4. Leseabschnitt: Kapitel XXIII bis Ende (S. 126 - 167)

Anjuta

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Hier findet sie nun statt, die Tat. Ich muss sagen. Der Abschnitt hat mich eher enttäuscht. Die Zugfahrt und die Gefühlsausbrüche und -schwankungen auf ihr waren noch das interessanteste. Züge spielen ja bei Tolstoj eine besondere Rolle (S. v.a. Anna Karenina oder das letzte Lebensjahr Tolstojs verfilmt in "Ein russischer Sommer"; sie waren halt die Neuerung, die sich so ganz besonders auf das Leben in dieser Zeit ausgewirkt haben.) Mit Ankunft zu Hause war es dann eher vorhersehbar und das Erwartete. Ein eifersüchtiges Wüten, wenig mehr. Und die namensgebende Kreutzersonate hat mir auch nicht den Erzähl- und Interpretationskick gegeben, den ich erwünscht hätte.
 

Die Häsin

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Es ist in diesem Zusammenhang vielleicht interessant, dass Beethoven die Kreutzersonate ursprünglich nicht dem Violinisten Kreutzer, sondern dem Violinisten Bridgetower, übrigens ein Brite afro-europäischer Abstammung, gewidmet haben soll, und diese Widmung dann zurücknahm, weil Bridgetower eine Frau "beleidigte", die Beethoven wertschätzte. Eifersuchtsdrama auch hier. Ob's stimmt ... mer waas es net, wie die Hessin sagt.

Ich habe die letzten Kapitel gestern noch gelesen, und was mir dabei gefallen hat, war die Schilderung der Gewalttat - dass sie im äußersten Wachbewusstsein geschah, dass jede Wendung, jede Einzelheit genau mit aller Konsequenz bedacht war. Tolstoj zeigt hier, wie auch im "Iwan Iljitsch", eine Hellsichtigkeit, die ich sehr bewundere. Über Posdnyschew als Protagonisten muss man wohl nicht mehr viel sagen - wenn Tolstoj wirklich am einem Pamphlet für Enthaltsamkeit gelegen war, ist es eigentlich merkwürdig, dass er seinen "Helden" nicht positiver gestaltet hat.
 

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wenn Tolstoj wirklich am einem Pamphlet für Enthaltsamkeit gelegen war, ist es eigentlich merkwürdig, dass er seinen "Helden" nicht positiver gestaltet hat.
Da stimme ich dir zu. Aufgrund seiner Eifersucht und Wut ist man geneigt, ihn nicht ernst zu nehmen. Hätte dies alles verhindert werden können, wenn er enthaltsam geblieben wäre? Wahrscheinlich ja, die Frage ist, ist er überhaupt in der Lage enthaltsam zu sein? Der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit klaffen in seinem Fall weit auseinander. Die Tat ist einfach abscheulich und dann will er auch noch Vergebung und wird frei gesprochen. Das ist der eigentliche Skandal.
 

Die Häsin

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Bei Wiki steht zum Nachwort: "Was als eindringlich geschildertes Ehedrama und subtile psychologische Studie in die Weltliteratur eingegangen ist, wird durch Tolstois Erklärung nun zu einem puritanischen Leitfaden für die Jugend. (...) Das umfangreiche Nachwort lässt uns erkennen, dass Tolstoi es damit in weiten Teilen ernst gemeint und er Posdnyschew als freilich schrilles Sprachrohr seiner eigenen moralischen, sexualhygienischen und religiösen Überzeugungen verwendet hat."
Dem ist - leider - nichts hinzuzufügen. In gewisser Weise entwertet das Nachwort die Erzählung. Hätte Tolstoj nur die Klappe gehalten ... :rolleyes:
 

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In gewisser Weise entwertet das Nachwort die Erzählung. Hätte Tolstoj nur die Klappe gehalten ..
Da hast du Recht, durch seine Erklärungen wird deutlich, dass er seinen Protagonisten tatsächlich als Sprachrohr einsetzt, um seine radikalen Thesen zu verdeutlichen. Dabei scheint der widersprüchliche Charakter durchaus auch einen biographischen Hintergrund zu haben.
 

Literaturhexle

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Der Abschnitt hat mich eher enttäuscht.
Mich leider auch. Viele Emotionen wurden wirklich wiederholt geschildert. Es mag ein glaubwürdiges Psychogramm eines notorischen Eifersuchtlers sein - in deieser epischen Breite brauche ich das dann doch nicht.

Und die namensgebende Kreutzersonate hat mir auch nicht den Erzähl- und Interpretationskick gegeben, den ich erwünscht hätte.
Ich hab sie mir extra angehört. Das besagte Presto ist jetzt nicht viel anders als andere Presti. Ich kann der Geige als mehr oder minder Solo-Instrument allerdings auch nicht allzu viel abgewinnen.
die Frage ist, ist er überhaupt in der Lage enthaltsam zu sein? Der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit klaffen in seinem Fall
Genau. Er hat uns die Theorie ja lang und bräsig in der ersten Hälfte unterbreitet. Die Enthaltsamkeit hätte doch nie und nimmer das Verbrechen verhindert. P. hat sich doch total in diese Szenerie hineingesteigert. Für mich sucht er nach Schuldigen, nach anderen Verantwortlichen in Umfeld und Gesellschaft.
 

Literaturhexle

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Seine Frau verweigert ihm die Absolution auf dem Sterbebett,
Ja, bring mich ruhig um... Ich fürchte mich nicht.... Aber nicht nur mich, alle, ihn auch. Er ist fort! Fort!
Seht ihr darin auch ein Schuldeingeständnis? Also dass P´s Eifersucht gerechtfertigt war? Oder sagt sie das nur, weil jener auch mitverantwortlich ist dafür, dass überhaupt nur der Verdacht der Untreue auf sie gefallen ist?

Eine Unschuldsvermutung sehe ich in ihrem Brief. Warum sollte sie ihm etwas über den Besuch des Musikers schreiben, wenn sie ein Verhältnis mit ihm hat? Sie sollte die Eifersucht des Gatten mittlerweile kennen...
 

Die Häsin

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Wahrscheinlich hatte man zu Tolstojs Zeiten noch eine andere Beziehung zu Musik, weil es keine Tonträger gab. Solche Ausführungen wie - dass Tanzmusik zum Tanzen bringe, Militärmusik zum Marschieren, aber Beethovens Musik regt nur auf, ohne dass man ein Ventil fände - sind heute wohl hoffnungslos oldfashioned. In unserer Zeit ist Musik ja allgegenwärtig, ob man will oder nicht. (Ich liebe gute Musik, aber mir ist weiß Gott Stille lieb und teuer geworden.)
 

Querleserin

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Seine Frau verweigert ihm die Absolution auf dem Sterbebett,

Seht ihr darin auch ein Schuldeingeständnis? Also dass P´s Eifersucht gerechtfertigt war? Oder sagt sie das nur, weil jener auch mitverantwortlich ist dafür, dass überhaupt nur der Verdacht der Untreue auf sie gefallen ist?

Eine Unschuldsvermutung sehe ich in ihrem Brief. Warum sollte sie ihm etwas über den Besuch des Musikers schreiben, wenn sie ein Verhältnis mit ihm hat? Sie sollte die Eifersucht des Gatten mittlerweile kennen...
Ich bin mir auch nicht sicher, ob sie ihn wirklich betrogen hat, oder ob das Meiste in seinem Kopf stattgefunden hat.
 

Yolande

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Zum Schluss kommt es wie es kommen muss, Posdnyschew steigert sich dermaßen in seine Eifersucht, dass er seine Frau in Raserei tötet. Interessant aber, dass die Frau dran glauben muss, der angebliche Liebhaber aber unbehelligt bleibt. Die Schilderung seiner Fahrt nach Moskau war wieder äußerst detailliert, schade, dass er sich während der Kutschfahrt nicht so weit eingekriegt hat, dass er umkehren wollte.
Aber wie Ihr auch schon geschrieben habt, P. sucht die Schuld für diese Tat nicht unbedingt bei sich selbst. Zwar scheint er zu bereuen, was er getan hat, aber eigentlich ist er ja dazu getrieben worden, so seine Meinung. Ganz schwach, Herr Posdnyschew.... Aber auch Herr Tolstoi. Ich habe das Nachwort noch nicht gelesen (mach ich gleich), aber so wie ich es sehe und vermutet habe, versuchte er seine Meinung in eine Form zu pressen, um sie der Öffentlichkeit darzubieten.
 

Wandablue

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Omei, ich bin zu profan, um in diese Geschichte viel hineinzulesen. Ein krankhaft eifersüchtiger Mann bringt seine Frau um, ein Opfer seiner Lebensweise und seiner Imagionation. Weder ist seine frühere Promiskuität daran schuld, dass er ein Mörder wurde, noch seine Frau, noch sonst jemand. Oder gar die Musik. Er war ganz einfach labil und hätte ein wenig Feldarbeit und einen Psychiater gebraucht.

Was mir ganz besonders aufstößt, ist, dass Tolstoi ständig sagt "wie Tiere". Damit beleidigt er diese wunderbaren Geschöpfe. Männer brauchen etwas körpeliche Arbeit. Oder ein Fitnessstudio. Auch Marathon hilft. Dann wird alles gut.

Was noch aufregt: Der Freispruch.
Was noch aufregt. Die Egomanie.

In einem gebe ich dem Erzähler recht, in der Kritik der Dekolletés. Das war in diesen Kreisen schon sehr aufreizend. Durchaus eine Einladung. Und das ist auch heute noch so. Zu aufreizend ist im Prinzip eine Einladung. Das wissen alle, wollen es aber nicht zugeben. Man kann seine Brüste nicht in den Wind hängen, und dann schimpfen, wenn der Lüsterne zugreift. Das ist unfair.
 

Literaturhexle

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Was mir ganz besonders aufstößt, ist, dass Tolstoi ständig sagt "wie Tiere". Damit beleidigt er diese wunderbaren Geschöpfe. Männer brauchen etwas körpeliche Arbeit. Oder ein Fitnessstudio. Auch Marathon hilft. Dann wird alles gut.
Haha!
Da ist viel Wahres dran. Obwohl es früher auch unglaublich kinderreiche Bauernfamilien gegeben hat. Oder wurden die alle im Winter gezeugt? Unser Protagonist hat auf alle Fälle zuviel leere Zeit.

Tiere haben wenig Über-Ich oder gar keins, dafür viel mehr Intuition und Trieb. Ein Rüde muss auf eine läufige Hündin reagieren. Er kann nicht anders. Allerdings halten sich Tiere im Allgemeinen an fruchtbare Zeiten. Nimm es Tolstoi nicht krumm - wir wissen doch, was er meint.

Von einem Menschenmann erwarte Ich, dass er sich zurückhalten kann, auch wenn die Brüste im Wind hängen. Sowas muss mann aushalten können;)
 

Wandablue

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@Literaturhexle. Schon. Aber man muss auch nicht gar zu sehr provozieren.
Es geht ja nicht um Sex an sich - sondern um Sexsüchtigkeit. Dieser P. der konnte doch an nichts anderes mehr denken. Dem hätte Schwimmen im See und vor allem eine sinnvolle Aufgabe gut getan. Er hat was gearbeitet. Was Verwaltendes. Aber hört sich an, mehr auf freiwilliger Basis und ohne Leidenschaft.Auch um sein Gut haben sich andere Leute gekümmert. Reicher Lümmel mit Lümmel. Seufz. Erstaunlich, dass er seiner Frau treu war. Oder? Immerhin. Er hätte sie vllt auch mal als Mensch sehen können. Sie mochte ihn sogar. Dann und wann. Auch erstaunlich. Das Meiste fand in seiner Einbildung statt. Ein guter Freund hätte es vllt auch getan.
 

Literaturhexle

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Bin da völlig bei dir. Psychopath. Hat sich total in seine Eifersucht reingesteigert und nir noch rot gesehen.

Andererseits hat er doch ein schlechtes Gewissen. Es blitzt durch. Er erzählt hier im Zug ja nur einen Teil seiner Geschichte, die, die eben mit vermeintlicher Untreue und Sex zusammenhängt. Dabei versucht er sich reinzuwaschen. Ein kranker Mann.