4. Leseabschnitt: DER KEIM IM STAUB - Kapitel 11 bis 20 (Seite 167 bis 220)

Irisblatt

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15. April 2022
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Ich assoziieren ja gerne rum. Ein Keim ist ein Symbol für Hoffnung und Leben. Wenn ein Samenkorn keimt, dann entwickelt sich etwas, wird es gehegt und gepflegt und bekommt alles, was es braucht, dann entsteht eine kräftige Pflanze, die auch widerstandsfähig ist.
Hier wird ein Keim genannt, der unter dem Staub war - Staub und verdeckt sein, sind keine Idealbedingungen - aber nichtsdestotrotz ist es ein Keim. Es besteht Hoffnung auf ein Leben nach den Ereignissen.
Dann fallen mir natürlich noch die eher negativen Redewendungen rund um Keim ein: Etwas im Keim ersticken, der Keim des Bösen - in diesen Fällen möchte man nicht, dass aus dem Keim eine kräftige Pflanze wird.
Jeder Mensch hat die Anlage, zu Grausamkeiten - diesen Keim gilt es zu ersticken. Den Keim der Menschlichkeit hingegen gilt es zu hegen. Vermutlich ist Karl derjenige, der den Keim des Bösen am besten im Griff hat. Allerdings hat auch er noch Entwicklungsbedarf, wenn es um sein Mitgefühl gegenüber Rolv geht.
Und jetzt seid ihr dran. :helo :cool:
 

Federfee

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13. Januar 2023
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Das ist, glaube ich, eine sehr wichtige Feststellung, die mir weiter hilft! Es ist auch eine andere Zeit, in der man dem Tod vielleicht noch anders gegenüberstand, weil er einfach häufiger vorkam. Aber die Typsache ist ganz wesentlich.
Ich erinnere mich, dass die beiden Mädchen im Roman 'Eis-Schloss' auch sehr reduziert miteinander sprachen; es klang hölzern und karg. Möglicherweise ist das eine Eigenart dieser Inselbewohner; vielleicht ist es auch der Zeit geschuldet, wie du schreibst.
 

Federfee

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13. Januar 2023
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Ich assoziieren ja gerne rum. Ein Keim ist ein Symbol für Hoffnung und Leben. Wenn ein Samenkorn keimt, dann entwickelt sich etwas, wird es gehegt und gepflegt und bekommt alles, was es braucht, dann entsteht eine kräftige Pflanze, die auch widerstandsfähig ist.
Hier wird ein Keim genannt, der unter dem Staub war - Staub und verdeckt sein, sind keine Idealbedingungen - aber nichtsdestotrotz ist es ein Keim. Es besteht Hoffnung auf ein Leben nach den Ereignissen.
Dann fallen mir natürlich noch die eher negativen Redewendungen rund um Keim ein: Etwas im Keim ersticken, der Keim des Bösen - in diesen Fällen möchte man nicht, dass aus dem Keim eine kräftige Pflanze wird.
Jeder Mensch hat die Anlage, zu Grausamkeiten - diesen Keim gilt es zu ersticken. Den Keim der Menschlichkeit hingegen gilt es zu hegen. Vermutlich ist Karl derjenige, der den Keim des Bösen am besten im Griff hat. Allerdings hat auch er noch Entwicklungsbedarf, wenn es um sein Mitgefühl gegenüber Rolv geht.
Und jetzt seid ihr dran. :helo :cool:
Wunderbare Assoziationen; mehr fällt mir dazu auch nicht ein. Aber alles passt gut.
 

Irisblatt

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15. April 2022
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Ich erinnere mich, dass die beiden Mädchen im Roman 'Eis-Schloss' auch sehr reduziert miteinander sprachen
Das möchte ich nun unbedingt zeitnah lesen.
; es klang hölzern und karg. Möglicherweise ist das eine Eigenart dieser Inselbewohner; vielleicht ist es auch der Zeit geschuldet, wie du schreibst.
Vielleicht ist es auch Vesaas Stil, der reduziert ist und dadurch viel Raum zwischen den Zeilen lässt. Ich mag das - also wenn es Raum gibt, wenn hinter den Andeutungen und dem Vagen so viel mehr steckt. Aber ich brauche auch Orientierung und eine Richtung für meine Gedanken. Bei Vesaas funktioniert das großartig.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Irisblatt, du bist schon klasse! Ich liebe deine Assoziationen.

Nun habe ich die ersten 5 Kapitel nochmal gelesen. So am Anfang bin ich oft noch nicht richtig aufnahmefähig, weil man ja noch nicht weiß, worum es genau geht.

Diese Schweinewelt und die gezeichneten Gegensätze sind schon toll, da hat schon jemand drauf hingewiesen.

Andreas kommt ohne Gepäck an und sagt: "Ich fahre nicht zurück." - Welch eine traurige Weitsicht. Wenn man um das Ende weiß, lesen sich viele Sätze ganz anders. Er ist auf der Suche nach Heilung, nach Hilfe, nach Frieden: "Hier werde ich Frieden finden." (Wie doppeldeutig!)
Hässliche Erinnerungen treiben ihn um, die Fabrik wird auf S. 17 erwähnt.

Auch das familiäre Verhältnis innerhalb von Familie Li wird skizziert. Die Geschwister waren früher schon sehr eng. Rolv war ein Außenseiter, er hatte keine Freunde, fühlt sich von den Insulanern verspottet. Laut Else mag er die Schule in der Stadt nicht mehr. Vielleicht will er sie beenden, um nicht genauso blöd wie sein Vater einst dazustehen? Er trägt eine Menge Konflikte mit sich herum und nimmt sich laut Mari vieles zu Herzen. Vermutlich haben diese Konflikte seine Reaktion in Bezug auf Andreas angeheizt.

Kari ist für mich das personifizierte schlechte Gewissen der Insulaner. Niemand mag sich mit ihr abgeben. Sie fragt überall, aber niemand antwortet. Sie ist offenbar immer dort, wo etwas Schlimmes passiert. Sie weiß vermutlich um alle Geheimnisse der Inselbewohner. Solche Leute mag man nicht.
Sie ist ein Schatten, der plötzlich auftauchte und für Schrecken sorgte. Würde sie nur von hier wegziehen und keine Unruhe mehr in den Herzen erregen. 37
Sie spürt am Ende die Selbstmordgedanken Rolvs und lenkt ihn zurück ins Leben. Sie lädt die Insulaner in die Scheune ein, damit sie gemeinsam mit ihrer Tat fertig werden können.
Sie ist selbst tief verletzt, hat aber ein Gespür für ihre Mitmenschen, die sich in ihrer Gegenwart aber unwohl oder erkannt fühlen. Facettenreiche Figur!
 

Federfee

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13. Januar 2023
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Vielleicht ist es auch Vesaas Stil, der reduziert ist und dadurch viel Raum zwischen den Zeilen lässt. Ich mag das - also wenn es Raum gibt, wenn hinter den Andeutungen und dem Vagen so viel mehr steckt. Aber ich brauche auch Orientierung und eine Richtung für meine Gedanken. Bei Vesaas funktioniert das großartig.
Ich habe immer gedacht, so ein reduzierter Stil wäre 'nicht mein Fall'. Vesaas hat mich eines anderen belehrt, aus den Gründen, die du anführst. Er kann das!
Im Eis-Schloss klangen für mich nur die Dialoge hölzern oder sehr reduziert. Die Beschreibung des Eises fand ich unglaublich bildhaft.
 

Federfee

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13. Januar 2023
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Kari ist für mich das personifizierte schlechte Gewissen der Insulaner. Niemand mag sich mit ihr abgeben. Sie fragt überall, aber niemand antwortet. Sie ist offenbar immer dort, wo etwas Schlimmes passiert. Sie weiß vermutlich um alle Geheimnisse der Inselbewohner. Solche Leute mag man nicht.
Sie spürt am Ende die Selbstmordgedanken Rolvs und lenkt ihn zurück ins Leben. Sie lädt die Insulaner in die Scheune ein, damit sie gemeinsam mit ihrer Tat fertig werden können.
Sie ist selbst tief verletzt, hat aber ein Gespür für ihre Mitmenschen, die sich in ihrer Gegenwart aber unwohl oder erkannt fühlen. Facettenreiche Figur!
Ja, diese Kari. Der habe ich bisher zu wenig Beachtung geschenkt. Schön, dass du das hier ein bisschen erläuterst. Sie ist wirklich eine wichtige Person.
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Der 4. LA schildert vor allem ein Gemeinschaftserlebnis. Kari Nes - eine Außenseiterin in dieser Gemeinschaft treibt die Dorf-/Inselbewohner zusammen zu der Scheune des Li-Hofes - des Kernpunktes des Geschehens, wohnen hier doch das Opfer Nr. 1 sowie der Täter Nr. 1. Sie tut dies aus eigenem Antrieb, ohne von irgendjemand dazu aufgefordert zu sein. Und tut doch genau das Richtige, denn nicht in der Einsamkeit, nicht im Alleinsein finden die Beteiligten Halt und so etwas wie Trost und Perspektive, sondern genau in dieser Gemeinschaft, in der sie sich geradezu "suhlen" (in den Schweineboxen.
Vor allem in diesem LA hat mir das Buch einen fast fertigen Film zum Geschehen im Kopf geliefert. Die Situationen werden zwar sehr minimalistisch, aber dabei ungemein anschaulich geschildert, so dass sich bei mir wie von selbst dieser Film im Kopf zusammengesetzt hat. Vesaas schafft hier also einen Erzählstil, der den Leser sehr in Atem hält und "mitnimmt".
Ich bekenne: Erst aus dem Nachwort habe ich erfahren, dass dies ein Roman schon aus dem Jahr 1940 und kein Gegenwartsroman ist. Schande über mich, aber Vesaas war mir bisher gar kein Begriff. Da habe ich bisher wirklich etwas verpasst! Schön, dass ich das nun in dieser Leserunde etwas aufholen konnte. :)
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Es schwingt immer etwas mit, das mir die Erschütterung der Eltern durchaus vermittelt.
Ich habe das sogar als gewaltige Erschütterung erlebt. Diese führt beinahe zu einer Sprachlosigkeit. Die Ereignisse sind so entsetzlich, dass wohl auch der Keim mindestens bei den Eltern lange brauchen wird, bis er gedeiht.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Ihr habt fast alles schon so klug und ausführlich besprochen, dass ich die ganzen markierten Zitate wieder löschen konnte.

Ich habe den letzten Abschnitt als ungemein bedrückend wahrgenommen. Die Menschen sind überfordert mit ihrer eigenen Schuld. Nahezu alle, vor allem diejenigen bei den Schweinen. Und Karl ist so erdrückt, dass er nicht die richtigen Worte findet. Das hat Tarjei Vesaas in meinen Augen brillant dargestellt.

Meine Lieblingsszene des ganzen Buches ist, als die Braune an Rolv knabbert. Hier präsentiert sich ein Tier mal wieder empathischer und menschlicher als der Mensch selbst. So etwas nimmt mich immer mit.

Konsequent auch, dass Vesaas letztlich auf Schuldzuweisungen verzichtet. Wir tappen im Dunkeln hinsichtlich Andreas' Schuld, hinsichtlich Rolvs Schuld, hinsichtlich der Kollektivschuld. Meiner Ansicht nach sind die großen Themen des Romans Schuld und Vergebung. Auf diese Themen muss der Leser eigene Antworten finden.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ich fand die Bildhaftigkeit dieses letzten Abschnitts überwältigend, und das, obwohl ich mich (wegen Hausbesuch) nur schwer zum Lesen zurückziehen kann. Das erleuchtete Zimmer, in dem die Tote liegt und das mehrmals mit einem dahinfahrenden Schiff verglichen wird; die Leute, die sich in der Scheune versammeln und dort die Nacht hinbringen, allein auf sich selbst zurückgeworfen ... Dann in der Frühe die Anzeichen, dass das Leben weitergeht: das Pferd, das aus dem Stall gelassen wird (es gibt wenig, was so tröstlich ist wie so ein gemütliches, warmes Riesentier), das Grün der Insel, die trotzige Schwangere.

So schön das alles ist, wenn man es als Parabel liest, so unzufrieden bin ich doch die ganze Zeit gewesen im Hinblick auf den Umgang mit der Schuld in dieser Gemeinschaft bzw. auf den Umgang mit der Schuld von seiten des Romans selbst. Nach dem Lesen des Nachworts habe ich das Gefühl, von einer Denkfalle in die andere getappt zu sein. Ich werde das im Fazit noch ausführen, halte es einstweilen nur hier fest, damit ich mich morgen wieder daran erinnere.
 

Federfee

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13. Januar 2023
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so unzufrieden bin ich doch die ganze Zeit gewesen im Hinblick auf den Umgang mit der Schuld in dieser Gemeinschaft bzw. auf den Umgang mit der Schuld von seiten des Romans selbst.
Unzufrieden bin ich damit nicht, aber es stimmt, dass es keinen breiten raum einnimmt. Aber dann wäre es ein anderes Buch gewesen. Mir ist es lieber so, dass ich mir selber Gedanken um das Mitläufertum und die Schuld machen kann.
 

dracoma

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16. September 2022
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Hier war ich von Kari Nes überrascht. Ohne sie wäre Rolv vielleicht nicht zurückgekehrt.

Ich war auch überrascht. Vorher geisterte sie über die Insel und erinnerte die Inselbewohner immer daran, welches Unglück die Menschen treffen kann - und jetzt wird sie aktiv und zwingt Rolv ins Leben zurück.
Sie zeigt auch Mitgefühl für Mari: "Mich haben sie auch verlassen" (S. 196). Kari erkennt offenbar wie Karl, wie es in Mari ausschaut: dass sie sich - ich hatte das im 3. LA schon gesagt - mit der toten Tochter wie auf einem Schiff befindet und davonsegelt.
Und auch hier holt sie Mari, so wie Rolv, wieder ins Leben zurück durch den Verweis auf ihr eigenes Schicksal.

Jeder setzt sich am Ende mit eigener Schuld und Verantwortung auseinander.

Ja, aber sie hätten es gerne etwas leichter gehabt. Sie drängen Karl in eine Art Priesterrolle und erhoffen von ihm eine Absolution, die der aber verweigert. Er wirft die Menschen auf ihre eigene Verantwortung zurück, und so stehen sie da und müssen mit sich selber klarkommen.

manches wird zweimal aus unterschiedlichen Perspektiven wiedergegeben,

Stimmt, das war mir im 1. LA schon aufgefallen! Wirkt wie im Film!
Er wird verhaftet und verurteilt werden, das wissen wir aber schon.
Genau, das sehe ich auch so. Am Ende des Romans wartet er nämlich auf das Polizeiboot, das ihn holen wird. Eine schöne Stelle, finde ich: bevor das Boot kommt, holt der Vater ihn wieder ins Haus, in den Schutz der Familie zurück.

Mir geht nach wie vor die Scheune im Kopf herum. Die Scheune steht im Mittelpunkt des Geschehens, buchstäblich und im übertragenen Sinn. Auch diese Suche nach Buße findet in der Scheune statt.
Mir haben die Gegensätze gut gefallen: die dunkle Scheune - das hell erleuchtete Zimmer Ingas. Der Erzähler spielt mit diesen Gegensätzen. Und die Gespräche finden immer im Beisein der Toten statt; sei es das Gespräch zwischen Rolv und seinen Eltern oder jetzt hier die Versammlung. Das Zimmer der toten Inga wirkt leicht, während von dem Toten in der Scheune ein schweres Gewicht ausgeht.
Das sind schöne Bilder, mit denen hier Schuld und Unschuld "gemalt" werden!
 

Barbara62

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19. März 2020
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Baden-Württemberg
mit-büchern-um-die-welt.de
Doch auch die Eltern Li sind total gefasst. Es dreht sich alles nur noch um Rolv, als hätte es Inga nie gegeben. Damit habe ich Schwierigkeiten. Wenn man wirklich Angst hätte, nun auch noch das zweite Kind zu verlieren, dann sollte man es doch in solch einer Extremsituation nicht wegschicken? Disziplin und Erziehung an so einer zerbrechlichen Stelle im Angesicht der toten Inga?
Ich bin nicht so streng mit den Eltern. Sie sehen Rolv im Moment als das noch drängendere Problem an, weil sie ihn nicht auch noch verlieren möchten. Sie schicken ihn nicht weg, aber Karl kann auch nicht über seinen Schatten springen und die Tat gutheißen.

Kari Nes ist eine Außenseiterin - vermutlich wurde sie es durch den Tod ihres Ehemannes und Sohnes. Das sagt viel über die Gesellschaft aus. Ich habe schon häufig gehört, dass sich Freunde, Familie abwenden, wenn jemandem großes Unglück wiederfährt. Für mich völlig unverständlich, weil die Betroffenen gerade dann Unterstützung brauchen bzw. jemanden, der weiterhin einfach nur da ist. Kari Nes kennt den Schmerz, die Trauer. Sie sieht auf die Geschehnisse mit einer gewissen Distanz, eben auch, weil sie von den anderen gemieden wird. Sie weiß jedoch, was wichtig ist, weiß, dass ein weiterer Tod alles nur schlimmer machen würde und kümmert sich daher um Rolv. Dachte ich im ersten Teil noch sie sei eine Art Todesbotin, sehe ich sie nun eher als tragische Person, die dem Leben zugetan ist. Sie ahnt auch, wie wichtig ein Zusammentreffen der Beteiligten ist (auch wenn letztendlich jeder auf sich selbst zurückgeworfen ist, hilft es trotzdem die Gemeinschaft zu spüren, zu merken, dass andere auch leiden).
Vielleicht habt ihr auch noch Ideen zu dieser Figur?
Im ersten Abschnitt hieß es über sie: "Als hätte sie mit irgendwem einen Pakt geschlossen, dass sie die Leute aufstörte und sie daran hinderte zu vergessen, was für ein jämmerlicher Haufen sie waren." (S. 43)

So ganz verstehe ich diesen Satz nicht, denn warum sind sie jämmerlich? Weil sie nicht mit Karis Unglück umgehen können? Oder ist das Wort "jämmerlich" anders gemeint, im Sinne von "machtlos, dem Schicksal ausgeliefert"?

Ich bin sicher, das muss man mindestens zweimal lesen, wie es bei ganz großer Literatur angebracht ist. Zum Glück ist es ein relativ dünnes Büchlein.
Tatsächlich habe ich diesen Abschnitt zweimal gelesen und es ist definitiv ein Buch, das ich mit Abstand ein weiteres Mal ganz lesen will. Wie schade, dass Vesaas nie den Literaturnobelpreis bekommen hat, für den er ja nominiert war (in einer Zeit, als es noch Nominierungen gab). Er wäre dann vielleicht weniger vergessen worden. Seine Bücher sind so zeitlos.

Das ist, glaube ich, eine sehr wichtige Feststellung, die mir weiter hilft! Es ist auch eine andere Zeit, in der man dem Tod vielleicht noch anders gegenüberstand, weil er einfach häufiger vorkam.
Nicht nur eine andere Zeit, sondern auch eine andere Mentalität. Es wird weniger geredet im hohen Norden, das ist eine kein Klischee, sondern meine Tochter hat es während ihres Studiums in Schweden so erlebt. Karl und Mari verstehen sich ohne Worte. Sie trauern deshalb nicht weniger als in Ländern, in denen Klageweiber laut ihren Kummer zum Ausdruck bringen. Die Lichter im Totenzimmer sagen alles.

Kari ist für mich das personifizierte schlechte Gewissen der Insulaner. Niemand mag sich mit ihr abgeben. Sie fragt überall, aber niemand antwortet. Sie ist offenbar immer dort, wo etwas Schlimmes passiert. Sie weiß vermutlich um alle Geheimnisse der Inselbewohner. Solche Leute mag man nicht.

Sie spürt am Ende die Selbstmordgedanken Rolvs und lenkt ihn zurück ins Leben. Sie lädt die Insulaner in die Scheune ein, damit sie gemeinsam mit ihrer Tat fertig werden können.
Sie ist selbst tief verletzt, hat aber ein Gespür für ihre Mitmenschen, die sich in ihrer Gegenwart aber unwohl oder erkannt fühlen. Facettenreiche Figur!
Sie selbst musste mit ihrem Unglück ganz alleine fertigwerden. Nun sorgt sie dafür, dass die Insulaner ihr Trauma im Kollektiv verarbeiten können.

Auch das familiäre Verhältnis innerhalb von Familie Li wird skizziert. Die Geschwister waren früher schon sehr eng. Rolv war ein Außenseiter, er hatte keine Freunde, fühlt sich von den Insulanern verspottet. Laut Else mag er die Schule in der Stadt nicht mehr. Vielleicht will er sie beenden, um nicht genauso blöd wie sein Vater einst dazustehen? Er trägt eine Menge Konflikte mit sich herum und nimmt sich laut Mari vieles zu Herzen. Vermutlich haben diese Konflikte seine Reaktion in Bezug auf Andreas angeheizt.
Mit dem Weggang von Rolv hat Vesaas auch Biografisches verarbeitet. Er selbst war der älteste Sohn und damit Erbe eines Hofes in Telemark, ist aber fortgegangen und hat das Erbe ausgeschlagen. Darunter hat er sein Leben lang gelitten und hatte ein schlechtes Gewissen. Rolv dagegen beteuert von Anfang an, dass er zurückkehren und seiner Bestimmung gerecht werden will. Vielleicht ist er deshalb so hin- und hergerissen.
 
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Federfee

Bekanntes Mitglied
13. Januar 2023
2.129
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Ihr habt fast alles schon so klug und ausführlich besprochen,
Na, du hast aber noch sehr zutreffende Worte gefunden.
Die Menschen sind überfordert mit ihrer eigenen Schuld. Nahezu alle, vor allem diejenigen bei den Schweinen. Und Karl ist so erdrückt, dass er nicht die richtigen Worte findet. Das hat Tarjei Vesaas in meinen Augen brillant dargestellt.
Ja, genial, brillant dargestellt, ganz große Literatur.
Meine Lieblingsszene des ganzen Buches ist, als die Braune an Rolv knabbert.
Das fand ich auch sehr anrührend; die Natur kann anscheinend einiges heilen oder zur Heilung beitragen.
Meiner Ansicht nach sind die großen Themen des Romans Schuld und Vergebung. Auf diese Themen muss der Leser eigene Antworten finden.
Die Themen: Ja!! Und auch das macht große Literatur aus: der Leser muss sich selbst Gedanken machen; es arbeitet in ihm fort.
 

dracoma

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16. September 2022
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ch assoziieren ja gerne rum. Ein Keim ist ein Symbol für Hoffnung und Leben. Wenn ein Samenkorn keimt, dann entwickelt sich etwas, wird es gehegt und gepflegt und bekommt alles, was es braucht, dann entsteht eine kräftige Pflanze, die auch widerstandsfähig ist.
Hier wird ein Keim genannt, der unter dem Staub war - Staub und verdeckt sein, sind keine Idealbedingungen - aber nichtsdestotrotz ist es ein Keim. Es besteht Hoffnung auf ein Leben nach den Ereignissen.
Darf ich das weiterdenken...?

Mir sind die biblischen Anklänge im letzten Teil aufgefallen, und ich hoffe, ich kriege das jetzt alles in die richtige Reihe, ansonsten bitte Geduld haben mit mir...

Erst einmal bei Rolv (S. 191), als er mit dem Gedanken an seinen Selbstmord spielt. "Und dann kommt ein Tag, wo alle, die sich in Gräbern versteckt haben, eine gellende Stimme hören werden". Das ist der dies irae, der Tag des Jüngsten Gerichts, der Tag der Vergeltung.

Kari ist es, die ihn ins Leben zurückweist, und im Gespräch mit Rolv spricht sie vom Senfkorn: "Hätte man nur Glauben wie ein Senfkorn, Rolv, man bräuchte sich kein bisschen mehr zu fürchten" (S. 172). Damit spielt sie auf ein Gleichnis im Neuen Testament an: das Senfkorn ist winzig klein, aber dennoch wächst es zu einem großen Baum heran, in dem die Vögel des Himmels nisten. Das wird meistens als Gleichnis für das Ausbreiten des Christentums gelesen, aber hier kann man es auch anders lesen: der Keim des Guten da, und dieser Keim kann sich entwickeln und mächtig werden.

An anderer Stelle greift Kari auch wieder auf ein bibliches Gleichnis zurück: das Gleichnis mit den Vögeln. Sie ist immer noch bei Mari in der Totenkammer, diesem "schimmernd dahinziehendem Zimmer" (S. 176; ich finde dieses Bild so schön...). Kari bemüht sich, Mari von dem Totenschiff herunterzubringen und wieder ins Leben zu ziehen. Sie sagt: "Was glaubst du von dem Vogel, der auf den Boden fällt?" (S. 196).
Das Gleichnis geht etwa so: Zwei Spatzen kann man für billges Geld kaufen, sie sind also nicht viel wert. Und trotzdem: keiner von ihnen fällt auf die Erde, ohne dass es der Vatergott merkt.
Kari vermittelt Mari mit diesem Gleichnis das Gefühl, dass sie behütet ist und dass auch Inga behütet ist.
Mari versteht diese Sprache. Trotzdem kann sie zunächst nicht anders: "Mari Li stand an Bord des Schiffes, das sie sich errichtet hatte" (S. 197).

Aber letztlich geht auch bei ihr der Keim auf: sie verlässt das Totenschiff und geht in die Scheune, zu ihrem Mann und den anderen.
 
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dracoma

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16. September 2022
1.706
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Was ich eben vergessen habe: der Keim im Staub.

Das ist ein Anklang an das Alte Testament (Buch Moses): Staub bist du und zu Staub wirst du wieder werden.

"Keim im Staub" ist also nicht das Senfkorn, das im Straßenstaub liegt, sondern der Keim im Menschen, der sich entwickeln kann.

Das ist doch ein sehr tröstlicher Schluss nach diesem Inferno.

Ich finde den Post leider nicht mehr, aber einer sagte, dass der Roman ihm wie eine Parabel vorkommt. Das finde ich auch. Dieses stumme Zusammenkommen in der Scheune die ganze Nacht über mit dem erschlagenen Mann - das hat für mich nichts Realistisches mehr. Ich finde auch, dass das eine Parabel ist über das, was im Menschen als Keim angelegt ist: zum Bösen, aber erst recht zum Guten.

So, jetzt noch das Nachwort.
 
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Federfee

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13. Januar 2023
2.129
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Darf ich das weiterdenken...?
Und wie gerne du das darfst! Ich bin sowieso ganz hin und weg nicht nur über das Buch, sondern auch über alles, was ihr hier so äußert und was mein Verständnis fürs Buch nochmal erweitert und vertieft.
Mir sind die biblischen Anklänge im letzten Teil aufgefallen,
Mir waren Karis Anmerkungen zwar aufgefallen, aber ich habe sie nicht so ganz verstanden, hätte ich eigentlich müssen, denn in T.C. Fosters Buch - in dem ich gelegentlich lese - ist die Rede davon, wie viel man in manchen Büchern aus der Bibel finden und was man daraus ersehen kann bzw. wie es beim Verständnis hilft. Das hast du hier ganz großartig zusammengestellt. :thumbsup


Kari ist es, die ihn ins Leben zurückweist, und im Gespräch mit Rolv spricht sie vom Senfkorn: "Hätte man nur Glauben wie ein Senfkorn, Rolv, man bräuchte sich kein bisschen mehr zu fürchten" (S. 172). Damit spielt sie auf ein Gleichnis im Neuen Testament an: das Senfkorn ist winzig klein, aber dennoch wächst es zu einem großen Baum heran, in dem die Vögel des Himmels nisten. Das wird meistens als Gleichnis für das Ausbreiten des Christentums gelesen, aber hier kann man es auch anders lesen: der Keim des Guten da, und dieser Keim kann sich entwickeln und mächtig werden.
Das bestätigt meine Annnahme, wie der Titel gemeint ist.
...h bei Mari in der Totenkammer, diesem "schimmernd dahinziehendem Zimmer" (S. 176; ich finde dieses Bild so schön...). Kari bemüht sich, Mari von dem Totenschiff herunterzubringen und wieder ins Leben zu ziehen. Sie sagt: "Was glaubst du von dem Vogel, der auf den Boden fällt?" (S. 196).
Das Gleichnis geht etwas so: Zwei Spatzen kann man für billges Geld kaufen, sie sind also nicht viel wert. Und trotzdem: keiner von ihnen fällt auf die Erde, ohne dass es der Vatergott merkt.
Kari vermittelt Mari mit diesem Gleichnis das Gefühl, dass sie behütet ist und dass auch Inga behütet ist.
Mari versteht diese Sprache. Trotzdem kann sie zunächst nicht anders: "Mari Li stand an Bord des Schiffes, das sie sich errichtet hatte" (S. 197).
Ganz, ganz wunderbar und tröstlich.

... dass der Roman ihm wie eine Parabel vorkommt. Das finde ich auch. Dieses stumme Zusammenkommen in der Scheune die ganze Nacht über mit dem erschlagenen Mann - das hat für michts Realistisches mehr. Ich finde auch, dass das eine Parabel ist über das, was im Menschen als Keim angelegt ist: zum Bösen, aber erst recht zum Guten.
Passt!