Endlich, endlich, habe ich einen Zugang zu diesem Roman gefunden! Die beiden Protas sind erwachsen geworden. Das strahlt (zum Glück) auch der Text aus. Ich sehe keine Anlehnungen beim Schelmenroman mehr. Im Gegenteil: Beide Hauptfiguren erscheinen mir sehr glaubwürdig und gereift in ihrem Umfeld.
Gelungen finde ich die abwechselnde Erzählweise: mal erleben wir Rico, mal Simon. Dadurch wird die Diskrepanz zwischen den beiden deutlich: Simon hat fleißig gearbeitet. Er sprüht vor Ideen, hat schon viel Geld beiseite gelegt. Trotzdem "schwimmt er zwischen den Wassern", kann seine Herkunft nicht abstreifen, auch wenn er sie verleugnet. Es sieht so aus, als ob er sein Geld mehren könnte, wenn er mit der reichen Familie seines Freundes Biel zusammenarbeitet. Der Sex mit Biels Schwester macht die Hoffnungen brutal zunichte: dem kapitalistischen Vater reicht es nicht, Simon fortzuschicken, er diskreditiert ihn auch in der gesamten Gourmetbranche. Hart und unfair!
Indessen hat sich Rico ein Netz aus Lügen gesponnen. Ich habe den Eindruck, dass er seine Geschichten selber glaubt. Er ist komplett gescheitert, bedauert sich dabei selbst. Nur die Umstände sind Schuld an der Misere...
Beide treffen sich endlich wieder. Langsam sind wir an diesen Punkt gelangt. Mir hat es gefallen, dass sich die beiden Entfremdeten jetzt nicht freudestrahlend in die Arme gesunken sind. Das hätte nicht zur jahrelangen Kontaktlosigkeit gepasst. Da bleibt der Roman erstaunlich nüchtern.
Ich habe ein paar Themen ausgemacht, um die es Otero gehen könnte: Die weiblichen Figuren werden abgesehen von Beth relativ aktivistisch gezeichnet. Estela setzte sich schon früh für Klima, Umwelt und Vegetarismus ein. Ona kritisiert den ererbten Reichtum, das Establishment, den Kapitalismus und den Rassismus. Estelas Buchladen bedient zudem eine Nische. Das ist kein Zufall. Geld, seine Verteilung, seine Möglichkeiten, seine Bedeutung... zeigt sich an vielen Stellen.
Genutzte und vergebene Chancen. Das wahre Leben vs. Geschichten in Büchern. Selbstfindung.
Heimat und Zuhause. Wobei mir die nostalgischen Rückblicke auf das Baraja desöfteren zu langwierig geraten sind.
Die Formulierungskunst begeistert mich immer wieder. Ich habe mir zahlreiche Bonmots angestrichen. Nicht immer bin ich sicher, ob es sich um Zitate oder Erfindungen des Autors handelt. Schön sind sie allemal! Die literarischen Bezüge werden wunderbar eingearbeitet.
Bsp.: "Die Flüssigkeit ihrer Freundschaft war noch da, aber sie war schal geworden. Keine Kohlensäure mehr." 289 (Kennt das nicht jeder? Fantastisch auf den Punkt gebracht!)
Es gefällt mir, wie jetzt alle wieder zusammenfinden. Allerdings befürchte ich, dass es auch Beth nicht so gut geht, wie es scheint und sie Simons Geld verzockt hat. Möglicherweise muss er ganz neu anfangen - vielleicht in der Spelunke seiner Familie...
Auf S. 324 präsentiert sich der Autor eventuell selbst. Kleiner Scherz am Rande.
In Summe hat mich dieser Leseabschnitt einigermaßen gefesselt. Ich finde das Schreibkonzept interessant, in dem wir den Figuren nur etwa alle 2 Jahre begegnen. Das Dazwischen bleibt überwiegend unerwähnt oder nur stichwortartig angerissen. Auch vermeidet Otero große Gefühle, was zu diesem Personal auch gut passt. Sie sind alle verhältnismäßig cool. Ob Camela unter der Trennung von Simon gelitten hat, erfahren wir nicht. Mit Emotionen wird sparsam umgegangen.