4. Leseabschnitt: Nachworte und Noah Kliegers Erinnerungen

Literaturhexle

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2. April 2017
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Hier diskutieren wir über die Hintergrundinformationen aus dem Nachwort des Autors, dem von Alice Klieger (der Nichte Noahs) sowie der Erinnerungen Noah Kliegers geschrieben von Sharon Kangisser Cohen.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Takis Würger hat Monate lang täglich mit Noah gesprochen. Das Buch ist das Ergebnis. Offensichtlich hat Würger alles so wiedergegeben, wie es ihm diktiert wurde. Auf manche Fragen zu Kindheit/Jugend hat er keine Antworten bekommen. Vielleicht auch auf andere Fragen nicht? Mir leuchtet @SuPro s Erklärung ein, dass traumatisierte Menschen sich mitunter nur in kurzen klaren Sätzen über ihr erlittenes Leid äußern können.

Manche Erinnerungen gehen auch mit historisch verbrieften Fakten auseinander. Man weiß nicht, wo die Wahrheit liegt. Das halte ich auch nicht für so wichtig.
[zitat]Dieses ist Noahs Buch. Dies ist Noahs Geschichte. Er war dabei. S. 159[/zitat]

Das Gedächtnis ist unzuverlässig. Im Laufe der Jahre können Dinge vergessen oder verdrängt werden. Vielleicht ist nur das Wichtigste geblieben? Vielleicht deshalb die kurzen, hämmernden Sätze?
(Obwohl ich meine, dass das auch der Stil Würgers ist.)
 

ThomasWien

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19. März 2021
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Wien
Wie viel von den wenigen Fakten den Tatsachen entsprachen ist für mich auch nebensächlich. Ob es tatsächlich Mengele war oder irgendein anderer wahnsinniger NS-Arzt ist auch egal.
Ich bin jetzt fertig mit diesem Buch. Ein Fazit spare ich mir bei diesem Buch. Ehrlich gesagt habe ich keine klare Meinung dazu. Ich habe einfach zu sehr das Gefühl, dass mir zu viele Dinge vorenthalten wurden, als ob man sich nicht sicher war, tatsächlich ein Buch schreiben zu müssen.
 

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Jetzt ist mir einiges klarer. Nach den Nachworten bin ich mit Würger wieder einigermaßen versöhnt. Er hat nur das geschrieben, was ihm von Noah verraten und so wie es ihm von ihm diktiert wurde. Bleibt die Frage, ob solch ein Buch sinnvoll ist, wenn es inhaltlich so fragmentarisch bleibt. Aber für Noah war es ein Anliegen, dass die Zeitzeugen weiterhin Gehör finden und sei es, nach dem Tod nur durch schriftliche Hinterlassenschaften. Ich könnte mir auch vorstellen, dass Klieger im Umgang vielleicht kein ganz einfacher Mensch war und etwas eigen und deshalb den Daumen drauf haben wollte, was genau über ihn geschrieben wird.

Das Gedächtnis ist unzuverlässig. Im Laufe der Jahre können Dinge vergessen oder verdrängt werden. Vielleicht ist nur das Wichtigste geblieben?

Ich habe nun noch stärker als vorher auch den Eindruck, dass man vielleicht nicht jedes Detail für bare Münze nehmen kann, was Kliegers Erinnerungen angeht. Er muss noch nicht mal bewusst lügen, aber manchmal verdrängt man einiges. Und die Erinnerungen verändern sich mit der Zeit, vor allem wenn man sie mehrfach teilt. Deshalb kann es gut sein, dass ihm Mengele nie begegnet ist, auch wenn das große Ganze stimmen mag.
 

sursulapitschi

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18. September 2019
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Die Tatsache, dass das Buch eine Auftragsarbeit war und hauptsächlich Noahs Erinnerungen wiedergeben sollte, erklärt einiges. Ich überlege noch, ob sich dadurch auch meine Meinung zum Buch ändern sollte. Bedeutet so ein Auftrag für den Autor, sein Gespür für einen Text und den Aufbau eines Buches hintanzustellen? Er wurde doch engagiert, weil er ein Profi auf seinem Gebiet ist, muss merken, wenn es hier und da etwas dünn ist, muss ergänzen, vertiefen.

Dieses dreifache Nachwort kam mir ein bisschen so vor, als sollte es dem Text mehr Gewicht verleihen, finde aber, ein Buch müsste es schon selbst schaffen zu überzeugen.
Ich fand es interessant von Herrn Würger zu hören, wie er Noah kennengelernt und erlebt hat. Auch ein Blick seiner Nichte auf seine Person und das Buch hat mir gefallen und das Buch abgerundet.

Eine Interpretation von Sharon Kagisser Cohen hätte ich nicht gebraucht, ich denke eigentlich lieber selbst und das Gewicht des Themas ist wohl auch jedem so klar.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Na ja, das würde ich auch nicht wollen, wäre es dir egal?
Wir interpretieren hier....
Schaut euch mal den Film an, den Claudi im ersten oder zweiten Abschnitt eingestellt hat. Es liegt nicht an Klieger. Der sprudelt wie ein Wasserfall! Würger wollte etwas Besonderes, Künstlerisches, Abgerissenes... was aus meiner Sicht misslungen ist.
Ein Buch sollte in sich rund sein und ggf. zu Recherchen EINLADEN. Man sollte aber nicht dazu gwzwungen sein, um inhaltliche Zusammenhänge zu begreifen.:mad:
 

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Na ja, das würde ich auch nicht wollen, wäre es dir egal?

Wenn ich jemanden dafür bezahle, dann kann ich verlangen, dass jedes Wort von mir abgesegnet wird. Wenn ein renommierter Journalist und Autor etwas über mich schreiben will und ich einwillige, dann muss ich akzeptieren, dass der andere seinen Job machen darf und nicht nur meine Tippse spielt.
 

milkysilvermoon

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Die Tatsache, dass das Buch eine Auftragsarbeit war und hauptsächlich Noahs Erinnerungen wiedergeben sollte, erklärt einiges. Ich überlege noch, ob sich dadurch auch meine Meinung zum Buch ändern sollte. Bedeutet so ein Auftrag für den Autor, sein Gespür für einen Text und den Aufbau eines Buches hintanzustellen? Er wurde doch engagiert, weil er ein Profi auf seinem Gebiet ist, muss merken, wenn es hier und da etwas dünn ist, muss ergänzen, vertiefen.

Aus dem Nachwort geht hervor, dass beide das Buch wollten. Ich lese da aber nicht heraus, dass es eine Auftragsarbeit war und Klieger den Autor engagiert hat. Das würde bedeuten, dass Würger dafür von Klieger bezahlt wurde. Woraus ziehst du den Schluss? Ich verstehe das Nachwort so, dass es eine gleichberechtigte Zusammenarbeit war.

Schaut euch mal den Film an, den Claudi im ersten oder zweiten Abschnitt eingestellt hat. Es liegt nicht an Klieger. Der sprudelt wie ein Wasserfall! Würger wollte etwas Besonderes, Künstlerisches, Abgerissenes... was aus meiner Sicht misslungen ist.

Das Video ist definitiv informativer als das Buch. Vieles wird dort klarer. Klieger hat also wohl mehr Details erzählt. Aber offenbar hat er Würgers Text so durchgewunken.
 

SuPro

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28. Oktober 2019
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Welch wunderbare Nachworte! Ich glaube, dass sie einige Fragen beantworten, die in der Diskussion aufgetreten sind. Auf Seite 165 steht ganz klar, es ging Noah (und somit Takis Würger) ums Erzählen, nicht ums Erklären.
Auf Seite 157 berichtet uns Würger von der WissenschafterinYad Vashem, die die Metapher der perfekt gerahmten Bilder eingeführt hat. Wie wunderbar! Genau so ist das. So machen wir alle das. So machen es vor allem traumatisierte Menschen.
Der Autor geht auch auf vermeintlich Widersprüchliches ein und darauf, dass er über Manches gern mehr erfahren hätte und darauf, dass es ihm darum ging, alles genau so zu erzählen, wie er es von Noah gehört hat.
für mich runden diese beiden persönlichen Nachworte dieses eindrückliche Werk ab.
 

SuPro

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Jetzt bin ich noch einmal auf eine interessante Stelle gestoßen. Interessant vielleicht besonders für diejenigen, die in dem Text die Emotionen vermisst haben. Eine Erklärung für das Fehlen der Emotionen ist ja die, die ich versucht habe zu formulieren. (Traumatisierung als Ursache. Emotionale Distanzierung und Versachlichung zum Schutz)
Hier ist noch eine weitere: Seite 168. Noah ging es um Ereignisse und Taten. Es ging ihm neben dem Unbewussten, auf das ich fokussiert habe, ganz bewusst nicht darum, von Gefühlen zu erzählen, sondern „Ich habe versucht, mein langes und erfülltes Leben durch Ereignisse und Taten zu beschreiben.“
 

SuPro

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Auf Seite 174 versucht Cohen zu erklären, weshalb viele Überlebende erst im Alter über die entsetzlichen Geschehnisse sprechen. Diese Erklärungen müssen noch ergänzt werden: sehr viele Traumatisierte können erst Jahre nach der Traumatisierung darüber reden und es in Worte fassen, weil das Trauma erst einmal innerlich und emotional einigermaßen verdaut und verarbeitet werden muss. Vorher würden viele von ihren noch völlig unsortierten und viel zu frischen Gefühlen überwältigt werden und darüber zusammenbrechen.
Viele, nicht alle.
 

SuPro

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Wow! Ich bin tief beeindruckt von den Ausführungen von Cohen. Sie schreibt wunderbar, eindrücklich und verständlich über das Wesen der Erinnerungen und unterscheidet dabei traumatische von narrative Erinnerungen. Es gelingt Cohen m. E. wunderbar, psychologische und analytische Erkenntnisse allgemein verständlich zu formulieren.
 

Querleserin

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Jetzt ist mir einiges klarer. Nach den Nachworten bin ich mit Würger wieder einigermaßen versöhnt.
Das ging mir ähnlich. Das Nachwort wäre besser ein Vorwort, dann hätte man vieles einordnen können, u.a. den Stil. Da es sich um eine wahre Geschichte handelt, hätte ich es auch nicht tragisch, die relevanten Informationen vorab zu erhalten.
Obwohl mir der dritte Teil wieder besser gefallen hat, weiß ich nicht so recht, was ich von dem Roman, oder besser gesagt der Biographie halten soll. Verstehen können wir das, was Noah widerfahren ist, nicht - glücklicherweise sind vor solchen Gräueltaten verschont geblieben. Dass seine Geschichte weiter getragen werden muss, halte ich für wichtig. Dass Würger sie in der Art und Weise erzählt hat, hat er selbst erklärt. Trotzdem hätte ich mir einen weniger nüchternen Stil gewünscht. Ich kann mir gut vorstellen und habe selbst erlebt, dass junge Menschen erschüttert und betroffen sind, wenn Holocaustüberlebende erzählen. Ich glaube jedoch, dass die Biografie diese Wirkung nicht erzielen wird.
 
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Es ging ihm neben dem Unbewussten, auf das ich fokussiert habe, ganz bewusst nicht darum, von Gefühlen zu erzählen, sondern „Ich habe versucht, mein langes und erfülltes Leben durch Ereignisse und Taten zu beschreiben.“
Das kann ich nach deinen Ausführungen und denen aus dem Nachwort nachvollziehen. Ich bezweifele jedoch, dass Würger mit diesem Stil, der authentisch ist, die gleiche Wirkung erzielt, die Klieger in seinen Vorträgen erreicht hat.
 

Literaturhexle

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Das kann ich nach deinen Ausführungen und denen aus dem Nachwort nachvollziehen. Ich bezweifele jedoch, dass Würger mit diesem Stil, der authentisch ist, die gleiche Wirkung erzielt, die Klieger in seinen Vorträgen erreicht hat.
Ich habe den das Interview gesehen, das Claudi im zweiten LA gepostet hat. Dort ERZÄHLT Klieger in ganzen Sätzen, er erklärt, was es mit der Besatzung Palästinas durch die Engländer auf sich hatte. Man hört ihm sehr interessiert zu und wird MITGENOMMEN.

Nach Monaten der Zusammenarbeit entstehen daraus kurze Sätze, viele beginnend mit Noah hat, Noah sah, Noah machte.... Das ist der Stil Würger, nicht der Stil Kliegers.
Im ersten Abschnitt hat das auch bei mir gut funktioniert, danach nicht mehr.
Ich habe mir das ganze Buch nochmal verinnerlicht und alle Nachworte erneut gelesen, die das stützen, was unsere Diskussion bereits ergeben hat.

Aus meiner Sicht hat Würger das Thema gewählt, um sich von Stella reinzuwaschen. Es wundert mich, dass er mit dem dritten Buch nun auch den dritten Verlag hat. Aber das nur nebenbei.
Seine beiden ersten Romane haben mich weit mehr überzeugt als das hier.
 

milkysilvermoon

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Das ging mir ähnlich. Das Nachwort wäre besser ein Vorwort, dann hätte man vieles einordnen können, u.a. den Stil. Da es sich um eine wahre Geschichte handelt, hätte ich es auch nicht tragisch, die relevanten Informationen vorab zu erhalten.

Das habe ich gestern auch gedacht, als ich das Buch noch einmal Revue passieren ließ. Vielleicht hätte das einen Unterschied gemacht. Die Rezension wird diesmal nicht einfach...
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Im Kapitel "Weiterführende Literatur" habe ich ein Buch entdeckt, dass mich damals sehr mitgenommen hat. Dort ist es übrigens so, dass der Geschädigte seinen Frieden mit allem gemacht hat. Und,es ist viel umfangreicher als Noah.
Es handelt sich dabei um: Wie konntest du Menschsein in Auschwitz? Von Shalom Weiss