4. Leseabschnitt: Kapitel XX bis XXIII (S. 231 bis 307)

tinderness

Aktives Mitglied
25. November 2021
161
394
34
Wien und Wil
mostindien.org
Politischer Dialog mit den LeserInnen: In gegenwärtig vorgelegten Romanen kommt es meiner Erfahrung nicht allzu oft vor, dass der Erzähler längere Passagen einbaut, in denen er sich direkt an die LeserInnen wendet. Wir haben dies bei TM aber schon in den ersten Passagen des Romans bemerken können; nun, im 21. Kapitel dieses Buches nimmt er den Dialog mit uns nochmals auf, allerdings nicht, um Höflichkeiten auszutauschen, sondern auf die katastrophale politische Situation in Deutschland während der Niederschrift des Romans hinzuweisen. Diese sei für sein Unterfangen nicht förderlich! Gross ist die Sorge darüber, dass Deutschland die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs nicht überstehen wird: "Wir sind verloren", ruft der Erzähler aus: "Es ist aus mit Deutschland, ein unnennbarer Zusammenbruch, ökonomisch, politisch, moralisch und geistig, kurz allumfassend, zeichnet sich ab." Die Verlagerung des Krieg auf deutschen Boden steht tatsächlich kurz bevor. Doch die Aussagen des Erzählers lesen sich insgesamt sehr ambivalent, was vielleicht auch der Nähe der Entstehung des Romans zu den politischen Ereignissen geschuldet ist. Das Buch entstand ja in der Zeit von 1943 bis 1947. Es verwundert aber schon, dass der Erzähler die Diktatur des Nationalsozialismus mit dem Holocaust und der gnadenlosen Verfolgung der politischen Gegner nicht ins Zentrum seiner Kritik stellt, sondern vielmehr die deutsche Katastrophe, den Untergang Deutschlands, das Scheitern der deutschen Idee und das Versagen der deutschen Gegenoffensive in Russland. Diese Zurückhaltung im Ton mag auch der allgemeinen Zurückhaltung des Erzählers geschuldet sein, die aber im gegenständlichen Fall schon gefährlich nahe an das in der Nachkriegszeit Deutschlands weithin beobachtbare Verharmlosen des Terrors reicht. Aussagen wie: "... um mit desto zäherer Kraft unseren europäischen Lebensraum gegen die westlichen Todfeinde deutscher Ordnung zu verteidigen" oder "...so krampft sich mir das Herz zusammen vor der ungeheuren Investition an Glauben, Begeisterung, historischem Hoch-Affekt, die damals getätigt wurde und nun in einem Bankrott verpuffen soll" und letztlich: "... das Vordringen der Moskowiter in unserer zukünftigen Kornkammer der Ukraine ..." sind aus meiner Sicht unpassend wie peinlich. Nur an wenigen Stellen weist der Erzähler auf die Gewalttätigkeit und Irrationalität des deutschen Staates hin, wenn er etwa von "Hintertreppenmythos", "Schlagetot-Gemeinheit" oder "Rauschlüsternheit" spricht. Die Urteile über diese Zeit fallen bei anderen deutschen AutorInnen dieser Epoche im Allgemeinen entschiedener, härter und politisch radikaler aus. (vgl. etwa Heinrich Mann, Anna Seghers etc.).

Im gleichen Zug nimmt sich die an diese politische Diskussion anschliessende Passage, in der der Erzähler die Gliederungselemente des Buches, nämlich Pünktchen und Paragraphen verteidigt, pedantisch und nahezu hohnlachend an. Ich muss gestehen, ich bin ob des Kapitels ein wenig ratlos. Vielleicht findet sich in dem Mann'schen Text über die Entstehungsgeschichte des Romans Hinweise oder Erklärungen zu dieser eigenartigen Positionierung des Erzählers.

Fleischeslust und Triebverleugnung: Die Schwester ALs heiratet 1910 (Kapitel 22), was für den Erzähler Anlass genug ist, das Thema der Fleischeslust wieder im bekannten Ton aufzunehmen. Beim sexuellen Verlangen handle es sich angeblich um den Ausdruck des "Naturbösen", welches durch die christliche Ehe domestiziert werde. Und Sinnlichkeit und Liebe seien auf keine Weise zu trennen. Den vielleicht von Mitgliedern dieses Forums vorgebrachten Hinweis, man müsse derartige Aussagen auf der Folie der damaligen Zeit lesen, kann ich nur schwer akzeptieren. Wohl war das Bürgertum dieser Zeit von Triebverdrängung UND Leugnung der Allgemeinen Frauenrechte geprägt, aber immerhin gab es ja auch S. Freuds Psychoanalyse, die Frauenbewegung und die aufstrebende Sozialdemokratie. Das Frauenwahlrecht etwa bestand in Deutschland und Österreich schon seit Ende des 1. Weltkriegs. Sagen wir es deutlicher: die Diskussion von AL und SZ ist sicherlich nicht auf der intellektuellen Höhe ihrer Zeit, sondern bewegt sich eindeutig in jenen konservativen Bahnen, wie sich für den männlichen Teil des Mainstreams des Bürgertums im bereits vergangenen 19. Jahrhundert typisch war. Dass hier Hochgebildete (und sich zur intellektuellen Avantgarde Zählende) derart banal (und falsch) über das Triebverhalten von Menschen diskutieren, hat mich nicht nur erstaunt, sondern eigentlich auch erschrocken. Immer wieder fällt mir bei der Lektüre dieses Kapitels Klaus Theweleits Buch "Männerphantasien" ein, das ja gerade die Sexualverdrängung und Frauenfeindlichkeit in der Zeit des Nationalsozialismus analysiert und zur Beschreibung des psychologischen Apparates des faschistischen Mannes erhellend beigetragen hat. Thomas Mann, man möge mir verzeihen, hat in diesem Kapitel ein schon fast reaktionäres Stück Text geliefert, voll von Borniertheiten und falschen sozialen/soziologischen Einschätzungen zur Sexualität des Menschen. Ich vermute, das wird sich im Laufe des Romans fortsetzen.
 
  • Like
Reaktionen: Emswashed

tinderness

Aktives Mitglied
25. November 2021
161
394
34
Wien und Wil
mostindien.org
München: Bestimmend für die Zeit unmittelbar nach Abschluss seines Studiums ist ALs Umzug nach München, wo er sich für einige Zeit bei Frau Senator Rodde mit ihren Töchtern Ines und Clarissa einmietet und auf ihren "Gesellschaften" (i.e. der Rodde'sche Salon) mit zahlreichen Künstlerinnen und Intellektuellen in Kontakt kommt (Kapitel 23). Dort lernt er auch den Geiger Rudolf Schwerdfeger und den Übersetzer Rüdiger Schildknapp (RS) kennen. Fast könnte aus diesem Lebensabschnitt so etwas wie ein deutsches Boheme-Leben werden, denn München wird als eine zu diesem Zeitpunkt sehr umtriebige und inspirierende Stadt dargestellt. Allerdings: AL ist und bleibt in seiner selbstgewählten Isolation verhaftet, er ist ein Suchender und flieht, bis auf seine Freundschaft zu RS die Geselligkeit der umtriebigen Kreise, in denen er sich paradoxerweise nun doch bewegt. Anlässlich eines Ausfluges in die Nähere Umgebung Münchens stellt AL fest, dass er wohl die Einsamkeit suche, um in ihr seine weitere Entwicklung zu befördern. Dort will er sich "vor der Welt vergraben". SZ beunruhigt diese Aussage, die er brieflich erhält: sieht er doch darin ein böses Omen. Der persönliche Einfluss des Erzählers auf seinen Freund ist schon lange im Schwinden begriffen. Andere Begleiter bzw. "Lebensgefährten" werden für ihn im Laufe der Zeit viel prägender.
 
  • Like
Reaktionen: Emswashed

Emswashed

Bekanntes Mitglied
9. Mai 2020
2.674
9.513
49
Es verwundert aber schon, dass der Erzähler die Diktatur des Nationalsozialismus mit dem Holocaust und der gnadenlosen Verfolgung der politischen Gegner nicht ins Zentrum seiner Kritik stellt, sondern vielmehr die deutsche Katastrophe, den Untergang Deutschlands, das Scheitern der deutschen Idee und das Versagen der deutschen Gegenoffensive in Russland.

Nun, zunächst einmal hat mich dieses Kapitel unvermittelt aus meiner Lullaby-Zone geholt und im Verlauf des Lesens desselben musste ich mir immer wieder klarmachen, dass TM das Buch in den USA niederschrieb und er eigentlich moralisch auf der Seite der Alliierten hätte sein müssen.
Aber @Die Häsin erwähnte im vorangegangenen LA, dass TM die Gratwanderung versuchte, einen Bestseller für Deutschland zu produzieren.... nun denn...
Beim sexuellen Verlangen handle es sich angeblich um den Ausdruck des "Naturbösen", welches durch die christliche Ehe domestiziert werde.

Die Sünde wird durch die Heirat dem Teufel "weggepascht" (ein Spiel?) und "die christliche Ehe ist ein Notbehelf" (also nur ein Provisorium?). Das ist schon recht harter Tobak.
Thomas Mann, man möge mir verzeihen, hat in diesem Kapitel ein schon fast reaktionäres Stück Text geliefert, voll von Borniertheiten und falschen sozialen/soziologischen Einschätzungen zur Sexualität des Menschen.
Ich hätte es nicht so treffend ausdrücken können, aber es ist geanu das, was mir bei TM auf den Magen schlägt.

denn München wird als eine zu diesem Zeitpunkt sehr umtriebige und inspirierende Stadt dargestellt.
Vielleicht im Gegensatz zur Schweiz (obwohl TM diese ja als "europäischer" einstuft). Ich las eher Kritik aus der Beschreibung Münchens. "... dieser perspektiven schönen Hauptstadt, deren politische Problematik sich auf den launigen Gegensatz zwischen halb separatistischen Volkkatholizismus und einem lebfrischen Liberalismus reichsfrommer Observanz beschränkte,..."
Wenig später im Text wird auch das Oktoberfest zur, vom, modernen Massenbetrieb korrumpierten, Monstre-Kirmes herabgestuft.

In diesem LA ist es wohl Schildknapp (wieder ein sehr bildlich inspirierender Name) den ich mir merken sollte, und hoffentlich nicht zum Sancho Panza mutiert.