuhe waren noch trocken und die Füße in den hohen Schuhen warm".

Wie Ihr merkt, interpretiere ich gern :) aber das bietet sich hier so an - wie übrigens auch bei Götz-Rasur.
zu Götz: In meinen Augen soll die Episode zeigen, dass sich auch Karstens langjähriger Freund durch das Suchen nach einer Heimat in einer Existenzkrise befindet.

Nach der Rasur tritt der helle, unbekannte Teil seines Gesichts hervor, der über all die Jahre verdeckt war. Auch hier wieder eine Anspielung auf Kindheit, Heimat, Wurzeln, die durch das Leben verdeckt/an den Rand gedrückt werden, sich aber irgendwann wieder Bahn brechen - weil man sie nicht loswerden kann.
 

kingofmusic

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Ich möchte gern auch mitdenken :)

Der letzte Abschnitt hat mir nochmal bewiesen, dass bei Loschütz "alles Wichtige nicht erzählt werden kann, weshalb es für alle nicht erzählbaren Geschichten eine andere gibt, eine zweitwichtige." (S. 195)

Meiner Meinung nach wird hier zum Ende hin noch einmal so deutlich, dass Loschütz immer wieder Geschichten, Ideen, Gedanken schildert, die nur Metaphern, Anspielungen, Verklausulierungen von Heimat und Heimatverlust sind.

Ich bin tatsächlich der Ansicht, dass es ein Roman ist, den man eher wie ein Gedicht lesen sollte - nichts hier ist eine eigentliche Geschichte mit Plot - alles ist Metapher, Anspielung, Parabel, Allegorie, Symbol...

Ich habe z.B. eine Idee, warum es ausgerechnet einen Handlungsstrang gibt, der in Irland spielt. In der irischen Literatur ist das Heimweh, vor allem der nach Amerika emigrierten Iren, von großer Bedeutung. Ein Beispiel dafür wäre Colm Toibins "Brooklyn", in dem die junge Irin zunächst nur ein Schatten ihrer selbst ist, weil sie in der Fremde unter so großem Heimweh leidet. Auch in Sebastian Barrys "Ein langer langer Weg" ist die Entwurzelung, die Verfremdung von der Heimat, ein zentrales Thema. Der Titel von Sebastian Barrys Roman spiel auch gleich auf "It's a long way to Tipperary" an und da schließt sich der Kreis - das ist ja das Vorzeige-"Sich-nach-Hause-sehnen"-Lied überhaupt.



Weitere Anspielungen auf den Heimatgedanken, die ich sehr beeindruckend fand, sind die Passagen, in dem die Jahreszeiten am Plothower Wasserturmplatz und am Plothower Berg geschildert werden:

Der Zirkus, der Fackelumzug und der Rummel hinterlassen tiefe Spuren auf dem Platz, die man im Rest des Jahres nicht sieht. Der Fackelumzug ist das Einbrennen der Fluchterfahrung in die Seele, der Zirkus vielleicht als die Aufregung, das Neue rund um die Flucht lesen, der Rummel schließlich die mühsame Anpassung unter einer Fassade an das neue Leben. All dies ruht verdeckt den größten Teil der Zeit und bricht einmal im Jahr wieder mit Macht (an dem Tag), lautstark und brennend wieder hervor.

Beim Berg hatte ich recht simpel die Assoziation das Ostern/Frühling die Kindheit sind, die so langsam wie die angeknacksten, verfärbten Eier ihre Risse bekommt. Man entwächst der Heimat sozusagen, betrachtet sie mit zunehmendem Alter rationaler, objektiver, distanzierter. "Im Sommer wurde der Berg vergessen" (S. 171) ist für mich ein Hinweis darauf, dass man als Erwachsener in der Mitte seines Lebens nicht viel Zeit hat, sich mit seiner Heimat zu befassen, es ist auch nicht nötig und nicht sonderlich relevant. Wenn man Loschütz folgt, würde man sagen, es ist fast zu anstrengend in die Heimat zu reisen, so wie es schwierig ist, den Berg zu sehen oder ihm nahe zu kommen. Im Herbst, also mit fortschreitendem Alter, wird es wieder leichter, sich dem Berg/der Heimat zu nähern - man erinnert sich wieder, flüchtig, aber deutlicher. Im Winter/Alter schließlich vereint man sich wieder mit der Heimat. Sie passt erst nicht so ganz - die Kufen vom Schlitten sind rostig (S. 172), aber sie empfängt einen mit Wärme und Geborgenheit ( "die Wollhandschuhe waren noch trocken und die Füße in den hohen Schuhen warm".

Wie Ihr merkt, interpretiere ich gern :) aber das bietet sich hier so an - wie übrigens auch bei Götz-Rasur.


Nach der Rasur tritt der helle, unbekannte Teil seines Gesichts hervor, der über all die Jahre verdeckt war. Auch hier wieder eine Anspielung auf Kindheit, Heimat, Wurzeln, die durch das Leben verdeckt/an den Rand gedrückt werden, sich aber irgendwann wieder Bahn brechen - weil man sie nicht loswerden kann.
Ich bin beeindruckt :cool:. Ernsthaft.
 

Literaturhexle

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Ich möchte gern auch mitdenken :)
Zum Glück:)

Mir ist bei so etwas, das wirklich doppelt verborgen und nicht leicht erkennbar ist, der Blick verstellt...
Wie schön, dass du uns an deinen Überlegungen teilhaben lässt! Offenbar hast du einen Zugang zu Loschütz. Seine anderen Bücher sind nicht minder verschlüsselt. Allerdings ist bei ihnen der Plot tragfähiger. Ich wette, dass ich dort auch manche Anspielung überlesen habe.

Deshalb liebe ich unsere LR so sehr!
Ich kann bei allem mitgehen, Luisa. Wäre nur selbst nicht drauf gekommen.
Besonders gut gefällt mir das mit der Heimat. Ich selbst habe sie vor 20 Jahren verlassen. Im "Herbst" denkt man öfter dran als im "Sommer", wenn einen die Familie in Schach hält. (Aber macht euch keine Sorgen, ich habe eine neue Heimat gefunden und neige nicht zu Depressionen;))
 

Literaturhexle

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In der irischen Literatur ist das Heimweh, vor allem der nach Amerika emigrierten Iren, von großer Bedeutung.
Dem muss ich mal nachspüren. Toibin lernte ich just durch seinen TM Roman "Der Zauberer" kennen. Von Barry stehen zwei Titel im Lager. Natürlich weiß ich, dass viele Iren auswanderten, aber das mit dem Heimweh.... interessant.
It's a long way to Tipperary" an und da schließt sich der Kreis - das ist ja das Vorzeige-"Sich-nach-Hause-sehnen"-Lied überhaupt.
Prima! Schöne Herleitung!

Es lohnt sich, deinen Beitrag ein zweites Mal zu lesen;)
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Ich möchte gern auch mitdenken :)

Der letzte Abschnitt hat mir nochmal bewiesen, dass bei Loschütz "alles Wichtige nicht erzählt werden kann, weshalb es für alle nicht erzählbaren Geschichten eine andere gibt, eine zweitwichtige." (S. 195)

Meiner Meinung nach wird hier zum Ende hin noch einmal so deutlich, dass Loschütz immer wieder Geschichten, Ideen, Gedanken schildert, die nur Metaphern, Anspielungen, Verklausulierungen von Heimat und Heimatverlust sind.

Ich bin tatsächlich der Ansicht, dass es ein Roman ist, den man eher wie ein Gedicht lesen sollte - nichts hier ist eine eigentliche Geschichte mit Plot - alles ist Metapher, Anspielung, Parabel, Allegorie, Symbol...

Ich habe z.B. eine Idee, warum es ausgerechnet einen Handlungsstrang gibt, der in Irland spielt. In der irischen Literatur ist das Heimweh, vor allem der nach Amerika emigrierten Iren, von großer Bedeutung. Ein Beispiel dafür wäre Colm Toibins "Brooklyn", in dem die junge Irin zunächst nur ein Schatten ihrer selbst ist, weil sie in der Fremde unter so großem Heimweh leidet. Auch in Sebastian Barrys "Ein langer langer Weg" ist die Entwurzelung, die Verfremdung von der Heimat, ein zentrales Thema. Der Titel von Sebastian Barrys Roman spiel auch gleich auf "It's a long way to Tipperary" an und da schließt sich der Kreis - das ist ja das Vorzeige-"Sich-nach-Hause-sehnen"-Lied überhaupt.



Weitere Anspielungen auf den Heimatgedanken, die ich sehr beeindruckend fand, sind die Passagen, in dem die Jahreszeiten am Plothower Wasserturmplatz und am Plothower Berg geschildert werden:

Der Zirkus, der Fackelumzug und der Rummel hinterlassen tiefe Spuren auf dem Platz, die man im Rest des Jahres nicht sieht. Der Fackelumzug ist das Einbrennen der Fluchterfahrung in die Seele, der Zirkus vielleicht als die Aufregung, das Neue rund um die Flucht lesen, der Rummel schließlich die mühsame Anpassung unter einer Fassade an das neue Leben. All dies ruht verdeckt den größten Teil der Zeit und bricht einmal im Jahr wieder mit Macht (an dem Tag), lautstark und brennend wieder hervor.

Beim Berg hatte ich recht simpel die Assoziation das Ostern/Frühling die Kindheit sind, die so langsam wie die angeknacksten, verfärbten Eier ihre Risse bekommt. Man entwächst der Heimat sozusagen, betrachtet sie mit zunehmendem Alter rationaler, objektiver, distanzierter. "Im Sommer wurde der Berg vergessen" (S. 171) ist für mich ein Hinweis darauf, dass man als Erwachsener in der Mitte seines Lebens nicht viel Zeit hat, sich mit seiner Heimat zu befassen, es ist auch nicht nötig und nicht sonderlich relevant. Wenn man Loschütz folgt, würde man sagen, es ist fast zu anstrengend in die Heimat zu reisen, so wie es schwierig ist, den Berg zu sehen oder ihm nahe zu kommen. Im Herbst, also mit fortschreitendem Alter, wird es wieder leichter, sich dem Berg/der Heimat zu nähern - man erinnert sich wieder, flüchtig, aber deutlicher. Im Winter/Alter schließlich vereint man sich wieder mit der Heimat. Sie passt erst nicht so ganz - die Kufen vom Schlitten sind rostig (S. 172), aber sie empfängt einen mit Wärme und Geborgenheit ( "die Wollhandschuhe waren noch trocken und die Füße in den hohen Schuhen warm".

Wie Ihr merkt, interpretiere ich gern :) aber das bietet sich hier so an - wie übrigens auch bei Götz-Rasur.


Nach der Rasur tritt der helle, unbekannte Teil seines Gesichts hervor, der über all die Jahre verdeckt war. Auch hier wieder eine Anspielung auf Kindheit, Heimat, Wurzeln, die durch das Leben verdeckt/an den Rand gedrückt werden, sich aber irgendwann wieder Bahn brechen - weil man sie nicht loswerden kann.
Toll, was Du alles in dem Text gefunden hast und völlig schlüssig.
Das Buch als Gedicht zu lesen und sämtliche Bilder, Metaphern, Andeutungen auf ihren tieferen Sinn abzuklopfen, bringt völlig neue Erkenntnisse. Ich bin beeindruckt.
 

luisa_loves-literature

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Literaturhexle

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2. April 2017
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Vielen Dank - ich bin übrigens von Herzen froh, dass Du mir den Weg zu Euch gezeigt hast!!!
Ich glaube, das sind wir auch :)!!! (Also für mich kann ich es definitiv sagen. Nicht dass du meinst, der Pluralis Majestatis von Gerda Blees hätte auf mich abgefärbt...)
Schön, dass du dich offensichtlich wohl fühlst bei und mit uns!
 

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Das Buch lässt mich etwas ratlos zurück. Da brauche ich eure Kommentare.
Den Vorwurf, den ich dem Erzähler machen würde, hat Vera, wesentlich besser als ich es könnte, formuliert.

Ich bin da ganz bei Vera: ich konnte dieses Gejammer nur schwer noch aushalten. Er dreht sich im Kreis, er beobachtet und leidet, tut aber nichts. Hat nicht mal den Mumm, alte Bekannte anzusprechen, wie es jeder andere machen würde.

Der Erzähler erklärt uns sein Dilemma immer wieder. Ich erkenne die Relevanz, die es für ihn hat. Aber eben nur für ihn.

Der Mann kreist nur um sich selbst.

Ich werde diesem Buch nicht gerecht, weil mich die Hauptfigur genervt hat ( ich, als alte, harte Frau kann nicht so viel Verständnis aufbringen für tragische und leidende Männer ).

Dazu kommt, dass ich mit Menschen wie Karsten überhaupt gar nichts anfangen kann. Er suhlt sich in seinem "Unglück".

Meine Vorrednerinnen haben es schon wunderbar zusammengefasst. Dieser Protagonist ist eine Zumutung. Ich konnte dieses selbstmitleidige Dauergejammer kaum ertragen. Dieses ständige Kreisen um sich selbst und den Verlust der Heimat ist schon an sich sehr ermüdend. Noch dazu weil er sich inhaltlich konstant wiederholt. Und: Vor allem weil mir bis zum Schluss nicht klar ist, wieso Plothow so toll war. Seinen Beschreibungen nach ist es eher ein häßliches und ärmliches Kaff. Außer den Großeltern hat er dort nichts Nennenswertes zurückgelassen. So what? Ich bin genervt.

Dass er sich als noch größerer Lügner als angenommen herausstellt, wäre in einem anderen Fall vielleicht ein schöner Plottwist. Hier hat es meine Frustration nur verstärkt. Zudem war mir am Ende auch total egal, was er tatsächlich erlebt hat oder nicht. Ich hatte gehofft, dass noch irgendeine Erkenntnis folgt, die Karstens Gefühle verständlicher machen. Stattdessen hat sich mein Unverständnis noch verstärkt.
 

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Wir können es uns nicht vorstellen, weil wir einen ganz anderen Charakter haben. Es gibt Menschen, die nehmen ALLES schwer, sehen immer nur das Dunkle, leiden, bedauern, halten Rückschau, suchen Verantwortliche für das eigene Los.
Insofern finde ich Karsten als Figur stimmig.

Ich finde die Figur auch sehr authentisch. Für mich sind solche Menschen unerträglich, vor allem wenn es mit einem Narzissmus gepaart ist, den ich auch bei Karsten in Ansätzen erkenne.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
2.649
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47
Seinen Beschreibungen nach ist es eher ein häßliches und ärmliches Kaff. Außer den Großeltern hat er dort nichts Nennenswertes zurückgelassen.
Hässlich und ärmlich habe ich mal gar nichts empfunden.

Und nichts Nennenswertes? Hm. Eine behütete Kindheit, seine Freunde, seine Schule, seine Heimat...