Die
Wiederbegegnung zwischen Roland und Alissa kam mir fast surreal vor, weil beide so ruhig bleiben. Ganz ehrlich, ich hätte es Roland nicht verübeln können, wenn er laut geworden wäre, immerhin hat sie ihn ohne Vorwarnung mit einem sehr kleinen Kind allein gelassen. Und wie wir in diesem Abschnitt lernen, hat sie auch das Kindergeld eingestrichen und für ihren Lebensunterhalt genutzt! Sie sagt, sie liebt Lawrence, aber sie hat ihm Geld vorenthalten, das für Lebensmittel, Kleidung, Schulmaterialien, Ausflüge, Hobbies etc hätte verwendet werden können. So sehr ich Alissa auch dafür verstehen kann, dass sie nicht das Leben ihrer Mutter wiederholen und ihren Lebenstraum verwirklichen wollte, das kommt mir doch extrem selbstsüchtig vor. Und hätte sie Lawrence nicht wenigstens schreiben können? Oder Geburtstagsgeschenke schicken? Ich habe den Eindruck, Lawrence existiert für sie nur noch als abstraktes Konzept aus ihrer Vergangenheit, nicht als lebendiges Kind.
Zu
Miriam kann ich nur noch sagen: Die Frau ist offensichtlich psychisch krank und hätte schon lange Therapie gebraucht. Ihr Verhalten in diesem Abschnitt kann nicht normal genannt werden, egal, aus welcher Perspektive ich es betrachte. Vieles davon zeugt von einem manischen Kontrollzwang, und anderes davon, dass sie versucht, Roland zu infantilisieren. Zum Zeitpunkt der Schlafanzugsära ist er 15, und wenn sie pädophil veranlagt ist (wovon ich ausgehe), dann muss sie langsam realisieren, dass die körperliche Anziehung ihrerseits nachlässt. Aber da sie von ihm ja geradezu besessen ist, versucht sie wohl, dagegen anzukämpfen, indem sie ihn wieder zum kleinen Kind macht.
Ehrlich gesagt habe ich eher damit gerechnet, dass diese "Beziehung" endet, weil Miriam sich ein jüngeres Opfer sucht. Ich habe ja geschäumt, wie aus ihrem Worten deutlich hervorgeht, dass sie die Schuld an allem auf Roland abwälzt. Der ein KIND WAR. Argh. Ja, ER kam mit 14 zu ihr, aber SIE hat das initiiert, SIE hat ihn vorher schon begrabscht und geküsst. Roland konnte in dem Alter noch gar nicht wissen, auf was er sich da einlässt.
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In diesem Abschnitt geht es wieder viel um nicht ergriffene Chancen und gescheiterte Träume, aber zunehmend auch um das Altern und den Verlust geistiger und körperlicher Kompetenzen. Hat nicht jeder Angst davor, im Alter Verletzungen der eigenen Würde und Selbstbestimmung zu erfahren?
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Zum Thema
"Rückkehr zur Schule":
Ich glaube, die einzige Möglichkeit, sein Leben wirklich wieder in richtige Bahnen zu lenken, wäre gewesen, Miriam bei der Schule anzuzeigen. Solange sie immer noch dort unterrichtete, hätte Roland sich niemals von ihr befreien und dennoch weiter zur Schule gehen können. Aber das wäre ein enormer Schritt gewesen, für ihn wahrscheinlich mit viel Scham verbunden. Außerdem hätte die Gefahr bestanden, dass ihn niemand ernst nimmt. Heute sieht man das differenzierter, dass ein Junge eben auch von einer Frau sexuell genötigt werden kann, aber damals haben sicher viele Menschen noch gedacht: Was hat er denn, das war für einen gesunden jungen Burschen doch das Paradies?
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Zum Thema
"freier Wille / Entscheidungsfreiheit":
Ich glaube, wir werden deutlich von unserer Vergangenheit und vor allem dem familiären Konstrukt, in dem wie aufgewachsen sind, geprägt. Dennoch steht es uns mehr oder weniger frei, wie wir uns innerhalb dieses Rahmens bewegen. Spiegele ich die Ansichten meiner Eltern, oder bewege ich mich im Gegenteil als Auflehnung in die entgegengesetzte Richtung?
Unser Leben führt uns zwar einen bestimmten Weg entlang, aber wir kommen immer wieder an Wegscheiden, wo wir wenigstens ein Stück weit die Richtung beeinflussen könnten, wenn wir wollten. Und je nachdem, wie wir uns entscheiden, vergrößert oder verringert sich unser Entscheidungsradius, aber die meisten Menschen sind niemals wirklich
hundertprozentig ohne Handlungsmacht.
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Voller Spannung verfolge ich den Lebensweg dieser Figuren, jede davon ist interessant, vielschichtig und authentisch. Und dazu die ganzen Themen, die Mc Ewan aufgreift, die gesellschaftliche Entwicklung, aber auch ganz allgemein gültige Fragen.
Das unterschreibe ich sofort!
Es wäre ein Leichtes gewesen für Roland, Alisa vor seinem Sohn in einem schlechten Licht dastehen zu lassen. Aber das tut er nicht, im Gegenteil!
Das habe ich ihm auch hoch angerechnet. Ich finde ganz furchtbar, wenn geschiedene Eltern ihre Kinder gegen den jeweils anderen aufhetzen.
Ich mag ihn auch. Ich wollte zwar nicht mit ihm zusammenleben, aber er hat trotz seiner Defizite etwas zutiefst Menschliches und er versucht, sein Bestes zu geben.
Er ist kein selbstbewusster Macho, sondern einer, der grübelt, sich selbst reflektiert.
Auch da kann ich nur sagen: sehe ich genauso.
Ich bin ja gespannt, ob wir mitbekommen, wie sich der Neuversuch zwischen Daphne und Peter entwickelt! Haben sie aus ihrem alten Scheitern was gelernt?
Oje, da sehe ich ziemlich schwarz. Wenn Peter Daphne wirklich geschlagen hat, dann kann es meines Erachtens niemals eine Beziehung geben, in der er sie als gleichwertige Partnerin schätzt und entsprechend behandelt.
Herrlich auch die Szene mit dem Dudelsackspieler auf der Beerdigung!
Ja, da habe ich auch laut lachen müssen. Ich kann mir das so gut vorstellen, wie die Dudelsackklänge immer mehr im Nebel verklingen, während sich die Beerdigungsgäste erst betreten anschauen und dann losprusten.
Inzwischen bald fünfzig Jahre alt und ich beginne mich zu fragen, ob es ihm noch gelingen wird zu erkennen, war er für sich selbst noch erwartet und an der Umsetzung zu arbeiten. Oder wird am Ende der Tage seine Rolle als Vater das Beste sein, das er erreicht hat - wobei das nicht nichts ist!
Ich glaube, solange Roland Miriam nicht damit konfrontiert, was sie getan hat und wie das die Weichen für sein Leben gestellt hat, wird er nie ausbrechen können aus seinen Bahnen.