4. Leseabschnitt: Nostos (S. 235 bis S. 273)

MRO1975

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In diesem Abschnitt kommt Odysseus nach Ithaka zurück. Anhand der Geschichte mit den Hunden, dem Sauhirten und schließlich Penelope werden verschiedene Formen des Wiedererkennens und des Willkommenheißens gezeigt. Interessant fand ich dabei die Frage, wie man jemanden wiedererkennen soll, den man eigentlich nicht kennt. Telemachos kennt seinen Vater ja eigentlich nicht persönlich, nur aus den Geschichten, die er über ihn gehört hat. Es wundert daher nicht, dass sich die beiden nicht tränenüberströmt in die Arme sinken. Aber sie erweisen sich gegenseitig Respekt, in dem sie sich formal korrekt wie Vater und Sohn begrüßen. Manchmal helfen eben äußere Formen, wenn man nicht auf seine Gefühle vertrauen kann oder will.

Die Begrüßungsszene mit dem Sauhirten ist zudem der Aufhänger für einen weiteren Aspekt in der Vater-Sohn-Geschichte. Jay sagt, dass er die Selbstbeherrschung bewundert, mit der Odysseus Zeuge der herzlichen Begegnung zwischen Telemachos und dem Sauhirten wird. Damit zeigt er, dass es ihn verletzt hat, dass Daniel sich in seiner Jugend andere Vaterfiguren gesucht hat. Aber die Ursache dafür liegt wohl vor allem bei ihm selbst.
 

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Das Gerechtigkeitsthema fand ich schwierig. Ja, die Sitten waren streng und wer etwas isst, was ihm nicht zusteht, soll bestraft werden. Aber warum gibt es keine Vergebung für reuige Sünder?
Das ist wirklich grausam, v.a. wird auch der arme Amphinomos, der "beste" unter den Freiern getötet. Anscheinend fordern die Götter ihren Tribut.
Besonders gut hat mir die Stelle gefallen, in der der Vater sich bzgl. des Fehlers Telemachos, der vergessen hat, die Waffen wegzuschließen, milde zeigt. Dass dieser seinen Fehler zugibt, sieht Jay als Zeichen dafür, dass er bereit ist Verantwortung zu über nehmen, damit beweise er seine Reife, seine Erziehung sei abgeschlossen. Und da schließt sich der Kreis zur Telemachie ;)

Wirklich berührt hat mich die Szene, in der Jay über Daniels Mutter spricht. In diesem Kapitel wird deutlich, wie sehr er sie liebt, obwohl er es nie in aller Deutlichkeit hat sagen können.
Im letzten Teil dieses Abschnittes geht Daniel auf Spurensuche, sein Vater ist gestorben und er redet mit verschiedenen Leuten, die seinem Vater nahe gestanden haben. Und plötzlich verändert sich das Bild, das ich von ihm hatte wieder. In ihren Augen erscheint er liebenswert, klug, fast weise, aber auch bestimmend. Bezeichnend ist die Szene, in der Daniel mit seiner Mutter über Jay redet - auch da wird deutlich, wie sehr sich die beiden geliebt haben müssen. Auch sie hatten ihre Geheimnisse zusammen.
Auch die Kommentare der Studenten zeigen, wie sehr sie die Anwesenheit des alten Herrn geschätzt haben:
"Er war ein unglaublicher Mensch und eine Bereicherung für das Seminar. Mit ihm zu reden, war ein Vergnügen. Ich werde die Odyssee nie lesen können, ohne an ihn zu denken." (317)
 

Literaturhexle

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Das ist wirklich grausam, v.a. wird auch der arme Amphinomos, der "beste" unter den Freiern getötet. Anscheinend fordern die Götter ihren Tribut.
Besonders gut hat mir die Stelle gefallen, in der der Vater sich bzgl. des Fehlers Telemachos, der vergessen hat, die Waffen wegzuschließen, milde zeigt. Dass dieser seinen Fehler zugibt, sieht Jay als Zeichen dafür, dass er bereit ist Verantwortung zu über nehmen, damit beweise er seine Reife, seine Erziehung sei abgeschlossen. Und da schließt sich der Kreis zur Telemachie ;)

Wirklich berührt hat mich die Szene, in der Jay über Daniels Mutter spricht. In diesem Kapitel wird deutlich, wie sehr er sie liebt, obwohl er es nie in aller Deutlichkeit hat sagen können.
Im letzten Teil dieses Abschnittes geht Daniel auf Spurensuche, sein Vater ist gestorben und er redet mit verschiedenen Leuten, die seinem Vater nahe gestanden haben. Und plötzlich verändert sich das Bild, das ich von ihm hatte wieder. In ihren Augen erscheint er liebenswert, klug, fast weise, aber auch bestimmend. Bezeichnend ist die Szene, in der Daniel mit seiner Mutter über Jay redet - auch da wird deutlich, wie sehr sich die beiden geliebt haben müssen. Auch sie hatten ihre Geheimnisse zusammen.
Auch die Kommentare der Studenten zeigen, wie sehr sie die Anwesenheit des alten Herrn geschätzt haben:
"Er war ein unglaublicher Mensch und eine Bereicherung für das Seminar. Mit ihm zu reden, war ein Vergnügen. Ich werde die Odyssee nie lesen können, ohne an ihn zu denken." (317)
Achtung! Dein Post muss sich auf den nächsten Abschnitt beziehen. Dieser geht nur bis Seite 273 ;)
 
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Literaturhexle

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Neben den Themen Tarnung und Wiedererkennen im Epos, was @MRO1975 oben so schön zusammengefasst hat, haben mich in diesem Abschnitt all die Indizien sowie deren Deutung gereizt, die Daniel über seinen Vater nach und nach erfährt. Verwoben sind diese eben oft mit der Odyssee, insbesondere dem Vater-Sohn-Verhältnis von Telemachos und Odysseus. Faszinierend!!!

Vater und Sohn sind sich ähnlicher, als sie denken. Jedoch muss man den Vater in seiner Jugendzeit zum Vergleich heranziehen (Bsp.: Beide Mendelsons haben eine Militärkarriere abgelehnt)
Weitere Auffälligkeiten:
  • Beide Söhne haben sich Ersatzväter /Mentoren suchen müssen (siehe oben bei MRO1975)
  • Beide Väter erzählen gerne kunstvolle Lügengeschichten.
  • Beide Väter sind hart und wenig gefühlsbetont den Söhnen gegenüber
  • Die Narbe des Odysseus = die Narbe Jays durch Impfung nach dem Tollwutbiss (Verletzung durch die lügende Hundebesitzerin?)???
  • Beiden Vätern ist die Treue der Gattin sehr wesentlich, obgleich sie wenig zärtlich/abwesend sind
[zitat]In der Odyssee geht es nicht nur um die Erziehung des Sohnes, sondern auch um die Entwicklung des Vaters (S. 266)[/zitat]
Auch dieser Satz charakterisiert wunderbar, was zwischen den Mendelsons stattfindet. Diese Geschichte einer Annäherung wird gekonnt mit dem klassischen Epos verbunden. Das beeindruckt mich immer mehr!

Dazu passen die Informationen, die Dan von seinem Onkel Howard bekommt. Erneut erscheint ihm der Vater in einem neuen Licht. Obwohl die Brüder Jahre nicht miteinander gesprochen haben, bekennt Howard: "Dein Vater war brillant. Er kam aus einfachen Verhältnissen, aber er hat viel gelernt." (S. 273)
 

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  • Beide Väter sind hart und wenig gefühlsbetont den Söhnen gegenüber.
Woran machst du fest, dass Daniel seinen Söhnen gegenüber hart ist, ich habe ihn eher als liebevollen Vater abgespeichert. Eine Gattin hat Daniel eher als Erzeuger in seiner/ihrer Kinder. Auf mich wirkt es so, als seien sie nicht als Paar zusammen. Er spricht auch offen über seine Homosexualität.
 

Literaturhexle

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Woran machst du fest, dass Daniel seinen Söhnen gegenüber hart ist, ich habe ihn eher als liebevollen Vater abgespeichert. Eine Gattin hat Daniel eher als Erzeuger in seiner/ihrer Kinder. Auf mich wirkt es so, als seien sie nicht als Paar zusammen. Er spricht auch offen über seine Homosexualität.
Ich meinte mit Vätern immer Odysseus und Jay. Sorry.
Über Daniel als Vater erfahren wir bislang wenig.
 

Renie

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Auch die Kommentare der Studenten zeigen, wie sehr sie die Anwesenheit des alten Herrn geschätzt haben:
Als Dan mitbekommt, dass sein Vater näheren Kontakt zu den Studenten hatte (Zufallstreffen auf dem Bahnsteig, gemeinsame Zugfahrten etc.), habe ich mich bei dem Gedanken ertappt, dass dies eine sehr schöne Entwicklung in der Geschichte ist, die der Autor sich da ausgedacht hat. Aber dann fiel mir ein, dass der Autor sich die Geschichte gar nicht ausgedacht hat, sondern, dass sie tatsächlich so passiert ist. Ist das schön. :) Die besten Geschichten schreibt das Leben selbst.
 
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Dieses Buch ist einfach nur wunderbar gemacht! Einerseits wird die Odyssee durchgenommen und andererseits die Geschichte des Autors und seines Vaters. Das wissen wir ja schon! Aber hier in diesem Kapitel finde ich die Gemeinsamkeiten in den Beziehungen von Odysseus und Telemachos einerseits und Jay und Daniel andererseits so ungemein wichtig. @Literaturhexle hat dies oben schon so wunderbar aufgelistet! Dies macht mich als Leserin sehr nachdenklich. Und gleichzeitig stelle ich mir die Frage was kennt man von seinem Umfeld? Das sind sicher die Dinge, die einem vom Umfeld gezeigt werden, dann die Dinge, die man mit diesem Umfeld erlebt und schlussendlich die Dinge, die man erzählt bekommt (wobei hier beim letzteren sicher differenziert werden muss). Über dieses bilden wir uns dann Urteile über unser Umfeld. Und manchmal bilden wir uns ein zu wissen. Besonders wenn es um ein sehr enges/sehr nahestehendes Umfeld geht. Dieses Buch zeigt auch wie schnell unser Wissen neu geordnet werden kann und wie sehr neu erworbene Erkenntnisse über nahe stehende Personen uns verwirren können. Und uns eigentlich auch immer zeigen wie wenig wir wissen, auch wenn wir das Gegenteil glauben. Gut gemacht!
 
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  • Beide Söhne haben sich Ersatzväter /Mentoren suchen müssen
Dies hat mich besonders nachdenklich werden lassen. Wie schnell entstehen auch Missverständnisse? Und wie hat sich hier Jay gefühlt, als sich Daniel Ersatzväter gesucht hat? Denn die Frage von Jay bezüglich der Odyssee auf Seite 251 unten zeigt ja wie tief beeindruckt er von Odysseus Verhalten beim Anblick vom Miteinander von Eumaios und Telemachos ist. Was beeindruckt uns bei anderen? Manchmal auch etwas was wir selbst nicht so gut können. …
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
In diesem Abschnitt kommt Odysseus nach Ithaka zurück. Anhand der Geschichte mit den Hunden, dem Sauhirten und schließlich Penelope werden verschiedene Formen des Wiedererkennens und des Willkommenheißens gezeigt. Interessant fand ich dabei die Frage, wie man jemanden wiedererkennen soll, den man eigentlich nicht kennt. Telemachos kennt seinen Vater ja eigentlich nicht persönlich, nur aus den Geschichten, die er über ihn gehört hat. Es wundert daher nicht, dass sich die beiden nicht tränenüberströmt in die Arme sinken. Aber sie erweisen sich gegenseitig Respekt, in dem sie sich formal korrekt wie Vater und Sohn begrüßen. Manchmal helfen eben äußere Formen, wenn man nicht auf seine Gefühle vertrauen kann oder will.

Die Begrüßungsszene mit dem Sauhirten ist zudem der Aufhänger für einen weiteren Aspekt in der Vater-Sohn-Geschichte. Jay sagt, dass er die Selbstbeherrschung bewundert, mit der Odysseus Zeuge der herzlichen Begegnung zwischen Telemachos und dem Sauhirten wird. Damit zeigt er, dass es ihn verletzt hat, dass Daniel sich in seiner Jugend andere Vaterfiguren gesucht hat. Aber die Ursache dafür liegt wohl vor allem bei ihm selbst.
Und selbst wenn man alle Möglichkeiten hat jemanden zu kennen, weil die Person da war und nicht auf einer Odyssee, man kennt trotzdem nicht alles. Aber gut, wie sollte man auch? Man lernt ja auch sich selbst ab und zu ganz neu kennen, zum Beispiel in neuen Situationen. Dieses Sinnieren bekommt in diesem Kapitel ganz neue Dimensionen. Bin begeistert!
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

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Das Gerechtigkeitsthema fand ich schwierig. Ja, die Sitten waren streng und wer etwas isst, was ihm nicht zusteht, soll bestraft werden. Aber warum gibt es keine Vergebung für reuige Sünder?
Mit diesem radikalen Aspekt der Odyssee hatte ich auch immer zu kämpfen, aber man merkt hier halt deutlich, dass dies eine patriarchale Kultur ist, in der Vergeltung eine hohe Bedeutung hat, leider. Aber andererseits, was passiert wenn man nicht radikal ist? Manches Delikt braucht auch ein hohes Strafmaß. Die Verrohung in unserer Gesellschaft finde ich bedenklich. Die Gewalt, mit der auch ich auf Arbeit zu tun habe, bringt mich an meine Grenzen. Achtung vor anderen Menschen scheint etwas zu sein was sich in unserer Gesellschaft minimiert. Nur ist die Frage ob Strafen dies verändern könnten. Ich glaube eher nicht. Aber wissen …. hhmmm … :eek:
 

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Aber andererseits, was passiert wenn man nicht radikal ist? Manches Delikt braucht auch ein hohes Strafmaß.
Problematisch finde ich, dass die Strafen nicht differenziert werden. Odysseus bringt alle um, ohne Ausnahme und ohne das Ausmaß ihres Vergehen zu berücksichtigen. Das erscheint mir ungerecht.
 

Literaturhexle

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Die Verrohung in unserer Gesellschaft finde ich bedenklich. Die Gewalt, mit der auch ich auf Arbeit zu tun habe, bringt mich an meine Grenzen.
Da bin ich froh, dass ich mich mit Gewalt nicht auseinandersetzen muss. Ich lese gerade einen Thriller (Geschenk, eigentlich nicht mein Genre) und das reicht mir schon...
Bedenklich ist, dass selbst in normalen Familien Rücksichtnahme, Respekt und Hilfsbereitschaft immer weniger Bedeutung haben. Die Ellenbogen werden schnell ausgefahren, damit man auch nur nicht zu kurz kommt....
Diese Verschiebung kann man wahrscheinlich auch am Ende der Skala erblicken - eben wenn es um Gewalt geht...
 

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Da bin ich froh, dass ich mich mit Gewalt nicht auseinandersetzen muss.
Dem kann ich mich anschließen, bin froh, dass ich in der Regel mit sozial kompetenten Jugendlichen zu tun habe, von denen einige tatsächlich an das Gute im Menschen glauben lassen.
Ganz so idyllisch ist es natürlich nicht, aber an einem Gymnasium im ländlichen Bereich ist Gewaltbereitschaft nur selten ein Thema und Respektlosigkeit gegenüber Lehrpersonen sind die Ausnahmen.
 

Bibliomarie

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Das Gerechtigkeitsthema fand ich schwierig. Ja, die Sitten waren streng und wer etwas isst, was ihm nicht zusteht, soll bestraft werden. Aber warum gibt es keine Vergebung für reuige Sünder?

Ist die Vergebung nicht erst mit dem Christentum ein Thema geworden? Sogar im alten Testament galt ja noch "Auge um Auge, Zahn um Zahn"
 

Bibliomarie

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10. September 2015
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Auch die Rückkehr bietet wieder viele Verknüpfungen von Epos und Dans Vaterbeziehung.
So wie Odysseus zusehen muss, wie liebevoll Telemachos vom Sauhirten begrüßt wurde und sich keine Regung anmerken lässt, so hat wohl auch Dans Vater die Beziehungen zwischen den Lehrern und seinem Sohn beobachten müssen - und ließ keine Gefühle zu.
Dans Mentoren und Lehrer waren wohl mehr als nur reine Wissensvermittler, sie gaben ihm Nähe und Halt, die er damals vermisste. Warum konnte sich der junge Jay nicht so seinem Sohn gegenüber öffnen, wie er es jetzt im Alter kann? Bedauert er es?

Nach der Reise und dem Tod des Vaters geht Dan auf Spurensuche bei den noch lebenden Verwandten und erfährt manches über ihn.
Zwar bin ich sicher, dass Jay seine Frau und seine Kinder liebte, aber er begegnete ihnen ziemlich kühl. Seine Frau muss schon viel Humor gehabt, wenn sie ihn so nehmen konnte.

Beim Epos habe ich mich tatsächlich gefragt, warum Athene Odysseus über die Treue seiner Frau im Unklaren lässt. Sie hat so oft eingegriffen, ihm den Weg gewiesen oder wie Jay sagen würde, ihm aus der Patsche geholfen - hier lässt sie ihn allein.
Muss sich vielleicht nicht Penelope bewähren, sondern er?