4. Leseabschnitt: Kapitel 12 bis 16 (Seite 113 bis Ende)

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Im letzten Abschnitt zieht das Erzähltempo ja mächtig an und überspringt sogar viele Jahre. Tatsächlich hätte ich gern mehr gehört - übrigens auch über den erwachsenen Ich-Erzähler und die ärztlichen Untersuchungen. Andererseits halte ich das Ende vor diesem Haus, in das er nicht mehr hineinkommt, für ungemein konsequent. Und anders als der Erzähler wurde ich doch etwas rührselig.

Meine Lieblingssätze in diesem Abschnitt:

S. 129: "Ich habe später einmal gelesen, dass die Augen das Fenster zur Seele seien. Wenn da etwas dran ist, dann war das Fenster des Vaters zu oft beschlagen." - Das finde ich hinreißend formuliert.

S. 137: "Da merkte ich, wie gegenwärtig die Vergangenheit mir dem Vater noch war. Wie, wenn sie auftauchten, die Bilder von ihm, die dunklen und die hellen, mir nahe gingen." - Ich finde, das fasst den kompletten Roman eindrücklich und bewegend zusammen.

Habt ihr euch eigentlich auch über den Bruder gewundert? Er ist 2,5 Jahre jünger als der Protagonist und lebt sehr früh wie ein Erwachsener. So kam es mir zumindest vor.
 

Helmut Pöll

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9. Dezember 2013
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München
Habt ihr euch eigentlich auch über den Bruder gewundert? Er ist 2,5 Jahre jünger als der Protagonist und lebt sehr früh wie ein Erwachsener. So kam es mir zumindest vor.
Ja, ich habe mich auch über den Bruder gewundert. Vor allem deshalb, weil ich ihn im Verlauf der Geschichte fast vergessen habe. Er kommt ja kaum vor. Erst bei seinem Besuch, wo die Brüder das weitere Vorgehen mit der hinfälligen Mutter klären, taucht er wieder auf. Und dann nochmal in einem Nebensatz, viele Jahre später, als es hieß, dass der Bruder das Elternhaus verkauft hat.

Da bleibt vieles offen. Warum kann der Bruder so einfach das Elternhaus verkaufen? Gehört es ihnen nicht gemeinsam? Und wurde nach dem Krieg unter den Brüdern nie über die Rolle des Vaters in dieser Zeit gesprochen? Schwer vorstellbar. Wie geht es dem Bruder mit dieser Familie? Im Grunde bricht der Ich-Erzähler ja mit seinem Fortzug komplett die Brücken ab. Eine seltsame Familie ist das.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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übrigens auch über den erwachsenen Ich-Erzähler und die ärztlichen Untersuchungen.
Ja. Da lässt er uns mit einem Cliffhanger zurück. Die Diagnose war eindeutig. Entweder man hat es behandeln können oder es ist wenig aggressiv, was im Alter ja vorkommen kann. Zum Glück erfreut sich der Autor guter Gesundheit, ich habe ein Video auf Insta gesehen, wo er am gemütlichen Kamin aus seinem Buch vorliest;)

Er ist 2,5 Jahre jünger als der Protagonist und lebt sehr früh wie ein Erwachsener.
Beide Söhne hält wenig zu Hause. Das Herzstück war nun einmal die Großmutter, zumindest für den Erzähler. Wenn es dumm gelaufen ist, fühlte sich der Bruder noch einsamer - wir wissen es nicht. Es fasziniert mich, dass die Buben ihren eigenen beruflichen Weg gehen durften. Der Bruder hat sich für ein anderes Handwerk als das des Vaters entschieden, der Erzähler für Abitur und Studium. Das finde ich nach wie vor in diesen kleinbürgerlichen Verhältnissen erstaunlich.

Warum kann der Bruder so einfach das Elternhaus verkaufen? Gehört es ihnen nicht gemeinsam?
Das geht ganz leicht, weiß ich aus Erfahrung. Es braucht nur einen, der sich kümmert (einer muss ja) und einen, der mit dem Ergebnis, so wie es kommt, zufrieden ist und nicht nörgelt. Das kann manchmal für beide Seiten sehr befriedigend sein;)
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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So, ich habe das Buch gerade zugeklappt. Für mich ist es ein absolutes Highlight dieses Lesefrühjahrs! Es hat für mich genau die richtige Länge. Die Sätze strahlen teilweise eine solche Intensität aus....- ich lese ja ohnehin langsam, aber hier wurde ich zur Schnecke, weil es eigentlich nichts Überflüssiges gibt. Der Autor forscht nach seiner Kindheit, seinen Ängsten. Da haben Schnörkel keinen Platz. Auch ist der Bruder wahrscheinlich noch am Leben. Da gilt es, auf dessen Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen.

Sehr eindrücklich wird die Rückkehr der Nazis aus verschiedenen Gesichtspunkten geschildert. Damit erklärt sich der Erzähler den zunehmenden Verfall des Vaters. Ich denke, dass aber tatsächlich auch "ungünstige Lebenswinde" hinzutreten, sprich eine Art von Depression (auch "finstere Macht" genannt). Viele Männer dieser Generation haben sich mit Arbeit abgelenkt. Es verwundert, dass der Vater diese gänzlich eingestellt hat. Er hat wohl in allem keinen Sinn mehr gesehen.

Gerne hätte der Autor die hellen Tage des Vaters in Erinnerung behalten, sie wurden aber zu sehr von den dunklen überlagert. Verständnis zeigt er auch für seine Mutter:
Vielleicht fragte sie sich, ob sie eine liebevollere Mutter gewesen wäre, wenn sie sich nicht vom Vater in das schwarze Loch hätte hineinziehen lassen. 127
Erwähnenswert finde ich die Beerdigung des Vaters. Der Musikverein spielt, weil der Vater ihn jahrelang finanziell unterstützte. Das ist die Verbindung dafür, dass der Erzähler ein Musikinstrument hat erlernen dürfen. Der Vater hatte etwas übrig für das Musische, auch wenn er es selbst nicht praktizierte. Der bigotte Pastor hält eine dermaßen verquere Grabrede, dass es selbst unbeteiligte Zuhörer empört. Der Heimatbote schreibt eine Klarstellung.

Der Musiklehrer erlangt Bedeutsamkeit für die Biografie des Erzählers. Von ihm wird sehr liebevoll berichtet. Es wundert mich nicht, dass "die Bürgerlichkeit" ihm sehr kritisch gegenüber steht. Eine schwangere Freundin - wo gibt es denn sowas in jener Zeit?!

Nur wenige Male reist der Erzähler zurück in seine Heimatstadt. Er hat seine Brücken sehr rigoros abgebrochen. Er obliegt dem Leser, sich die Ängste des Kindes vor dem Vater weiter auszuschmücken. Alkohol ist eine fiese Droge, die den Cholerischen noch cholerischer macht. Er gehörte damals allerdings in gewissen Maßen dazu. Als "das Glück des kleinen Mannes", möchte ich fast sagen.

Ja, beim Zuklappen des Buches erfasste mich auch ein wenig Rührseligkeit. Die Sätze, die Christian markiert hat, sind mir auch ins Auge gestochen. Ein kleines, großes Buch!
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Noch ein Gedanke:

Der Ich-Erzähler hat eine beeindruckende Karriere gemacht. Ich habe nicht den Eindruck gewonnen, dass er von Haus aus besonders gefördert wurde. Man hat ihn aber gewähren lassen, ihm auch keine Steine in den Weg gelegt. Das wiederum zeigt auch die Größe des Vaters, der keine Angst hatte, dass der Sohn es einmal weiter bringen könnte, als er selbst.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Das Herzstück war nun einmal die Großmutter, zumindest für den Erzähler.
Wenn man von Herzstück im Sinne von Herzensmensch ausgeht, würde ich zustimmen. Das literarische Herzstück war für mich dann aber doch eindeutig der Vater.
Das finde ich nach wie vor in diesen kleinbürgerlichen Verhältnissen erstaunlich.

Das wiederum zeigt auch die Größe des Vaters, der keine Angst hatte, dass der Sohn es einmal weiter bringen könnte, als er selbst.
Das finde ich wunderbares Fazit, das auch den Ich-Erzähler etwas versöhnlicher hätte stimmen können. Das andere Zitat passt auch gut dazu, deshalb nicht wundern, dass ich es nur hinzugefügt habe.
 
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Literaturhexle

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2. April 2017
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Wenn man von Herzstück im Sinne von Herzensmensch ausgeht, würde ich zustimmen
Du kannst getrost zustimmen:)
Die andere Variante würde kaum Sinn machen. Ohne die Großmutter verlor auch die Heimat, das Elternhaus an Wert. Um die Mutter hat man sich mehr aus der Verantwortung heraus gekümmert. Wirkliche Herzenswärme konnte ich nicht entdecken. Allerdings hat sie an der Seite des Vaters viel durchgemacht, das räumt der Erzähler ein.

Noch ein Gedanke: der Vater war immerhin ein Jahr im Krieg, wurde verwundet, krank und für wehruntauglich erklärt. Auch daher kann ein Trauma rühren. Vielleicht war er vor dem Krieg ein anderer Mensch.
 

Barbara62

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19. März 2020
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Baden-Württemberg
mit-büchern-um-die-welt.de
Habt ihr euch eigentlich auch über den Bruder gewundert? Er ist 2,5 Jahre jünger als der Protagonist und lebt sehr früh wie ein Erwachsener. So kam es mir zumindest vor.
Der Protagonist lebte ja mehr bei der Großmutter als bei den Eltern, daher war der Bruder auch nicht wie sonst ein Bruder.
Ich habe den Bruder sehr lebhaft vor Augen. Er ist einer, der sich durch nichts aus der Ruhe bringen lässt, stur seinen Weg geht, einfach abschalten kann. Ein vollkommen anderer Typ als der Ich-Erzähler.
 

Barbara62

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19. März 2020
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Baden-Württemberg
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Es geht mir mit dem Buch wie @Literaturhexle, auch ich empfinde es als kleinen Schatz. Es geht mir tatsächlich auch sehr nah.

Der Musiklehrer mit seinem Freiheitsdrang wirkt wie ein sehr früher 68-er. Ich bin ebenfalls sehr erstaunt über die schwangere Freundin. Es war Anfang der 1980er-Jahre(!) in Baden-Württemberg noch schwierig, unverheiratet eine gemeinsame Wohnung zu finden, selbst in einer Stadt.

Das Verhältnis zur Mutter ließ sich nach dem Tod des Vaters nicht mehr kitten. Schade, hier fehlte einfach die Basis. Mutter, Protagonist und Bruder mussten jeweils auf eigene Weise einen Weg für sich finden.

Dass die Tür zum Elternhaus durch das Missverständnis versperrt blieb, passt als Schluss ganz ausgezeichnet.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Noch ein Gedanke:

Der Ich-Erzähler hat eine beeindruckende Karriere gemacht. Ich habe nicht den Eindruck gewonnen, dass er von Haus aus besonders gefördert wurde. Man hat ihn aber gewähren lassen, ihm auch keine Steine in den Weg gelegt. Das wiederum zeigt auch die Größe des Vaters, der keine Angst hatte, dass der Sohn es einmal weiter bringen könnte, als er selbst.
Generell wurde ja früher häufig verlangt, dass einer der Söhne in die Fußstapfen des Vaters tritt, erst recht, wenn, wie hier, ein Betrieb vorhanden war. Der Vater hat nicht alles falsch gemacht, er war ein aufwieglerischer Grantler, aber er hatte auch gute Seiten
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Das Ende ist rund, der Ausdruck kam mir direkt in den Sinn. Trotz aller unschönen Erlebnisse die der Ich-Erzähler mit dem Haus und der Familie verbindet, geht er seinen Weg. Vielleicht hat ihm das ein oder andere trotzdem geholfen zu diesem Menschen zu werden, was man im Umkehrschluss dann sogar positiv sehen könnte, wenn man mag. So oder so hat er seinen Frieden mit allem gemacht, und das ist für einen Menschen schon viel. Einige schaffen dies ein Leben lang nicht.
Der Bruder und seine fehlende Präsenz im Roman wurde in diesem Abschnitt etwas abgemildert, es ist für mich nun besser zu greifen.
Der Roman hat mich bewegt, und ich bin froh mich zu dieser Leserunde angemeldet zu haben
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Andererseits halte ich das Ende vor diesem Haus, in das er nicht mehr hineinkommt, für ungemein konsequent.
Ja, absolut - da hatte ich noch einmal ´ne richtig dicke Gänsehaut.
Da lässt er uns mit einem Cliffhanger zurück. Die Diagnose war eindeutig.
Vielleicht hat es für ihn auch keine Rolle mehr gespielt; er war an den Ort seiner Kindheit, seinen traumatischen Erlebnissen zurückgekehrt und hat mehr oder weniger "Einklang" mit sich gefunden. Vielleicht hat ihm das geholfen, die Krankheit wenn nicht zu überwinden, aber soweit einzudämmen, dass er noch damit leben kann.
Es braucht nur einen, der sich kümmert (einer muss ja) und einen, der mit dem Ergebnis, so wie es kommt, zufrieden ist und nicht nörgelt.
So wird es bei uns auch sein; ich lass meine Schwester bzw. meinen Schwager machen und gebe mich mit dem zufrieden, was ich später kriege. Ich hab´s nicht so mit Ämtern, Behörden, Notaren etc. ha ha ha.
Der bigotte Pastor hält eine dermaßen verquere Grabrede, dass es selbst unbeteiligte Zuhörer empört. Der Heimatbote schreibt eine Klarstellung.
Ja, da zeigt sich mal wieder, was im Namen der Kirche bzw. des Glaubens so alles getrieben wird. Braucht kein Mensch diese falschen Pastoren :mad:.
Ein kleines, großes Buch!
Absolut; ein Ehrenplatz in der Bibliothek ist ihm sicher :cool:.
 

Renie

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19. Mai 2014
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Und anders als der Erzähler wurde ich doch etwas rührselig.
Ich bin erleichtert, dass es Dir wie mir ging. Mit Ende des vorletzten Kapitels hatte ich Tränen in den Augen, so sehr hat mich die Beschreibung des Auszugs in die große weite Welt berührt. Daher war ich umso erstaunter, als noch ein Kapitel kam. Ich hatte den Anfang des Buches völlig vergessen, so sehr war ich in der Geschichte der Kindheit und Jugend versunken.
 

Renie

Moderator
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19. Mai 2014
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Essen
renies-lesetagebuch.blogspot.de
Habt ihr euch eigentlich auch über den Bruder gewundert? Er ist 2,5 Jahre jünger als der Protagonist und lebt sehr früh wie ein Erwachsener. So kam es mir zumindest vor.
Nein, habe ich nicht. Für mich ist der Bruder einfach unsichtbar geblieben - ob gewollt oder ungewollt, sei dahingestellt. Wir wissen so gut wie gar nichts über den Bruder. Daher wundert mich auch nichts.
Ich kenne Familienkonstellationen, bei denen war es genauso. Das Hauptaugenmerk in der Familie lag auf dem Erstgeborenen, sobald ein kleiner Bruder da war, sprang Oma ein, nahm der Mutter den Älteren ab. Das wurde nicht als "Abschiebung" angesehen, sondern als Unterstützung. Die Mutter kümmerte sich um den Kleinen, die Oma um den Großen. So haben die Brüder zwar im gleichen Haus gelebt, aber doch nebeneinander her. Bei der Familie in dem Roman kommt noch erschwerend hinzu, dass der Vater ein Mensch war, mit dem das Zusammenleben sehr schwierig war, und der sicherlich großen Wert auf ein friedliches Zuhause gelegt hat, also ohne Kinderchaos.
Außerdem müssen Brüder nicht zwangsweise die besten Freunde sein. Meistens sind es die Eltern, die in der Kindheit dafür sorgen, dass einer auf den anderen aufpasst und dadurch Nähe entsteht. Dass Geschwister charakterlich völlig unterschiedlich sind, ist nicht ungewöhnlich. Das Einzige, was sie zusammenhält ist die Blutsverwandtschaft.

arum kann der Bruder so einfach das Elternhaus verkaufen? Gehört es ihnen nicht gemeinsam? Und wurde nach dem Krieg unter den Brüdern nie über die Rolle des Vaters in dieser Zeit gesprochen? Schwer vorstellbar. Wie geht es dem Bruder mit dieser Familie?
Bloß weil diese Fragen in dem Buch keine Erwähnung finden, heißt es nicht, dass sie nicht gestellt worden sind. Das wäre für mich Thema für ein anderes Buch.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Nein, habe ich nicht. Für mich ist der Bruder einfach unsichtbar geblieben - ob gewollt oder ungewollt, sei dahingestellt.
Das stimmt, aber ich meinte nicht nur das. Der Bruder zieht von zuhause weg und erlernt irgendein Handwerk. Da ist der Protagonist 15, der Bruder demnach 12,5 Jahre alt. Vielleicht war das damals nicht so ungewöhnlich, aber mir kam es teilweise so vor, als lebe er schon mit knapp 13 wie ein Erwachsener.