Ich habe das Kapitel 22/23 gerade im Bett gehört - wie gesagt: Lewinsky liest es selbst und ich behaupte, dass das seine Schreibkunst leuchten lässt. Wie er diesen Arzt beschreibt, bei dem sich die eigenen Gedanken überschlagen, die aber so viel wertvoller sind, als alles bei diesem goijischen Essen vom Janki....
Chaneles Gefühle werden greif- und fühlbar in Worte gefasst: Die Zählerei ihrer Schritte, die Furcht, die Unsicherheit.
Immer wieder diese wunderschönen Metaphern, die einen Anblick, ein Bild, eine Berührung beschreiben: zart wie ein Spinnennetz, die Haut wie das brüchige Papier eines alten Buches und so weiter. Das ist mir niemals zuviel. Lewinsky liest es ebenfalls ganz ruhig und zart.
Die Begegnung Chaneles mit ihrem Vater hat mich sehr berührt- blöde Vokabel, aber hier passt sie. Soviel Emotion! Chanele hat ihre Augenbrauen nie gemocht, auch Janki nicht. Sie spürt körperlich, wie sehr ihr Vater die Mutter geliebt haben muss, der jene ja in ihr sieht....
Im Hintergrund marschieren, beobachten die anderen Bewohner. Absolut glaubwürdig, wahrhaft authentisch geschildert. Wieviel Kraft mag es kosten, zu antworten: "Es wird nichts geschehen."? Auch Chanele kann sich sehr schnell in die Situation einfinden. Sie wird von Gefühlen geflutet (zum Glück hat sie gelernt, solche nicht nach außen dringen zu lassen), reagiert dem Vater gegenüber aber höchst professionell, als wenn sie schon ewig mit geistig kranken Menschen zu tun hatte.
Wie bewegend, als der Vater sagt:
Die Bedeutung des geschenkten Arztkittels wird deutlich. Die Bewohner erklären die Szene: "Wenn sie tot sind, müssen sie weiße Hemden tragen..."
Ich bewundere den Stil Lewinskys, der sowohl Leichtigkeit als auch Schwere wunderbar transportieren kann. Ich habe mich anhand dieser Szene mal ausgelassen, empfinde das aber fast immer. Wie er seine Charaktere zeichnet! Kaum einer ist blass, jeder hat mindestens eine Besonderheit. Wie Dr. Hellsiedl zum Beispiel oder diese Bewohner. Einmalig. Bei mir läuft es auf den achten Stern hinaus und ich kann es schwer ertragen, wenn hier Haare in der Suppe gesucht werden
Dass Chanele Janki verschweigt, dass sie ihren Vater getroffen hat, verstehe ich gut. So nah sind sie sich einfach nicht. Sie führen ihre Geschäfte zusammen, ebenso die Familie, aber Liebe und Vertrauen gibt es in Herzensdingen nicht. Vielleicht verschließt sie dieses Erlebnis in ihrem Innern, vielleicht vertraut sie es Salomon an, der ja augenscheinlich die Briefe geschrieben hat, die zu diesem Treffen führten (war es so? So ein vorgelesener Satz ist manchmal ganz schnell vorbei).
Der Arzt will sie auf dem Laufenden halten. Sie lehnt das ab. Ein Schutz? Ein Reflex? Es bringt ja auch nichts. Dem Vater kann sie nicht helfen. Aber sie kennt nun ihre Wurzeln: Menachem und Sarah Bär.