Ich möchte gern auch mitdenken
Der letzte Abschnitt hat mir nochmal bewiesen, dass bei Loschütz "alles Wichtige nicht erzählt werden kann, weshalb es für alle nicht erzählbaren Geschichten eine andere gibt, eine zweitwichtige." (S. 195)
Meiner Meinung nach wird hier zum Ende hin noch einmal so deutlich, dass Loschütz immer wieder Geschichten, Ideen, Gedanken schildert, die nur Metaphern, Anspielungen, Verklausulierungen von Heimat und Heimatverlust sind.
Ich bin tatsächlich der Ansicht, dass es ein Roman ist, den man eher wie ein Gedicht lesen sollte - nichts hier ist eine eigentliche Geschichte mit Plot - alles ist Metapher, Anspielung, Parabel, Allegorie, Symbol...
Ich habe z.B. eine Idee, warum es ausgerechnet einen Handlungsstrang gibt, der in Irland spielt. In der irischen Literatur ist das Heimweh, vor allem der nach Amerika emigrierten Iren, von großer Bedeutung. Ein Beispiel dafür wäre Colm Toibins "Brooklyn", in dem die junge Irin zunächst nur ein Schatten ihrer selbst ist, weil sie in der Fremde unter so großem Heimweh leidet. Auch in Sebastian Barrys "Ein langer langer Weg" ist die Entwurzelung, die Verfremdung von der Heimat, ein zentrales Thema. Der Titel von Sebastian Barrys Roman spiel auch gleich auf "It's a long way to Tipperary" an und da schließt sich der Kreis - das ist ja das Vorzeige-"Sich-nach-Hause-sehnen"-Lied überhaupt.
Weitere Anspielungen auf den Heimatgedanken, die ich sehr beeindruckend fand, sind die Passagen, in dem die Jahreszeiten am Plothower Wasserturmplatz und am Plothower Berg geschildert werden:
Der Zirkus, der Fackelumzug und der Rummel hinterlassen tiefe Spuren auf dem Platz, die man im Rest des Jahres nicht sieht. Der Fackelumzug ist das Einbrennen der Fluchterfahrung in die Seele, der Zirkus vielleicht als die Aufregung, das Neue rund um die Flucht lesen, der Rummel schließlich die mühsame Anpassung unter einer Fassade an das neue Leben. All dies ruht verdeckt den größten Teil der Zeit und bricht einmal im Jahr wieder mit Macht (an dem Tag), lautstark und brennend wieder hervor.
Beim Berg hatte ich recht simpel die Assoziation das Ostern/Frühling die Kindheit sind, die so langsam wie die angeknacksten, verfärbten Eier ihre Risse bekommt. Man entwächst der Heimat sozusagen, betrachtet sie mit zunehmendem Alter rationaler, objektiver, distanzierter. "Im Sommer wurde der Berg vergessen" (S. 171) ist für mich ein Hinweis darauf, dass man als Erwachsener in der Mitte seines Lebens nicht viel Zeit hat, sich mit seiner Heimat zu befassen, es ist auch nicht nötig und nicht sonderlich relevant. Wenn man Loschütz folgt, würde man sagen, es ist fast zu anstrengend in die Heimat zu reisen, so wie es schwierig ist, den Berg zu sehen oder ihm nahe zu kommen. Im Herbst, also mit fortschreitendem Alter, wird es wieder leichter, sich dem Berg/der Heimat zu nähern - man erinnert sich wieder, flüchtig, aber deutlicher. Im Winter/Alter schließlich vereint man sich wieder mit der Heimat. Sie passt erst nicht so ganz - die Kufen vom Schlitten sind rostig (S. 172), aber sie empfängt einen mit Wärme und Geborgenheit ( "die Wollhandschuhe waren noch trocken und die Füße in den hohen Schuhen warm".
Wie Ihr merkt, interpretiere ich gern
aber das bietet sich hier so an - wie übrigens auch bei Götz-Rasur.
Nach der Rasur tritt der helle, unbekannte Teil seines Gesichts hervor, der über all die Jahre verdeckt war. Auch hier wieder eine Anspielung auf Kindheit, Heimat, Wurzeln, die durch das Leben verdeckt/an den Rand gedrückt werden, sich aber irgendwann wieder Bahn brechen - weil man sie nicht loswerden kann.