4. Leseabschnitt: Kapitel 79 bis 106 (Seite 274 bis Ende)

GAIA

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27. Dezember 2021
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Der letzte Leseabschnitt gefällt mir sehr gut. Das liegt an den Querverweisen auf der Metaebene aber auch an der Darstellung der geitigen Verfassung von Louis.
Zum einen war ja vorherzusehen, dass die vom Lehrer im Waisenhaus erzählte Geschichte um den Königssohn, die später noch einmal auftaucht, als Louis sie seinen Kindern erzählt, mit ihm selbst zusammenhängt. Er scheint wirklich der Sohn vom König von Frankreich gewesen zu sein. Das ist also innerhalb des Buches keine Wahnvorstellung. Trotzdem kommt er aufgrund dessen in die Psychiatrie und wird aufgrund seiner "Monomanie" behandelt. Was sich ab dem Moment zeigt, wo er das Pferd des Professors klaut: Er hat trotzdem einen Wahn, nämlich den, seinen Vater unbedingt treffen zu wollen. Ob nun persönlich von Mann zu Mann oder unpersönlich mithilfe einer Kugel. Die Tatsache, dass er das Wohl seiner Familie, zu der er es nicht zurückschafft, über das des eigenen Zwangs stellt, den König treffen zu wollen, zeigt den Wahn an der Sache. Als Leserin fieberte ich an jedem Punkt mit, dass er nun endlich zu seiner Familie zurückkomme. Aber das treibt Louis nur nebenbei um. Toll gemacht!
Und das Ende hat mir besonders gut gefallen. Wie das letzte Kapitel an das erste anschließt und das erste an das letzte. Natürlich habe ich gleich noch einmal das erste Kapitel gelesen. (Wer macht das nicht an dieser Stelle?) Und mir gefällt der Kniff sehr, dass die letzten vier Zeilen, die ersten vier Zeilen sind. Dass sich die beiden Totengräber für den Toten zwar die richtigen Lebensumstände ausgedacht haben, aber für eine ganze Lebensgeschichte keine Zeit war. Das hat dann Lewinsky für sie übernommen. Und noch einmal: Toll gemacht!
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Auch mir hat der letzte Abschnitt insgesamt gut gefallen, ich hadere aber etwas mit der Prämisse.

Ich kann verstehen, dass Louis auf der Suche nach seinem Vater die Reise nach Paris antritt und ihn kontaktieren will. Aber dass er einen solch großen Fanatismus mit sich bringt und dafür sein erstmaliges echtes Glück aufs Spiel setzt, konnte ich nicht ganz nachvollziehen. Ich habe mich geärgert. Über Louis, nicht über den Roman.

Gelungen fand ich die erneuten Bezüge zur Aktualität. Quarantäne, Reisebeschränkungen - das sollte uns allen recht bekannt vorkommen. Ob Charles Lewinsky vielleicht auch deshalb einen Roman geschrieben hat, in der die Cholera ein Thema ist? Wohl ja.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Aber dass er einen solch großen Fanatismus mit sich bringt und dafür sein erstmaliges echtes Glück aufs Spiel setzt, konnte ich nicht ganz nachvollziehen. Ich habe mich geärgert. Über Louis, nicht über den Roman.
Ich hab dazu die Hypothese, dass er eben wahnhaft in diese Idee seinen Vater zu treffen sich verbeißt, auch wenn die Tatsache, dass sein Vater der König ist, kein Wahn ist. Im Wahn vergessen die Betroffenen ihre Liebsten und folgen nur noch diesem einen Ziel. Geärgert habe ich mich trotzdem über Louis. Besonders an dem Punkt, an dem er als geheilt hätte die Klinik verlassen können. Wer hätte da nicht gedacht: „Endlich zurück zur Familie“. Aber nein, der Kerl versaut alles und reitet schon wieder nach Paris...
Mir hat gefallen, wie Lewinsky in mir diese starken Emotionen gegenüber dem Handeln des Protagonisten auslösen konnte.
 

Literaturhexle

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Er hat trotzdem einen Wahn, nämlich den, seinen Vater unbedingt treffen zu wollen.
Und den Wahn kann ich ihm vor dem Hintergrund, dass er seine Mutter nur ein einziges Mal im Heim besicht hat, schwer abnehmen. Die Frau hatte ihn als Baby offensichtlich geliebt. Warum lässt er sie links liegen und rennt seinem Königsvater so abgöttisch hinterher? Das will mir zur Figur nicht recht passen. Der bedachte Louis, der viel Elend gesehen und erlebt hat, der den Armen hilft, bringt sich dermaßen in Gefahr, bringt vor allem seine Frau und seine Kinder der Armut eindeutig Halbwaisentum etwas näher?! Nein. Das passt nicht.
Man kann es nur so erklären, dass die Geisteskrankheit seiner Mutter vererbt wurde:confused:

Später mehr
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Mir hat auch der letzte Abschnitt wieder sehr gut gefallen.
Die Beschreibung der Zeitumstände, die grassierende Seuche und dazwischen immer wieder Louis.
Louis, dessen Vatersuche zu einer fixen Idee geworden sind. Im Grunde weiß er, wer sein Vater ist. Aber er will dessen Anerkennung. Da scheint er noch ziemlich naiv an das alte Märchen zu glauben.
Erst nach dem abschlägigen Brief versucht er sich zu emanzipieren. „ Louis war kein Kind mehr. Er war Louis Chabos. Der Mann von Seraina. Der Vater von Laurin und Mia. Er brauchte diesen König nicht.“
Aber zu dieser Erkenntnis brauchte es die große Enttäuschung und Wut.
“ Die Suche nach dem Vater war eine Krankheit gewesen. Er war geheilt.“
Doch leider ist es zu spät für diese Erkenntnis. Louis hat sein ganzes Glück aufs Spiel gesetzt, weil ihm ein Märchen wichtiger war als die Wirklichkeit.
Ja, darüber können wir uns als Leser nur ärgern. Allerdings gibt es das nicht selten. Das Glück, dessen man sich oftmals garnicht so bewusst ist, ist nebensächlich, weil man einer fixen Idee nachrennt. ( Anerkennung, Karriere oder andere Äußerlichkeiten)
“ Der Mensch ist dumm. Wenn es ihm gut geht, meint er, es müsse ihm noch besser gehen.“
Eine Kalenderweisheit, die dadurch nicht verkehrt wird.

Ein weiteres Zitat zum An-die-Wand-hängen:
„Ich habe nur getan, was jeder getan hätte.“…. „Wenn alle Leute täten, was alle Leute tun müssten, dann wäre die Welt weniger beschissen.“

Mit dem letzten Kapitel schließt sich der Kreis. Schön gemacht!
 

RuLeka

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Louis hatte trotz seines schweren Schicksals immer Glück. Vielleicht setzte er desh reale Hoffnungen auf eine Begegnung mit seinem Vater.
Ich glaube nicht, dass er seine Mutter „ links liegen gelassen hat“. Er spürte, dass er keinen Ausgang zu ihr finden würde, da sie zu sehr in der Vergangenheit gelebt hat. Sich zu erkennen geben hätte sie nur in noch größere Verwirrung gestürzt.
Und damals war die Einstellung zu psychisch Kranken eine andere als heute. Hilfe erhoffte man sich da wohl eher von der Medizin.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Nein. Das passt nicht.
Ohne jetzt noch einmal auszuholen, kann ich mich beiden Beiträgen von @RuLeka anschließen und finde schon, dass es eine realistische Möglichkeit ist, wie Louis mit der Identität des Vaters umgeht.
Gerade das Leid, was er selbst schon als Waise erleben musste, kann diese Idee von ihm, dem Märchen nachzulaufen, was er von seinem Lieblingslehrer im Waisenhaus gehört hat, so verschärft haben, dass er selbst seine Familie im Stich lässt.
 

Emswashed

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Der Kreis schließt sich. Die Geschichte beginnt auf dem Friedhof und endet auch dort. Und Louis verfällt der Manie, unbedingt seinen Vater treffen zu müssen, sowie seine Mutter über den Verlust ihres Kindes irre geworden ist.
Louis rennt in sein Verderben.

Er hätte den König von seinem Wein überzeugen können, hat er nicht. Er hätte es nach der abschlägigen Antwort gut sein lassen können und mit seiner Familie glücklich werden können, hat er nicht.

Die Geschichtenerzähler in Lewinskys Büchern sind ein wiederkehrendes Element.
 

Literaturhexle

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Aber dass er einen solch großen Fanatismus mit sich bringt
Genau das kann ich auch schwer glauben. Es ist eben eine Geschichte;)

Gelungen fand ich die erneuten Bezüge zur Aktualität. Quarantäne, Reisebeschränkungen - das sollte uns allen recht bekannt vorkommen.
Diesen Twist empfinde ich auch als äußerst gekonnt. Es wirkt vollkommen natürlich und trotzdem klingeln bei uns die Glocken.
 

otegami

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Sorry, aber ich erkenne keinen 'Fanatismus' bei Louis!
Ich empfinde es als normal, herauszufinden, wo die eigenen Wurzeln sind! Und diese Wurzeln auch 'kennenzulernen', dem Erzeuger auch gegenüber zu stehen! (Geweckt wurde das Interesse ja auch erst akut, als die Tochter den Artikel über den Kaiser las.)
Gewendet hat sich für mich sein Schicksal, als der Postverkehr eingestellt wurde! Danach ging's nur noch bergab: Frustsaufen -> Geld und alles weg .............. und dann wurde es heftig! :sad
Gut beschrieben fand ich auch seine Selbstvorwürfe, nur: danach ist man immer schlauer!
Und er denkt auch an Seraina! Aber er verbietet es sich: "Ich darf nicht an Seraina denken. Noch nicht. Sonst kann ich nicht tun, was ich muss."
Was mir auch durch den Kopf ging: dass in der heutigen Zeit mit Handy, Telefon usw. es unvorstellbar ist, wie es damals war, dass die Depesche an sie länger gebraucht hätte, als er selbst gebraucht hätte.
(Heutzutage würden wir eine WA-Nachricht absetzen und gut wär's! ;) )
 

Barbara62

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Baden-Württemberg
mit-büchern-um-die-welt.de
Ich kann verstehen, dass Louis auf der Suche nach seinem Vater die Reise nach Paris antritt und ihn kontaktieren will. Aber dass er einen solch großen Fanatismus mit sich bringt und dafür sein erstmaliges echtes Glück aufs Spiel setzt, konnte ich nicht ganz nachvollziehen. Ich habe mich geärgert. Über Louis, nicht über den Roman.
"Du hast immer wieder Glück gehabt. Sehr viel Glück ... Und du? Hast alles weggeschmissen. Aufs Spiel gesetzt. Weil du Anerkennung von einem Mann wolltest, dem du nie begegnet bist. Weil dir ein Märchen wichtiger gewesen ist als die Wirklichkeit. Weil du ein Idiot bist, Louis. Einer, der kein Glück verdient." (S. 313)

Er weiß es!

Und wenn man seinen Vater nicht persönlich treffen kann, ihn dann wenigstens mit einer Kugel „treffen“ will?! Nicht ein bisschen fanatisch? :rolleyes: ;)
Die Freude über den Vater schlägt in Wut und blanken Hass um, gespeist aus Enttäuschung über die (erneute) Zurückweisung. Es ist, als würde er ein zweites Mal verstoßen und ins Waisenhaus abgeschoben. Ich habe kein Glaubwürdigkeitsproblem.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Die Freude über den Vater schlägt in Wut und blanken Hass um, gespeist aus Enttäuschung über die (erneute) Zurückweisung. Es ist, als würde er ein zweites Mal verstoßen und ins Waisenhaus abgeschoben. Ich habe kein Glaubwürdigkeitsproblem.
Ich auch nicht! Es ging mir darum, dass @otegami keinen Fanatismus in Louis Handeln sah und wollte darauf provokant reagieren. Denn es gibt sehr viele Menschen auf der Welt, die von ihren Eltern zurückgelassen werden, diese versuchen aufzuspüren und enttäuscht werden, deshalb aber nicht zu einem Mörder (Louis wäre es geworden, hätte ih nicht vorher die Cholera in seinen Zielfähigkeiten beeinträchtigt) werden. Also: Ich habe mit Louis überhaupt kein Glaubwürdigkeitsproblem, finde aber trotzdem sein Handeln außerhalb der normativen Reaktionen bei Menschen in seiner Situation. Deshalb ja der Wahn.