4. Leseabschnitt: Nostos (S. 235 bis S. 273)

Bibliomarie

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10. September 2015
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Die Begrüßungsszene mit dem Sauhirten ist zudem der Aufhänger für einen weiteren Aspekt in der Vater-Sohn-Geschichte. Jay sagt, dass er die Selbstbeherrschung bewundert, mit der Odysseus Zeuge der herzlichen Begegnung zwischen Telemachos und dem Sauhirten wird. Damit zeigt er, dass es ihn verletzt hat, dass Daniel sich in seiner Jugend andere Vaterfiguren gesucht hat. Aber die Ursache dafür liegt wohl vor allem bei ihm selbst.

Das habe ich auch so empfunden. Jay hat es schon gekränkt, aber er hat geschwiegen - wie er oft geschwiegen hat. Er war kein herzlicher Mensch, hat wohl keine Nähe zugelassen, weil er sie vielleicht als Kind auch nicht vom Vater erfahren hat.
 
G

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Gast
Ist die Vergebung nicht erst mit dem Christentum ein Thema geworden? Sogar im alten Testament galt ja noch "Auge um Auge, Zahn um Zahn"
Wobei es ja hier fast zu einer Vergebung gekommen wäre, nur Athenes Intervention verhinderte dies. Wäre interessant wie andere Göttinnen geurteilt hätten, wobei ich gerade auf Artemis oder Aphrodite schaue. Gerade bei der Ilias kommen die verschiedenen Wesenszüge der Götter/Göttinnen sehr gut zum Vorschein. Wobei es sich ja über diesen verlängerten Arm ja auch bloß um Wesenszüge des Menschen handelt. Zumindest verstehe ich das so. Und Vergebung oder Rachsucht findest du bei jeder Kultur auf dem Erdkreis, so unterschiedlich dosiert wie der Mensch unterschiedlich ist. Ein Glück! :);)
 

MRO1975

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11. August 2018
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Manches Delikt braucht auch ein hohes Strafmaß. Die Verrohung in unserer Gesellschaft finde ich bedenklich. Die Gewalt, mit der auch ich auf Arbeit zu tun habe, bringt mich an meine Grenzen. Achtung vor anderen Menschen scheint etwas zu sein was sich in unserer Gesellschaft minimiert. Nur ist die Frage ob Strafen dies verändern könnten. Ich glaube eher nicht. Aber wissen …. hhmmm … :eek:
Das Strafmaß allein reicht nicht, wenn es nicht angewendet wird. Die zunehmende Respektlosigkeit heutzutage hat auch damit zu tun, dass die Übertretungen nicht verfolgt und geahndet werden (gerade im Internet, man denke aber auch an Wohnungseinbrüche, Diebstahl und sonstige „kleinere“ Delikte). Im Internet kommt die Anonymität dazu, d.h. mann muss noch nicht mal den Rote-Ohren-Test bestehen, wenn man beim Lügen oder Beleidigen erwischt wird.

Zu Zeiten der Odyssee gab es wahrscheinlich einfach keine Alternativen für abgestuftes Strafen. Immer musste gleich alles mit dem Tod bezahlt werden. Wer will schon einen Verbrecher auf eigene Kosten in Gefangenschaft durchfüttern und Geldstrafen waren wohl auch eher schwer einzutreiben, wenn man nicht gleich wieder einen Krieg vom Zaun brechen wollte.
 

MRO1975

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11. August 2018
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Beim Epos habe ich mich tatsächlich gefragt, warum Athene Odysseus über die Treue seiner Frau im Unklaren lässt. Sie hat so oft eingegriffen, ihm den Weg gewiesen oder wie Jay sagen würde, ihm aus der Patsche geholfen - hier lässt sie ihn allein.
Muss sich vielleicht nicht Penelope bewähren, sondern er?
Das ist eine gute Frage! Die Götter sollen offenbar nur helfen oder stören können, aber nicht wesentliche Entscheidungen der Sterblichen vorwegnehmen. Hätte Athene Odysseus aufgeklärt, hätte er seine Frau nicht „Wiedererkennen“ müssen. Dann wäre ihm aber eine wesentliche Entscheidung durch Athene abgenommen worden.
 

ulrikerabe

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14. August 2017
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Ich glaube auch, dass "Vergebung" eine christliche Erfinfung ist, soweit, bis zur anderen Backe, die man hinhalten soll.
In den alten archaischen Strukturen ist Recht stark mit dem Rachegedanken verknüpft. So wie @Bibliomarie schreibt, wollte ich auch "Auge um Auge..."ins Rennen führen.
Heute gibt es im Strafrecht auch geregelte Strafminderungsgründe und wird sehr wohl zwischen General- und Spezialprävention abgewogen.
 

parden

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13. April 2014
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Ich frage mich die ganze Zeit, ob bei dem Wunsch von Dans Vater, mit seinen Studenten an dem Seminar teilzunehmen, wirklich nur das Interesse an der Odyssee im Vordergrund stand. Oder ob das seine Art war, sich seinem Sohn gegen Ende seines Lebens noch einmal anzunähern. Konnte er diese Entwicklung vorausahnen?

Mir gefällt jedenfalls, dass Dan auch und gerade die Schwierigkeiten offen legt, die er zeitlebens mit seinem Vater gehabt hat. Und wie echt die Annäherung wirkt, die durch das Studium der Odyssee bewirkt wird. Vor der Lektüre hätte ich mir nicht vorstellen können, wie viele Parallelen zwischen der antiken Geschichte und dem realen Leben von Dan und seinem Vater sich herauskristallisieren. Schon ein sehr besonderes Buch.
 

KrimiElse

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26. Januar 2019
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Interessant fand ich dabei die Frage, wie man jemanden wiedererkennen soll, den man eigentlich nicht kennt. Telemachos kennt seinen Vater ja eigentlich nicht persönlich, nur aus den Geschichten, die er über ihn gehört hat. Es wundert daher nicht, dass sich die beiden nicht tränenüberströmt in die Arme sinken. Aber sie erweisen sich gegenseitig Respekt, in dem sie sich formal korrekt wie Vater und Sohn begrüßen. Manchmal helfen eben äußere Formen, wenn man nicht auf seine Gefühle vertrauen kann oder will.
Das ist nachvollziehbar, gut gelöst, und vor allem viel lebensnaher als emotionsgeladene Szenen.
 

KrimiElse

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Aber die Ursache dafür liegt wohl vor allem bei ihm selbst.
Da hast du wohl recht. Andererseits hat Jay offenbar hart um vieles kämpfen müssen, was er seinen Kindern unkompliziert ermöglichen konnte. Ich sehe auch zumindest späte Enttäuschung und Hilflosigkeit in dieser Situation.
 

KrimiElse

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Neben den Themen Tarnung und Wiedererkennen im Epos, was @MRO1975 oben so schön zusammengefasst hat, haben mich in diesem Abschnitt all die Indizien sowie deren Deutung gereizt, die Daniel über seinen Vater nach und nach erfährt. Verwoben sind diese eben oft mit der Odyssee, insbesondere dem Vater-Sohn-Verhältnis von Telemachos und Odysseus. Faszinierend!!!

Vater und Sohn sind sich ähnlicher, als sie denken. Jedoch muss man den Vater in seiner Jugendzeit zum Vergleich heranziehen (Bsp.: Beide Mendelsons haben eine Militärkarriere abgelehnt)
Weitere Auffälligkeiten:
  • Beide Söhne haben sich Ersatzväter /Mentoren suchen müssen (siehe oben bei MRO1975)
  • Beide Väter erzählen gerne kunstvolle Lügengeschichten.
  • Beide Väter sind hart und wenig gefühlsbetont den Söhnen gegenüber
  • Die Narbe des Odysseus = die Narbe Jays durch Impfung nach dem Tollwutbiss (Verletzung durch die lügende Hundebesitzerin?)???
  • Beiden Vätern ist die Treue der Gattin sehr wesentlich, obgleich sie wenig zärtlich/abwesend sind
[zitat]In der Odyssee geht es nicht nur um die Erziehung des Sohnes, sondern auch um die Entwicklung des Vaters (S. 266)[/zitat]
Auch dieser Satz charakterisiert wunderbar, was zwischen den Mendelsons stattfindet. Diese Geschichte einer Annäherung wird gekonnt mit dem klassischen Epos verbunden. Das beeindruckt mich immer mehr!

Dazu passen die Informationen, die Dan von seinem Onkel Howard bekommt. Erneut erscheint ihm der Vater in einem neuen Licht. Obwohl die Brüder Jahre nicht miteinander gesprochen haben, bekennt Howard: "Dein Vater war brillant. Er kam aus einfachen Verhältnissen, aber er hat viel gelernt." (S. 273)
oh wow, du tust es den interpretierenden Studenten gleich und ziehst wirklich nachvollziehbar Vergleiche...das ist unter anderem das Großartige an diesem Buch für mich, ich grabe vergessenes Wissen über Interpretation aus.
Und zwei Menschen nähern sich, wenn auch spät, verständnisvoll und respektvoll an. Das finde auch ich sehr gelungenen und es passt so wunderbar zur Geschichte von Odysseus und Telemachus.
 

KrimiElse

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Und gleichzeitig stelle ich mir die Frage was kennt man von seinem Umfeld?
Hatten wir das nicht erst vor einiger Zeit bei e8nem Buch über Mütter und Töchter? Dass man eigene Beziehungen überdenkt und neu bewertet, etwas wichtiges für sich selbst mitnimmt?
(Nadja Spiegelman „Was nie geschehen ist“)
Dafür liebe ich dieses Buch.
 

KrimiElse

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Dans Mentoren und Lehrer waren wohl mehr als nur reine Wissensvermittler, sie gaben ihm Nähe und Halt, die er damals vermisste. Warum konnte sich der junge Jay nicht so seinem Sohn gegenüber öffnen, wie er es jetzt im Alter kann? Bedauert er es?
Ich sehe das wie du, ohne seine „Ersatzväter“ wäre er nicht der Mensch, der er ist. Sein Vater konnte ihm offenbar nicht das geben, was er brauchte.
Aber auch mir stellt sich die Frage, ob Jay das bedauert.
 

KrimiElse

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Beim Epos habe ich mich tatsächlich gefragt, warum Athene Odysseus über die Treue seiner Frau im Unklaren lässt. Sie hat so oft eingegriffen, ihm den Weg gewiesen oder wie Jay sagen würde, ihm aus der Patsche geholfen - hier lässt sie ihn allein.
Muss sich vielleicht nicht Penelope bewähren, sondern er?
Das frage ich mich auch. Und deine letzte Frage dazu ist höchst interessant...
 

KrimiElse

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26. Januar 2019
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Zu Zeiten der Odyssee gab es wahrscheinlich einfach keine Alternativen für abgestuftes Strafen. Immer musste gleich alles mit dem Tod bezahlt werden. Wer will schon einen Verbrecher auf eigene Kosten in Gefangenschaft durchfüttern und Geldstrafen waren wohl auch eher schwer einzutreiben, wenn man nicht gleich wieder einen Krieg vom Zaun brechen wollte.
Haha, genau so. Kriegstreiber haben keine Gefängnisse für Zivilstraftäter betrieben, wozu auch...
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Hatten wir das nicht erst vor einiger Zeit bei e8nem Buch über Mütter und Töchter? Dass man eigene Beziehungen überdenkt und neu bewertet, etwas wichtiges für sich selbst mitnimmt?
(Nadja Spiegelman „Was nie geschehen ist“)
Dafür liebe ich dieses Buch.
Das hast du woanders gelesen. Ist es gut? Ich bin ja auch eine Tochter ;)
 

KrimiElse

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26. Januar 2019
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Das hast du woanders gelesen. Ist es gut? Ich bin ja auch eine Tochter ;)
Ja, das war bei Vorablesen, glaube ich.
Und als großer Fan des Comiczeichners Art Spiegelman musste ich die Geschichte einfach lesen, die seine Tochter aufschrieb.
Wobei das Buch wenig mit dem Vater, mehr mit der Mutter zu tun hat. Mir hat es gefallen, und @renee auch.
Von Art Spiegelman sind übrigens die berühmten und mehrfach ausgezeichneten Maus-Comics, die das Überlebens seines Vaters im Konzentrationslager Ausschwitz thematisieren.