blättert auf S. 298 um und spürt plötzlich, dass man sich doch in einem Roman befand. Zumindest habe ich es so interpretiert. Andere Interpretationen sind sicherlich auch denkbar.
Ich habe es so gelesen, dass es eindeutig ein Roman deswegen ist, weil Sorj Chalandon zwei zeitlich weit auseinanderliegende Ereignisse "verdichtet" und damit einen Roman "erdichtet", statt ein Sachbuch zu schreiben, welches eben den Anspruch auf authentische/faktentreue Darstellung hätte. Den Gerichtsprozess gab es, die Auseinandersetzungen mit dem Vater wird es gegeben haben, nur das tatsächliche Protokoll zum Tatbestand bezogen auf den Vater wurde dem Autor erst 2020 zugänglich. Er schiebt diese Ereignisse in den Sommer 1987 und schafft damit ein absolutes Kunststück.Eltern des Erzählers (ich sag jetzt nicht mehr Sorj)
Wobei es hier ja noch um den 14jährigen Vater geht. Aber doch, schon zu dieser Zeit nutzt er die Postkarte aus den USA, um eine Geschichte zu erfinden. Also Talent zum Lügen erfinden scheint er schon immer gehabt zu haben.Auf S. 243 zB wieder: "ohne viel Talent".
Diese Zärtlichkeit hat mich überrascht, aber es war auch gut zu lesen, dass der Junge nicht nur mit einem cholerischen, lügenden Egozentriker aufgewachsen ist. Irgendwoher musste ja auch das Bedürfnis des Sohnes kommen, den Kontakt zum Vater zu halten, ihn zu verstehen und nicht einfach nur über ihn zu richten.Auf S.295 habe ich zum allerersten Mal vielleicht eine gewisse Zärtlichkeit zwischen Jean und dem Erzähler herausgelesen. Spät, aber immerhin. Sei's drum.
Das hat mir auch sehr gut gefallen. Sozusagen zwei verschiedene Aspekte eigentlich ein und derselben Sache.Was mir insgesamt auch zur Konstruktion aufgefallen ist, ist die Wandlung des Begriffs Verräter. Erst geht es um den Vater, der ein Verräter gewesen sein soll (oder war), dann um den Sohn, der sich als Verräter fühlt, weil er dem Vater hinterherspioniert. Und auf Seite 264 unten: "Aber es war mein Vater. Diemal ohne geballt Fäuste,..., ohne Krieg zum Erzählen. Ohne Sohn zum Verblüffen. Ohne ein Kind zum Verraten. Nie mehr."
Wie sich das durch den Roman zieht, klasse!
Und trotz des Zorns hat der Sohn immer wieder versucht quasi dem Vater die Hand zu reichen, ihm Chancen zu geben, endlich seine Wahrheit zu erzählen. Denn selbst zum Schluss scheint eine Art kindliche Bewunderung für seinen Vater durch, dem der Sohn geglaubt hat, dass er einen See durchschwimmen kann und deshalb auch das Eintauchen in den Fluss überleben würde. Zusammen mit der sehr zärtlichen, liebevollen Erinnerung an die Ausflüge und Spielen im Wasser in seiner Kindheit zeigt dies, dass der Zorn nur existieren kann, weil der Sohn immer noch genügend Liebe für den Vater aufbringt - trotz dessen Lügen.auch dem Zorn, der sich auf Sorj übertragen hat
Ich glaube auch, dass dies die zentralen Elemente des Romans sind: das mangelnde Vertrauen und die Wahrheit. Letztlich sind auch sie es, die aus dem Erzähler ein "Verräterkind" machen.Es scheint ihm bei seiner Enttäuschung aber gar nicht in erster Linie um die Geschichte des Vaters als solche zu gehen, die interessiert ihn mehr als Journalist denn als Sohn, sondern um das mangelnde Vertrauen des Vaters, der sie ihm nicht erzählt.
Ich hatte lange befürchtet, dass es zu dieser Szene nie kommen wird, und der Vater seine Taten mit ins Grab nimmt. Für den Sohn wäre dies schrecklich gewesenIch finde es bedrückend, wie Vater Chalandon nicht nur das Leben seines Sohns, sondern auch dessen Wirken dominiert hat. Dieser Roman war ein Befreiungsschlag, ein Abschließen mit dem Verfahren, den Lügen - auch dem Zorn, der sich auf Sorj übertragen hat. Nur so kann man das Ende interpretieren.
Das er an diese Unterlagen kommen konnte, ist wirklich etwas, dass zum nachdenken anregt. Wie du schon schreibst, gibt es Gründe warum sie viele Jahre verwahrt werden, ohne das sie eingesehen werden können. Doch für die Geschichte brauchte der Sohn halt Beweise. Das kann ich wiederum gut nachvollziehen. Ich persönlich konfrontiere andere auch nur, wenn ich mir sicher bin, dass meine Vorwürfe wirklich Hand und Fuß haben.Eine Frage wurde bei mir im Laufe der Lektüre immer dringender: Schulden die Eltern uns wirklich Rechenschaft über ihr Leben? Sind persönliche Unterlagen in Archiven nicht zu recht für eine gewisse Zeit gesperrt? Der Ich-Erzähler ist Journalist und daran gewöhnt, zu recherchieren. Umso schwerer fällt es ihm, zu akzeptieren, dass er sich nicht im Lügendschungel des Vaters zurechtfindet und dessen Lebenslauf nicht lückenlos rekonstruieren kann.
Nein, tun sie nicht. Jeder hat das Recht auf Geheimnisse. Allerdings hat dieser Vater ja nicht geschwiegen, sondern gelogen. Er hat seine Fehler zu Heldentaten werden lassen. Zum Schluss hat er selbst dran geglaubt, das ist das Tragische. Er starb im psychiatrischen Krankenhaus. Das darf man nicht vergessen.Schulden die Eltern uns wirklich Rechenschaft über ihr Leben?
Genau. Der Sohn winselt um Vertrauen, um Liebe, Akzeptanz. Das in Endlosschleife war mir zuviel, das muss ich zugeben. Immer wieder die väterlichen Biografie, immer wieder die Konfrontation mit dem Haudegen, die blutigen Nasen...sondern um das mangelnde Vertrauen des Vaters, der sie ihm nicht erzählt.
Da bin ich ganz bei dir!Großartig sind die Teile um den Barbie-Prozess, das hätte man nicht eindrucksvoller schreiben können.
mir kommt das Ganze vor wie ein Stellvertreterkrieg. Eigentlich will der Sohn das Vertrauen seines Vaters, ein gutes Gespräch, Verständnis.dass er seinem Vater sogar alles hätte verzeihen können, hinter ihm gestanden hätte, hätte dieser nur die Wahrheit gesagt.
Der Moment ist schon seit Tagen vorbei. Eine Leserunde lebt vom gemeinsamen Austauschentgangen...Ich bin zu aufgewühlt, um für den Moment hier mehr zu schreiben.
Der Sohn redet zwar immer sehr verständnisvoll oder beruhigend mit der Mutter, aber so wie sie dargestellt wird, entblößt er sie in ihrer Naivität oder Dummheit. Diese Bemerkung über das Bild der Mona Lisa hätte er nicht machen brauchen, es reichen ihre Ansichten über Politik, um zu zeigen, dass sie nie die Lügen des Vaters durchschauen konnte.Diese Geringschätzung ist mir besonders im Zusammenhang mit der Mutter aufgefallen
Das frage ich mich auch. Der Sohn will den Vater zwingen, endlich die Wahrheit zu sagen, doch dafür ist es längst zu spät.Ist es daher legitim, dass der Sohn ihm seine Legende, die er anscheinend zum Weiterleben braucht, zumindest zeitweise nimmt?
Das sind für mich die wichtigsten Kapitel im Buch, zusammen mit den Recherchen am Anfang zu den Kindern von Izieu.Großartig sind die Teile um den Barbie-Prozess, das hätte man nicht eindrucksvoller schreiben können. Dass dessen Anwalt 1989(!!) noch einen Freispruch "im Namen der Menschlichkeit" für diesen Massenmörder zu fordern wagt, ist unvorstellbar.
So ging es mir auch. Es war so belanglos nach dem, was man zuvor gelesen hatte, und interessierte mich immer weniger - oder höchstens noch aus Mitleid mit dem Sohn.Mich hat gerade das Kapitel, in dem Serge Klarsfeld von den Kindern erzählt, ganz stark berührt und das Geschwätz des Vaters hinterher war kaum auszuhalten.
Ja, das war auch mein erster Gedanke. Und seine Rolle später war ungleich banaler.Ich hatte ganz zu Anfang vermutet, der Vater wäre der Verräter der Kinder von Izieu gewesen, also eine "große Nummer". Ging euch das auch so?
Das sind sie mit Sicherheit auch - aus unserer Sicht. Aber für den Ich-Erzähler sind sie ein persönliches Drama unheimlichen Gewichts. Diese Vermischung der zwei Dramen - dem persönlichen und dem historischen - machte für mich einen großen Reiz aus.Mir erschienen im Vergleich zu diesen Verbrechen die Spielchen des Vaters zweitrangig.
Nein, zu keiner Zeit habe ich daran gedacht, dass der Vater der Verräter von Izieu sein könnte... Aber gewundert hätte ich mich auch nicht - so viel, wie der auf'm Kerbholz hat...Ich hatte ganz zu Anfang vermutet, der Vater wäre der Verräter der Kinder von Izieu gewesen, also eine "große Nummer". Ging euch das auch so?