Politischer Dialog mit den LeserInnen: In gegenwärtig vorgelegten Romanen kommt es meiner Erfahrung nicht allzu oft vor, dass der Erzähler längere Passagen einbaut, in denen er sich direkt an die LeserInnen wendet. Wir haben dies bei TM aber schon in den ersten Passagen des Romans bemerken können; nun, im 21. Kapitel dieses Buches nimmt er den Dialog mit uns nochmals auf, allerdings nicht, um Höflichkeiten auszutauschen, sondern auf die katastrophale politische Situation in Deutschland während der Niederschrift des Romans hinzuweisen. Diese sei für sein Unterfangen nicht förderlich! Gross ist die Sorge darüber, dass Deutschland die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs nicht überstehen wird: "Wir sind verloren", ruft der Erzähler aus: "Es ist aus mit Deutschland, ein unnennbarer Zusammenbruch, ökonomisch, politisch, moralisch und geistig, kurz allumfassend, zeichnet sich ab." Die Verlagerung des Krieg auf deutschen Boden steht tatsächlich kurz bevor. Doch die Aussagen des Erzählers lesen sich insgesamt sehr ambivalent, was vielleicht auch der Nähe der Entstehung des Romans zu den politischen Ereignissen geschuldet ist. Das Buch entstand ja in der Zeit von 1943 bis 1947. Es verwundert aber schon, dass der Erzähler die Diktatur des Nationalsozialismus mit dem Holocaust und der gnadenlosen Verfolgung der politischen Gegner nicht ins Zentrum seiner Kritik stellt, sondern vielmehr die deutsche Katastrophe, den Untergang Deutschlands, das Scheitern der deutschen Idee und das Versagen der deutschen Gegenoffensive in Russland. Diese Zurückhaltung im Ton mag auch der allgemeinen Zurückhaltung des Erzählers geschuldet sein, die aber im gegenständlichen Fall schon gefährlich nahe an das in der Nachkriegszeit Deutschlands weithin beobachtbare Verharmlosen des Terrors reicht. Aussagen wie: "... um mit desto zäherer Kraft unseren europäischen Lebensraum gegen die westlichen Todfeinde deutscher Ordnung zu verteidigen" oder "...so krampft sich mir das Herz zusammen vor der ungeheuren Investition an Glauben, Begeisterung, historischem Hoch-Affekt, die damals getätigt wurde und nun in einem Bankrott verpuffen soll" und letztlich: "... das Vordringen der Moskowiter in unserer zukünftigen Kornkammer der Ukraine ..." sind aus meiner Sicht unpassend wie peinlich. Nur an wenigen Stellen weist der Erzähler auf die Gewalttätigkeit und Irrationalität des deutschen Staates hin, wenn er etwa von "Hintertreppenmythos", "Schlagetot-Gemeinheit" oder "Rauschlüsternheit" spricht. Die Urteile über diese Zeit fallen bei anderen deutschen AutorInnen dieser Epoche im Allgemeinen entschiedener, härter und politisch radikaler aus. (vgl. etwa Heinrich Mann, Anna Seghers etc.).
Im gleichen Zug nimmt sich die an diese politische Diskussion anschliessende Passage, in der der Erzähler die Gliederungselemente des Buches, nämlich Pünktchen und Paragraphen verteidigt, pedantisch und nahezu hohnlachend an. Ich muss gestehen, ich bin ob des Kapitels ein wenig ratlos. Vielleicht findet sich in dem Mann'schen Text über die Entstehungsgeschichte des Romans Hinweise oder Erklärungen zu dieser eigenartigen Positionierung des Erzählers.
Fleischeslust und Triebverleugnung: Die Schwester ALs heiratet 1910 (Kapitel 22), was für den Erzähler Anlass genug ist, das Thema der Fleischeslust wieder im bekannten Ton aufzunehmen. Beim sexuellen Verlangen handle es sich angeblich um den Ausdruck des "Naturbösen", welches durch die christliche Ehe domestiziert werde. Und Sinnlichkeit und Liebe seien auf keine Weise zu trennen. Den vielleicht von Mitgliedern dieses Forums vorgebrachten Hinweis, man müsse derartige Aussagen auf der Folie der damaligen Zeit lesen, kann ich nur schwer akzeptieren. Wohl war das Bürgertum dieser Zeit von Triebverdrängung UND Leugnung der Allgemeinen Frauenrechte geprägt, aber immerhin gab es ja auch S. Freuds Psychoanalyse, die Frauenbewegung und die aufstrebende Sozialdemokratie. Das Frauenwahlrecht etwa bestand in Deutschland und Österreich schon seit Ende des 1. Weltkriegs. Sagen wir es deutlicher: die Diskussion von AL und SZ ist sicherlich nicht auf der intellektuellen Höhe ihrer Zeit, sondern bewegt sich eindeutig in jenen konservativen Bahnen, wie sich für den männlichen Teil des Mainstreams des Bürgertums im bereits vergangenen 19. Jahrhundert typisch war. Dass hier Hochgebildete (und sich zur intellektuellen Avantgarde Zählende) derart banal (und falsch) über das Triebverhalten von Menschen diskutieren, hat mich nicht nur erstaunt, sondern eigentlich auch erschrocken. Immer wieder fällt mir bei der Lektüre dieses Kapitels Klaus Theweleits Buch "Männerphantasien" ein, das ja gerade die Sexualverdrängung und Frauenfeindlichkeit in der Zeit des Nationalsozialismus analysiert und zur Beschreibung des psychologischen Apparates des faschistischen Mannes erhellend beigetragen hat. Thomas Mann, man möge mir verzeihen, hat in diesem Kapitel ein schon fast reaktionäres Stück Text geliefert, voll von Borniertheiten und falschen sozialen/soziologischen Einschätzungen zur Sexualität des Menschen. Ich vermute, das wird sich im Laufe des Romans fortsetzen.