4. Leseabschnitt: II. Abwärts (Seite 261 bis Ende)

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Der letzte LA verblüfft zumindest.
Der A bleibt für mich unauthentisch, keineswegs eine gespaltene Persönlichkeit. Ich möchte sagen, die Figur ist dem Autor misslungen! Aber so gründlich. Da er selber weiss, ob er die Tat begangen hat oder nicht, macht entweder das eine oder das andere etwas mit ihm. Alles andere ist unglaubhaft. Mir ist der Herr viel zu ungerührt, ja geradezu stoisch.
Während einer so langen Haftstrafe hat man die Gelegenheit, sich mit seiner Tat zu beschäftigen. Hat er es getan - und für mich ist das unstrittig - wäre tatsächlich ein Rückblick, Reue etc. zu erwarten. John Grisham stellt diesen Prozess in dem Roman "Die Kammer" fabelhaft dar. Und der inhaftierte Kerl bei Grisham gehörte zum Kukluxklan und hatte mehr Dreck am Stecken! So ein "schlechter Kerl" war A ja gar nicht, er wollte es immer jedem Recht machen - also nehme ich ihm nicht ab, dass er dabei bleibt, Onkel hat es verdient. So was verdient keiner. Und wir nehmen ja auch an, die Tat geschah im Affekt. Das passt gar nicht zusammen. Dann kann man in der Haft auch was lernen. Und vllt einen neuen Sinn in seinem Leben suchen und finden und über den Sinn des Lebens nachdenken? Nichts davon. Nicht einmal im Hinblick auf das, was seine Tat ihm alles kaputt gemacht hat, zeigt A Reue. Das überzeugt mich alles nicht.
Wäre er aber unschuldig, wäre er entweder verbittert oder würde einen höheren Sinn in allem suchen.

Diese zwei Gesichter sind höchstens philosophisch interessant, bedeuten aber doch nichts anderes, als dass jeder zwei Gesichter hat. Ein öffentliches und ein privates.
Hätte er die Tat aber nicht begangen, nee, das glaube ich einfach nicht. Sein ganzes Verhalten passte dazu nicht. Vllt eine narzistische Persönlichkeit? Jemand der lieber eine Rolle spielt, die des Hero, als zu gestehen und ein milderes Urteil zu bekommen? Ganz spinnert das.
Gut, A sagt, er ist heute nicht mehr derselbe wie früher. Die Haft hat ihn zum Schlechteren verändert. Dieser Aspekt ist sicherlich denkbar. Aber nicht zwingend.

Nun denn. Dass das Leben der anderen weitergeht, ist doch klar und normal. Normal wäre sogar, dass sie die ganze Geschichte vergessen. Dass sie keine Rolle mehr für ihr weiteres Leben spielt. Die ethischen Fragen sind für mich Randfragen geblieben. Sie bleiben an der Oberfläche.
 

Barbara62

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19. März 2020
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Der A bleibt für mich unauthentisch, keineswegs eine gespaltene Persönlichkeit. Ich möchte sagen, die Figur ist dem Autor misslungen! Aber so gründlich. Da er selber weiss, ob er die Tat begangen hat oder nicht, macht entweder das eine oder das andere etwas mit ihm. Alles andere ist unglaubhaft. Mir ist der Herr viel zu ungerührt, ja geradezu stoisch.
Das Stoische sorgt maßgeblich dafür, dass ich ihn für den Täter halte. Wäre er unschuldig, er müsste an dem Urteil zerbrechen.

Ich bin etwas ziegespalten, was den Ausgang des Buches betrifft. Geht hier tatsächlich um eine Studie zur Freundschaft und um die Kernfrage "Kann ein Mörder ein Freund sein, oder vielleicht besser andersrum, kann ein Mörder ein Freund sein? Dan finde ich das Buch extrem gelungen und kann zufrieden aus der Lektüre herausgehen.
Das ist die eine Frage. Die andere ist, ob die 5 Freunde ihm mit ihrer Nibelungentreue nicht mehr geschadet als genützt haben, denn er konnte schon allein deshalb kein Geständnis ablegen. Hätte er ein Geständnis ablegen können und sie hätten vor Gericht über die Belastungen durch den Onkel, die unerträglichen Zustände ausgesagt, hätte es sich vielleicht mildernd auf das Urteil ausgewirkt.

Konsequent finde ich, dass das Buch der Journalistin nicht veröffentlicht wird, denn ich hatte ja bereits von Beginn an Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Projektes. Allerdings frage ich mich auch, ob dieser Ansatz dann im Großen und Ganzen aufgeht. Da bin ich skeptisch.
Das Buch wäre nur erschienen, wäre X aus irgendeinem Grund vorzeitig freigekommen, also dann, wenn die unermüdlichen Versuche des Anwalts Erfolg gehabt hätten. Nur dann hätte es dafür einen Markt gegeben.

Das Strafmaß scheint mir extrem hoch.
Erst kommt die Entscheidung, ob der Angeklagte schuldig ist, die wurde eindeutig mit einem Ja beantwortet. Danach konnte das Gericht nicht mehr anders, als die drakonische Strafe zu verhängen. Im Strafmaß werden die Zweifel nicht abgebildet. Mord und Heimtücke - mehr geht wohl nicht.
 

Barbara62

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19. März 2020
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Da ich von Beginn an keine Auflösung erwartet hatte, war ich über das Ende nicht enttäuscht. Es ist ein Roman über sechs Freunde und die Frage, was Freundschaft bedeutet, was sie aushalten kann und ob ein Zuviel an Treue auch Schaden einrichten kann. Leider habe ich "Das Bildnis des Dorian Grey" nicht gelesen (Bildungslücke), aber dank der Zusammenfassung von @Literaturhexle habe ich eine Vorstellung. Es bringt mich aber nicht davon ab, dass es hauptsächlich um das Thema Freundschaft geht.

Sabine mochte ich zu Beginn am wenigsten, sie war mir zu spröde, aber am Ende wurde sie zu meiner Lieblingsfigur. Sie hat die Mechanismen in der Clique mit ihrer naturwissenschaftlichen Herangehensweise am besten durchschaut.
 

otegami

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17. Dezember 2021
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Ich muss sagen, ich bekomme richtig Lust, nun endlich mal "Das Bildnis des Dorian Gray zu lesen". Wäre jetzt der passende Moment dafür, da man dann vielleicht auch das Ende besser verstehen kann.
Ich hab's vor x Jahren gelesen! Hmmm, nicht einfach! Ich habe es in Erinnerung mit ewig langen Schachtelsätzen und vielen Aufzählungen!
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Das Gefängnis macht aus deiner Identität eine verzerrte Fratze.
Schon der Prozess. Da wurde mal das Vexierbild erwähnt: Alte Hexe oder junge Frau. Jeder sieht ein anderes Bild, obwohl alle auf das gleiche Bild schauen.
Kennt jemand weitere Werke von ihm?
Mir haben seine historischen Bücher sehr gut gefallen
„ Das Sandkorn“, „ Der Spiegelkasten“ aber vor allem sein Debut „ Die Welt ist im Kopf“ über Schopenhauer. „ Mauersegler“ fand ich eher schwach.
Das ist die eine Frage. Die andere ist, ob die 5 Freunde ihm mit ihrer Nibelungentreue nicht mehr geschadet als genützt haben, denn er konnte schon allein deshalb kein Geständnis ablegen. Hätte er ein Geständnis ablegen können und sie hätten vor Gericht über die Belastungen durch den Onkel, die unerträglichen Zustände ausgesagt, hätte es sich vielleicht mildernd auf das Urteil ausgewirkt.
So sehe ich das auch. Diese gut gemeinten Aktionen sind kontraproduktiv, wenn er der Täter ist ( und so sehe ich ihn).
 
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Literaturhexle

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2. April 2017
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Schon der Prozess. Da wurde mal das Vexierbild erwähnt: Alte Hexe oder junge Frau. Jeder sieht ein anderes Bild, obwohl alle auf das gleiche Bild schauen.
Sehr gut, dass du auf die Verknüpfung hinweist! Daran habe ich gar nicht gedacht, aber es weist auch auf die zwei Gesichter hin.
Mit dem Hinweis auf Dorian Gray ist die Schuldfrage für mich geklärt.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Hat sich eigentlich von Euch auch jemand so drüber gefreut, dass aus Benjamin und Sabine ein Paar wurde?
Also, ich ehrlich gesagt nicht. Ich fand das eher ärgerlich, weil die Journalistin aka Christoph P. das nicht früher herausgefunden hat. Und die Figuren waren mir insgesamt leider relativ wurscht.
 
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Reaktionen: otegami

Barbara62

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Hat sich eigentlich von Euch auch jemand so drüber gefreut, dass aus Benjamin und Sabine ein Paar wurde? Ich fand das super!
Und offensichtlich 'klappt's', auch mit 4 Kinder und anstrengender Berufstätigkeit und sogar beruflicher Abwesenheit der Mutter.
Prinzipiell ja, aber es kam mir unglaubwürdig vor, dass die Journalistin das nicht wusste.
 

Literaturhexle

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Hat sich eigentlich von Euch auch jemand so drüber gefreut, dass aus Benjamin und Sabine ein Paar wurde? Ich fand das super!
Mir war das völlig egal. Es war ein überflüssiges, fast konstruiertes Detail, das für die Handlung keinerlei Belang hat. Mir ist keine Figur ans Herz gewachsen, mich hat eher das Beziehungsgeflecht als Ganzes interessiert. Auch vier Kinder bei beidseitiger Karriere haben mir was von Märchen und Mythen;)
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Für mich nimmt der Roman ein "gutes" Ende, gerade das "Schlusswort" ist doch recht aufschlussreich.

Bei "Spiegel" geht bei mir ja sowieso schon die Aufmerksamkeit hoch, denn Spiegel sind in der Literatur ja immer das probate Mittel zur Selbstreflexion, Selbstenthüllung, zum Blick in die Abgründe, als Portal in andere Welten, als Filter der Realität usw.

Bei den Spiegelscherben war ich sofort bei H.C. Andersens "Die Schneekönigin", wo das Herz des kleinen Kay zu einem Klumpen Eis wird, nachdem er von einer Scherbe aus dem Spiegel des Teufels, der nur das Schlechte spiegelt, getroffen wird. Im Gefängnis dienen die Mithäftlinge als Spiegel - auch sie spiegeln nur das Schlechte "Du siehst heute aber scheiße aus." (S. 289)

Dann kommt das Vermissen des Spiegels. Da sehe ich klar die narzisstischen Anklänge, die ich bereit im vorigen Abschnitt angedeutet hatte. In Verbindung mit der Passage, in der der Gefangene auf die Tatsache eingeht, dass er für sich ein Alleinstellungsmerkmal in Anspruch nehmen möchte, eine Marke sein, ein Image haben will, kann man den Narzissmus ganz gut belegen, zumal die als unzuverlässig zu wertende Aussage "Nicht dass ich je besonders eitel gewesen wäre" (S. 289) dies zusätzlich noch stützt.

Narzissmus ist auch ein zentrales Motiv in "Dorian Gray" der sich ja immerhin mehr oder weniger in sein eigenes Bildnis "verliebt". Dorian Gray lagert seine böse Seite, seine Sünden und schlechten Taten - also alles was, das strahlende Aussehen beeinträchtigen könnte - in das Bild aus. Er kontrolliert auch regelmäßig mit einem Spiegel, dass er nun dem Bild nicht mehr gleicht, dass nur das Bild an seiner Stelle sich verändert.

Ähnlich wie auch in den finalen Äußerungen der Freunde, wird bei den Überlegungen des Gefangenen deutlich, dass er gar keine Möglichkeit mehr hatte, sich als etwas anderes als "unschuldig" darzustellen, denn die anderen "wollen dich so behalten, wie sie dich kennen" (S. 291) An der Stelle hinkt es allerdings für mich, denn Dorian Gray handelt nicht aus altruistischen Motiven, sondern aus egoistischen.

Und nicht nur deshalb nehme ich dem Gefangenen diese Haltung nicht wirklich ab, sondern auch weil er bereits zuvor ausgiebig mit dem "Doppelgänger"-Motiv gespielt hat. Ich kann nicht anders ;) : das ruft bei mir Stevenson "Dr. Jekyll and Mr. Hyde" auf den Plan, wo es um die Zwiegespaltenheit des Menschen zwischen Gut und Böse geht.

Schlussendlich ist für mich der letzte Absatz unter der so ausführlichen Bezugnahme des Gefangenen auf "Dorian Gray" als ein Schuldeingeständnis lesbar. Das "grotesk verzerrte Abbild" voller "Grausamkeit, Bitternis und Verachtung" (S. 292), das er aber im Gegensatz zu Dorian Gray nicht mehr loswerden kann, denn es ist "unzerstörbar" (S. 291), ist doch ein deutlicher Hinweis. Spannend ist dann noch der allerletzte Satz, über den man sicherlich noch gut diskutieren kann: "Und mein Gesicht zerfließt." (S. 292)...Zerfließt vor Tränen (der Reue, der Bitterkeit, des Verlusts)? Zerfließt, weil er selbst nicht mehr weiß, wer er überhaupt ist? Zerfließt, weil niemand ihn wirklich kennt, nicht einmal die Freunde? Zerfließt, weil er so lange für die Freunde eine Version von sich aufrecht erhalten hat, die nun diesen Kreis nicht mehr interessiert? Zerfließt, weil wir als Leserschaft ihn nicht einschätzen können?

Insgesamt ist es übrigens sehr interessant (und schön), dass sich Poschenrieder hier sehr klar auf typische Elemente der Gothic-Literatur beruft (Spiegel, Doppelgänger, Dorian Gray - das Gefängnis selbst ist in der Schauerliteratur ja auch ein beliebter Ort).

Ausnahmsweise finde ich ja auch mal das dem Roman vorangestellte Zitat überaus passend und gelungen. Inhaltlich passt es sowieso perfekt und ist ein weiterer Hinweis auf ein Schuldeingeständnis des Gefangenen. Dann ist es von Oscar Wilde und damit ein wunderbarer Brückenschlag zu "Dorian Gray" und schließlich stammt es aus "De Profundis", einem Brief, den Wilde schrieb, als er selbst im Gefängnis einsaß.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Für mich nimmt der Roman ein "gutes" Ende, gerade das "Schlusswort" ist doch recht aufschlussreich.
Das freut mich doch sehr, dass ich nicht so ganz alleine bin.
Ich bin mal wieder sehr beeindruckt von deinen Eindrücken. Sie wirken wie mit leichter Feder hingeschrieben. Hast du die intertextualen Anlehnungen tatsächlich so abgespeichert, dass du sie "geschwind mal" abrufen kannst? Ich habe den Dorian im letzten Jahr gelesen und musste trotzdem zur LR gehen, um das hier Wesentliche abrufen zu können...
Gelernt ist eben gelernt:D.

Schlussendlich ist für mich der letzte Absatz unter der so ausführlichen Bezugnahme des Gefangenen auf "Dorian Gray" als ein Schuldeingeständnis lesbar.
Ging mir ganz genauso. Toll, dass du dir die Mühe gemacht hast, das ausführlicher zu belegen. Hoch interessant!
Zerfließt, weil er selbst nicht mehr weiß, wer er überhaupt ist?
So habe ich es wohl hauptsächlich gelesen, im Zusammenhang mit den zwei Gesichtern. Aber die anderen deiner Ansätze sind ebenfalls denkbar. Nur die Reue kann ich nicht erkennen. Es ist eher ein Befremden über sich selbst.
Insgesamt ist es übrigens sehr interessant (und schön), dass sich Poschenrieder hier sehr klar auf typische Elemente der Gothic-Literatur beruft
Gut zu wissen:)
(By the way: Hast du von Julian Barnes "Der Mann im roten Rock" gelesen? Ein beeindruckendes Werk, das uns schier begeistert hat und unser Erstling von KiWi in einer LR war. Dieses Buch machte uns auf Dorian Gray neugierig, weil Oscar Wilde bei Barnes eine tragende Rolle zukommt).

schließlich stammt es aus "De Profundis", einem Brief, den Wilde schrieb, als er selbst im Gefängnis einsaß.
Wieder was gelernt;)
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Für mich nimmt der Roman ein "gutes" Ende, gerade das "Schlusswort" ist doch recht aufschlussreich.

Bei "Spiegel" geht bei mir ja sowieso schon die Aufmerksamkeit hoch, denn Spiegel sind in der Literatur ja immer das probate Mittel zur Selbstreflexion, Selbstenthüllung, zum Blick in die Abgründe, als Portal in andere Welten, als Filter der Realität usw.

Bei den Spiegelscherben war ich sofort bei H.C. Andersens "Die Schneekönigin", wo das Herz des kleinen Kay zu einem Klumpen Eis wird, nachdem er von einer Scherbe aus dem Spiegel des Teufels, der nur das Schlechte spiegelt, getroffen wird. Im Gefängnis dienen die Mithäftlinge als Spiegel - auch sie spiegeln nur das Schlechte "Du siehst heute aber scheiße aus." (S. 289)

Dann kommt das Vermissen des Spiegels. Da sehe ich klar die narzisstischen Anklänge, die ich bereit im vorigen Abschnitt angedeutet hatte. In Verbindung mit der Passage, in der der Gefangene auf die Tatsache eingeht, dass er für sich ein Alleinstellungsmerkmal in Anspruch nehmen möchte, eine Marke sein, ein Image haben will, kann man den Narzissmus ganz gut belegen, zumal die als unzuverlässig zu wertende Aussage "Nicht dass ich je besonders eitel gewesen wäre" (S. 289) dies zusätzlich noch stützt.

Narzissmus ist auch ein zentrales Motiv in "Dorian Gray" der sich ja immerhin mehr oder weniger in sein eigenes Bildnis "verliebt". Dorian Gray lagert seine böse Seite, seine Sünden und schlechten Taten - also alles was, das strahlende Aussehen beeinträchtigen könnte - in das Bild aus. Er kontrolliert auch regelmäßig mit einem Spiegel, dass er nun dem Bild nicht mehr gleicht, dass nur das Bild an seiner Stelle sich verändert.

Ähnlich wie auch in den finalen Äußerungen der Freunde, wird bei den Überlegungen des Gefangenen deutlich, dass er gar keine Möglichkeit mehr hatte, sich als etwas anderes als "unschuldig" darzustellen, denn die anderen "wollen dich so behalten, wie sie dich kennen" (S. 291) An der Stelle hinkt es allerdings für mich, denn Dorian Gray handelt nicht aus altruistischen Motiven, sondern aus egoistischen.

Und nicht nur deshalb nehme ich dem Gefangenen diese Haltung nicht wirklich ab, sondern auch weil er bereits zuvor ausgiebig mit dem "Doppelgänger"-Motiv gespielt hat. Ich kann nicht anders ;) : das ruft bei mir Stevenson "Dr. Jekyll and Mr. Hyde" auf den Plan, wo es um die Zwiegespaltenheit des Menschen zwischen Gut und Böse geht.

Schlussendlich ist für mich der letzte Absatz unter der so ausführlichen Bezugnahme des Gefangenen auf "Dorian Gray" als ein Schuldeingeständnis lesbar. Das "grotesk verzerrte Abbild" voller "Grausamkeit, Bitternis und Verachtung" (S. 292), das er aber im Gegensatz zu Dorian Gray nicht mehr loswerden kann, denn es ist "unzerstörbar" (S. 291), ist doch ein deutlicher Hinweis. Spannend ist dann noch der allerletzte Satz, über den man sicherlich noch gut diskutieren kann: "Und mein Gesicht zerfließt." (S. 292)...Zerfließt vor Tränen (der Reue, der Bitterkeit, des Verlusts)? Zerfließt, weil er selbst nicht mehr weiß, wer er überhaupt ist? Zerfließt, weil niemand ihn wirklich kennt, nicht einmal die Freunde? Zerfließt, weil er so lange für die Freunde eine Version von sich aufrecht erhalten hat, die nun diesen Kreis nicht mehr interessiert? Zerfließt, weil wir als Leserschaft ihn nicht einschätzen können?

Insgesamt ist es übrigens sehr interessant (und schön), dass sich Poschenrieder hier sehr klar auf typische Elemente der Gothic-Literatur beruft (Spiegel, Doppelgänger, Dorian Gray - das Gefängnis selbst ist in der Schauerliteratur ja auch ein beliebter Ort).

Ausnahmsweise finde ich ja auch mal das dem Roman vorangestellte Zitat überaus passend und gelungen. Inhaltlich passt es sowieso perfekt und ist ein weiterer Hinweis auf ein Schuldeingeständnis des Gefangenen. Dann ist es von Oscar Wilde und damit ein wunderbarer Brückenschlag zu "Dorian Gray" und schließlich stammt es aus "De Profundis", einem Brief, den Wilde schrieb, als er selbst im Gefängnis einsaß.
Beeindruckend, was Du alles weißt.
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Sie wirken wie mit leichter Feder hingeschrieben. Hast du die intertextualen Anlehnungen tatsächlich so abgespeichert, dass du sie "geschwind mal" abrufen kannst?
Vielen Dank :) Das allermeiste habe ich tatsächlich sehr präsent...Zu Gothic/Schauerroman und Märchen habe ich auch schon viel gemacht - quasi Heimspiel;)
So habe ich es wohl hauptsächlich gelesen, im Zusammenhang mit den zwei Gesichtern. Aber die anderen deiner Ansätze sind ebenfalls denkbar. Nur die Reue kann ich nicht erkennen. Es ist eher ein Befremden über sich selbst.
Ich favorisiere auch die zwei Gesichter, weil es auch mit Amanda Knox und dem Doppelgänger am besten zusammenpasst. Allerdings mag ich es SEHR, dass Poschenrieder mit seiner Wortwahl am Ende auch die Tür für eine weitere Möglichkeit (eben die Tränen) offen lässt.
By the way: Hast du von Julian Barnes "Der Mann im roten Rock" gelesen?
Nein, wollte ich aber immer. Ich mag Julian Barnes sehr.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Nein, wollte ich aber immer. Ich mag Julian Barnes sehr.
Solltest gerade du als Literaturkennerin nicht auslassen. Falls du bei Tauschticket aktiv bist: dort werden die Bücher gerade reihenweise angeboten. Und niemand will sie. Schluchz!

dass Poschenrieder mit seiner Wortwahl am Ende auch die Tür für eine weitere Möglichkeit (eben die Tränen) offen lässt.
Ja. Es dominiert keine Variante. Man muss auch keine Schuld herauslesen, wenn man auf der anderen Spur unterwegs ist. Das Ende hat dem Roman nochmal einen richtigen Kick gegeben. Fand ich super!
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
836
3.350
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Ja. Es dominiert keine Variante. Man muss auch keine Schuld herauslesen, wenn man auf der anderen Spur unterwegs ist. Das Ende hat dem Roman nochmal einen richtigen Kick gegeben. Fand ich super!
Ja, das macht es für mich auch immer besonders spannend. Ich liebe solche offenen Sätze am Ende. Dann ist für mich ein Roman gut über die Ziellinie gebracht!

Falls du bei Tauschticket aktiv bist: dort werden die Bücher gerade reihenweise angeboten.
Das kenne ich gar nicht...was ist das?