4. Leseabschnitt: NEUN bis einschl. ZWÖLF (Seite 207 bis 273)

GAIA

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27. Dezember 2021
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Auch im letzten Abschnitt hat mich Margaret Laurance nicht enttäuscht.

Wieder sehr gut dargestellt sind die Unwegbarkeiten einer Frau in den 1960ern, wenn sie ein uneheliches Kind erwartet (oder denkt zu erwarten). Rachel ist so verzweifelt, dass sie sogar den Weg Richtung Selbstmord über den Whiskey und die damals weit verbreiteten Barbiturate nehmen würde. Zum Glück kommt ihr noch die Erkenntis, dass danach nichts mehr zu ändern ist und sie demnach auch ihre Meinung nicht mehr ändern könnte. Viele Menschen verspüren nach einem Selbstmordversuch eine gewisse Freiheit, weil sie sich denken: "Wenn ich tot sein könnte, dann kann habe ich aber jetzt auch die Freieheit einfach zu tun was ich will, es wäre ja sowieso egal, wenn ich tot wäre. Also kann ich jetzt auch so leben wie ich will." So einfach geht das bei Rachel aber nicht und es ist klasse gemacht, dass sie erst zu dieser Erkenntnis mithilfe der großartigen Reaktion von Calla kommt. Diese zeigt ihr: Es gibt immer irgendeine Möglichkeit, selbst wenn sie abwegig erscheint, aber es wird schon wieder. So kommt sie endlich zu dem Gedanken: "Ja. ich komme zurecht." Egal wie verfahren die Situation ist.

Als sie sich dann zu Doktor Raven traut und er auch noch im ersten Moment ihr jede Tür vor der Nase zuschlägt, indem er ihre Integrität in Frage stellen würde, sollte sie potentiell schwanger sein, die Option gänzlich ausschließt vor jeglicher Untersuchung. Dass es dann tatsächlich eine gutachtige Geschwulst gewesen ist, finde ich eine sehr gute Entscheidung von Laurence. Denn wir haben ja alle möglichen Konsequenzen, wäre es eine Schwangerschaft gewesen, schon in den Gedanken von Rachel durchdekliniert bekommen. So bringt die Autorin einen Twist rein, der unerwartet aber eben nicht unmöglich und abwegig ist.

Mir gefallen auch sehr die kleinen Zeitsprünge zwischen den Kapiteln, die besonders hier in der Schlussphase des Romans stark die Spannung erhöhen. Es endet mit einem Cliffhanger und wie bei einer guten Fernsehserie, erfährt man aber gleich zu Beginn der nächsten "Folge", was eigentlich passiert ist und kann sich das Dazwischen zusammendenken. Gerade bei "ELF" und "ZWÖLF" sind diese Übergänge toll gelungen.

Im Krankenhaus scheint Rachel noch psychisch stark lediert und phantasiert über die möglichen Besuche Nicks. Diese unerwartete Wendung in ihrem Leben scheint sie aber nicht vollkommen und unabänderlich aus der Bahn zu werfen. Nein, schon vor der Fahrt in die Klinik schafft sie es das erste Mal zu ihrer Mutter NEIN zu sagen, nämlich sie von einem Mitkommen abzuhalten. So deutet sich schon an, was dann im letzten Kapitel komplett in Rachel vollzogen ist: Der "Ich habe nichts zu verlieren"-Gedanke; die Freiheit endlich Nein zu sagen und zu einem anderen Leben Ja zu sagen. Das zwölfte Kapitel habe ich so nicht kommen sehen, aber es ist meines Erachtens ein grandioser Abschluss für den Roman. Eine Frau, die ein einschneidendes Ereignis brauchte (und viele kleine bis dahin), um endlich erwachsen zu werden und eigene Entscheidungen zu treffen. Ihr wird klar, dass sie nicht für das Leben ihrer Mutter verantwortlich ist. Das ist für mich sehr schlüssig hergeleitet, auch wenn durch den Kapitelwechsel natürlich wieder der künstlerische Sprung drin war. Und witzigerweise deutete sich der Wandel hin zu der Art, wie Nick gesprochen hätte schon vorher an, und Laurance greift auch diesen Hinweis von früher aus dem Buch Ende Seite 263, Anfang 264 wieder auf: "Ich hatte nicht vor, ihn zu kopieren. Aber etwas von ihm wohnt in mir." Und ist es nicht toll, dass es eben nicht sein leibliches Kind sein muss, was in ihr wohnt, sondern einfach ein Gedanke, eine Möglichkeit selbstbewusst sein und handeln zu können?

Ehrlich gesagt, kann ich aber mit den letzten drei Sätzen des Romans eher wenig anfangen. Hier hoffe ich auf eine Diskussion eurerseits, denn meines Erachtens hätte es diese Sätze nicht mehr gebraucht, um den Roman rund zu machen. Aber vielleicht irre ich mich auch. "Gott sei gnädig mit den unfreiwilligen Clowns. Gott hab Erbarmen mit den Narren. Gott hab Mitleid mit Gott."
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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So bringt die Autorin einen Twist rein, der unerwartet aber eben nicht unmöglich und abwegig ist.
Mich hat das wirklich total überrascht, und ich war auf Raven schon richtig sauer, weil er das vermeintlich Offensichtliche nicht wahrhaben wollte. Ein sehr gelungener Kunstgriff von Margaret Laurence.
aber es ist meines Erachtens ein grandioser Abschluss für den Roman
Das finde ich auch, das Finale hat mich sehr berührt, und ich werde Rachel vermissen. Gleichzeitig freue ich mich mit ihr auf die neuen Gelegenheiten.
Hier hoffe ich auf eine Diskussion eurerseits, denn meines Erachtens hätte es diese Sätze nicht mehr gebraucht, um den Roman rund zu machen.
Mich haben diese Sätze tatsächlich zu Tränen gerührt, und ich halte sie für einen formidablen Abschluss. In meinen Augen fasst Rachel in drei wunderbaren Sätzen hier noch einmal zusammen, dass sie einerseits mit sich und ihrer "inneren Stimme" ins Reine kommen wird, dass zumindest die Hoffnung da ist, dass sie sich selbst akzeptiert wie sie ist.

Auf der anderen Seite wirkte es auf mich wie ein emotionaler Abschlussschrei der Autorin. Nach dem Motto: Akzeptiert euch selbst, akzeptiert aber auch Menschen, die anders sind. Seid empathisch und verurteilt nicht. Und nehmt auf der anderen Seite nicht alles als gegeben hin, traut euch und wacht auf. Lebt.

Vielleicht interpretiere ich auch viel zu viel hinein, aber ich fand diese Sätze einfach nur toll.
 

Christian1977

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Vieles habe ich ja nun schon als Antwort oben verfasst, dennoch wollte ich noch einmal meine Begeisterung kundtun.

Für mich ist der letzte Abschnitt sogar der stärkste, weil er so viel Überraschendes bietet und gleichzeitig eine große Hoffnung ausstrahlt, die dem Roman zuvor wegen Rachels dunkler Gedanken ein wenig fehlte. Und dennoch wirkt es nicht wie ein künstliches oder kitschiges Happy-End.

Insgesamt habe ich das Gefühl, eine Art Coming-of-Age-Roman mit einer Erwachsenen gelesen zu haben, bei der Entwicklung, die Rachel durchmacht. Das finde ich toll und weiß gar nicht, ob ich Ähnliches schon einmal gelesen habe.

Das letzte Kapitel war für mich wahnsinnig emotional. "Neben mir schläft mein altes Kind." (S. 271). Das ist ein so traurig-schöner Satz, und jeder, der sich um alte oder kranke Elternteile zu kümmern hat oder hatte, wird sich darin wiedererkennen. Diese ganze Schilderung der Busfahrt fand ich hinreißend, inklusive der letzten drei Sätze (siehe oben).

Nicks Kinderfoto: Komischerweise war das bei der Szene mein erster Gedanke, den ich aufgrund Rachels Reaktion darauf aber sofort verwarf. Sehr gut gemacht von Margaret Laurence, genau wie die Überraschung mit dem Geschwür.

S. 251: "In den ersten Tagen zu Hause..." - auch diese Stelle finde ich wunderbar, man kann alles, was Rachel denkt und tut, so gut nachvollziehen. Das ist in meinen Augen das große Verdienst der Autorin, das so geschafft zu haben.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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In meinen Augen fasst Rachel in drei wunderbaren Sätzen hier noch einmal zusammen, dass sie einerseits mit sich und ihrer "inneren Stimme" ins Reine kommen wird, dass zumindest die Hoffnung da ist, dass sie sich selbst akzeptiert wie sie ist.
Nach deiner Interpretation merke ich, dass ich mich bei den drei Sätzen zu sehr an "Gott" festgehalten habe. Aber natürlich, wenn ich es als ihre innere Stimme und einen Appell verstehe, passt es besser. Danke dir!
Und dennoch wirkt es nicht wie ein künstliches oder kitschiges Happy-End.
Ja, ganz genau. Das ist einfach großartig gelöst und ich war auch so dermaßen überrascht von diesem LA, dass ich dir zustimmen kann: Auch wenn ich alle anderen Leseabschnitte ebenso stark fand, sticht dieser noch einmal besonders positiv heraus.
Nicks Kinderfoto: Komischerweise war das bei der Szene mein erster Gedanke, den ich aufgrund Rachels Reaktion darauf aber sofort verwarf.
Mein erster Gedanke war beim ersten Auftauchen des Kinderfotos, dass es das Fotos des Zwillingsbruders von Nick gewesen ist. Und Rachel dahingehend falschlag.

Ich kann dir insgesamt nur zustimmen. Die Autorin hat hier wirklich Großes und Ungewöhnliches geschafft und geschaffen! Na ein Glück, dass sich dein Scherz vom 1. LA, dass du das Buch aus folgenden Gründen gar nicht gut findest: a) ähm..., in keinster Weise bewahrheitet hat! ;) Du hattest mich wirklich für einen Moment und ich war so geschockt über deine erste Einschätzung. :D
 

RuLeka

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Für mich ist der letzte Abschnitt sogar der stärkste, weil er so viel Überraschendes bietet und gleichzeitig eine große Hoffnung ausstrahlt, die dem Roman zuvor wegen Rachels dunkler Gedanken ein wenig fehlte. Und dennoch wirkt es nicht wie ein künstliches oder kitschiges Happy-End.
Ein gelungenes Finale!
Das letzte Kapitel war für mich wahnsinnig emotional. "Neben mir schläft mein altes Kind." (S. 271). Das ist ein so traurig-schöner Satz, und jeder, der sich um alte oder kranke Elternteile zu kümmern hat oder hatte, wird sich darin wiedererkennen
Auch hier stimme ich Dir zu. Es ist ein einschneidendes Erlebnis, wenn einem bewusst wird, dass sich die Rollen vertauscht haben. Die Eltern in ihrer Hilflosigkeit zu erleben, ist einerseits sehr deprimierend, hilft aber auch, manches zu verzeihen.
 

GAIA

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Die Eltern in ihrer Hilflosigkeit zu erleben, ist einerseits sehr deprimierend, hilft aber auch, manches zu verzeihen.
Dieser Satz von dir, hat mich an folgendes Buch erinnert, welches ich selbst nicht gelesen habe, dessen Titel und Cover mir aber im Gedächtnis geblieben sind:

Leider konnten wir zu diesem Buch keine Daten ermitteln.
 

Barbara62

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19. März 2020
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Mein erster Gedanke war beim ersten Auftauchen des Kinderfotos, dass es das Fotos des Zwillingsbruders von Nick gewesen ist. Und Rachel dahingehend falschlag.
Das war mein erster Gedanke auch, aber dann habe ich mich erinnert, dass sie zweieiig waren und sich nicht ähnlich sahen, deshalb habe ich es wieder verworfen.
 

Barbara62

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Für mich ist der letzte Abschnitt sogar der stärkste, weil er so viel Überraschendes bietet und gleichzeitig eine große Hoffnung ausstrahlt, die dem Roman zuvor wegen Rachels dunkler Gedanken ein wenig fehlte. Und dennoch wirkt es nicht wie ein künstliches oder kitschiges Happy-End.
Das habe ich auch so empfunden. Wenn 3/4 eines Romans so klasse waren, überkommt mich immer eine gewisse Angst, die Begeisterung könnte durch einen enttäuschenden Schluss noch gemindert werden. Hier war es zum Glück überhaupt nicht so, im Gegenteil.

Rachel hat zu viel von Nick gewollt, das ist ihre Erklärung dafür, dass er sich aus dem Staub gemacht hat. Haben wir hier wieder das Kletten-Motiv? Vermutlich war es auch seine Angst, sie könnte ihn in Manawaka festnageln, denn dass sie ihre Mutter und den Heimatort je verlassen würde, war für ihn nicht absehbar.

Der Umstand, dass auf den letzten Seiten das Wort "lachen" als Freude und Befreiung mehrfach vorkommt, während es vorher höchstens ein bitteres Lachen oder ein Auslachen gab, hat mich aufatmen lassen. Ich bin voller Optimismus für Rachel, sie wird es schaffen, davon bin ich nun überzeugt. Sie hat die Fesseln abgestreift. Insofern bin ich mit Nick versöhnt, er hat ihr dazu verholfen, wenn auch ungewollt.

Dass Nick keine Mitschuld an Stevens Tod hat, hat mich überrascht. Er hat sich nur geschämt, weil er die Kinderlähmung überlebt hat und sein Bruder nicht. Was für eine schreckliche Krankheit und wie fantastisch, dass sie in unseren Breiten besiegt ist.
 

GAIA

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Rachel hat zu viel von Nick gewollt, das ist ihre Erklärung dafür, dass er sich aus dem Staub gemacht hat. Haben wir hier wieder das Kletten-Motiv?
Den Gedanken finde ich richtig Klasse. Sie klebte wie eine Klette an ihm. Die Mutter klebt(e) wie eine Klette an Rachel, aber im positiven Sinne nimmt Rachel sie jetzt mit an die Westküste und gibt ihr dort vielleicht die Möglichkeit auch mal lockerzulassen und noch einmal neue Wurzeln zu lagen. Und Rachel wird bestenfalls ihre "Klettengedanken" ganz los.
 

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Nun kam sie also doch noch, die Debatte um die vermeintliche Schwangerschaft. Der Abschnitt rund um das Für und wider der diveren Optionen und Nicht-Optionen hat mich ziemlich aufgewühlt. Zu m Glück erkennt Rachel aber rechtzeitig, dass Selbstmord keine Lösung sein kann. Am Ende ist sie krank, ein Geschwulst war es also. Krankheiten, gerade Krebs wird ja oft als Ausdruck seelischer Belastungen berachtet. Insofern ist diese Auflösung im Fall Rachels wenig überraschend.
Überraschender war, dass Rachel am Ende dher auf sich schaut und beschließt, die andere Stelle anzunehmen und wegzuziehen. Entgegen den Klagen der Mutter, die natürlich prompt wieder mit einer Litanei von Klagen ankommt.
Rachel will einfach weg. Doch weglaufen ist noch nie eine Lösung gefinden. Insofern wäre es spannend, ihre Entwicklung nach diesem Umzug verfolgen zu können.
Den Roman fand ich grundsätzlich sehr lesenwert, muss aber sagen, dass ich nicht so überaus begeistert bin, wie die meisten Anderen. Rachel ging mir mitunter ganz schön auf die Nerven, und ihr Umfeld sowieso. Dennoch würde ich aber sehr gerne noch weitere Werke der Autorin lesen.
 

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Den Gedanken finde ich richtig Klasse. Sie klebte wie eine Klette an ihm. Die Mutter klebt(e) wie eine Klette an Rachel, aber im positiven Sinne nimmt Rachel sie jetzt mit an die Westküste und gibt ihr dort vielleicht die Möglichkeit auch mal lockerzulassen und noch einmal neue Wurzeln zu lagen. Und Rachel wird bestenfalls ihre "Klettengedanken" ganz los.
Das ist sehr zutreffend. Ich glaube, wer klettet, verliert letztlich immer. Im Roman sind es die Mutter in Bezug auf Rachel und Rachel in Bezug auf Nick.
 

Barbara62

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Rachel will einfach weg. Doch weglaufen ist noch nie eine Lösung gefinden. Insofern wäre es spannend, ihre Entwicklung nach diesem Umzug verfolgen zu können.
Ich habe das nicht als ein Davonlaufen interpretiert. Ein Neuanfang wäre in Manawaka nicht möglich gewesen, dort wäre sie immer das Kind ihrer Mutter, die brave Lehrerin, die kein Nein kennt, usw. gewesen.
 

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Ehrlich gesagt, kann ich aber mit den letzten drei Sätzen des Romans eher wenig anfangen. Hier hoffe ich auf eine Diskussion eurerseits, denn meines Erachtens hätte es diese Sätze nicht mehr gebraucht, um den Roman rund zu machen. Aber vielleicht irre ich mich auch. "Gott sei gnädig mit den unfreiwilligen Clowns. Gott hab Erbarmen mit den Narren. Gott hab Mitleid mit Gott."
Was Rachels Verhältnis zum Glauben und Gott betrifft, sind bei mir auch ein paar Fragezeichen übrig geblieben.
Und wie würdet Ihr eigentlich den Titel einschätzen? Worauf bezieht sich ganz konkret die Laune Gottes?