Rezension (4/5*) zu Vollkommen von Patricia Rabs

M

Mikka Liest

Gast

"Vollkommen" ist eine sehr einfallsreiche Dystopie - eben nicht der tausendste Abklatsch der erfolgreichen "Stars" des Genres, wie "Die Tribute von Panem", sondern etwas ganz Eigenes mit einer besonderen Atmosphäre und einer interessanten Grundidee, die viel Stoff zum Nachdenken bietet.

In der bedrückenden Welt, die uns die Autorin beschreibt, kann man sich glücklich schätzen, wenn man in der sogenannten "Mitte" lebt, sich ab und an den unerhörten Luxus eines Apfels oder einer Banane gönnen und seinen Kindern die Schule finanzieren kann. Wer so richtig im Wohlstand lebt, kann sogar den ganzen Winter hindurch heizen! Am "Rand" sieht das schon ganz anders aus: frisches Obst und Gemüse kann sich keiner leisten, die meisten Kinder können nicht mal lesen oder schreiben, und im Winter kann man sich nur in zerlumpte Decken wickeln und hoffen, dass man in der Nacht nicht erfriert.

Wer in der Mitte lebt und wer am Rand, das wird nicht etwa entschieden durch Arbeitswillen, Bildung oder andere Faktoren, die ein Mensch vielleicht beeinflussen kann, sondern einzig und alleine von der Qualität seines Blutes. Mit 15 können sich Jugendliche testen lassen, und wenn ihr Blut den Ansprüchen genügt, müssen sie zwei Jahre lang alle möglichen Vitamine und Medikamente einnehmen und dürfen dann von ihrem 17. bis zu ihrem 25. Geburtstag regelmäßig Blut spenden. Und das wird richtig, richtig gut bezahlt. Schon ein Blutspender kann eine ganze Familie ernähren, und mehrere Kinder zu haben, die spenden, kann eine Familie schwindelerregend reich machen!

Familien, deren Kinder abgelehnt wurden, haben dagegen kaum eine Chance, der Armut zu entkommen. Und wem das nicht passt, der sollte es nicht zu laut sagen. Am besten schaut man auch weg, wenn der Nachbar, der Kritik geäußert hat, deportiert wird... Warum das Ganze? Das möchte ich auch noch nicht verraten, aber nein, es hat nichts mit Vampiren zu tun.

Die Geschichte fand ich von der ersten Seite an sehr spannend, sehr geheimnisvoll. Ich stellte immer neue Theorien auf, was die Regierung wohl mit dem ganzen Blut vorhat, und wurde dann gegen Ende doch komplett überrascht! Damit hatte ich nicht gerechnet, und ich finde die Idee sehr interessant und leider auch nicht so ganz abwegig. Die Spannung schraubt sich immer weiter hoch, und ab einem gewissen Punkt ist die Geschichte sehr rasant und actionreich.

Die Hauptfigur, Teresa, gefiel mir erst richtig gut. Am Anfang ist sie einfach nur eine sympathische junge Frau, die von einem besseren Leben für ihre Familie träumt. Dann stellt sich ihre Welt über Nacht auf den Kopf, und ihre Liebe scheint schon verdammt, bevor sie richtig angefangen hat... Ich habe sehr mit ihr mitgefühlt und mitgefiebert. Im Laufe der Geschichte hat mich dann aber immer wieder befremdet, wie launenhaft sie sein kann. Mal ist sie unerträglich naiv und beinahe schon märtyrerhaft, dann wirkt sie wieder sehr ich-bezogen und sogar etwas selbstsüchtig. Eigentlich ist ihr egal, wie krank die Gesellschaft ist. Sie will nur, dass es ihr und ihren Lieben gut geht. Erst sehr spät in der Geschichte entwickelt sie Kampfgeist über den reinen Überlebenswillen hinaus.

Aber vielleicht bin ich da auch etwas zu streng mit ihr, sagte ich mir letztendlich. Sie ist schließlich völlig überfordert mit der ganzen Situation, und es ist für den Leser einfach, Kampfwillen zu fordern, wenn die eigene Familie nicht bedroht wird, nicht wahr? Außerdem ist sie in einer Gesellschaft großgeworden, in der Zivilcourage tödlich sein kann und das Wegschauen zum Volkssport geworden ist. Mit gemischten Gefühlen folgte ich dem Geschehen und dachte immer wieder über Teresa nach - und ist das nicht das Merkmal eines guten Charakters? Gegen Ende hatte ich dann wieder meinen Frieden mit ihr gemacht, und im Rückblick würde ich sagen: ja, doch, sie ist ein guter Charakter.

Auch mit Lukas durchlief ich ein Wechselbad der Gefühle. Manchmal fand ich ihn richtig großartig, dann fragte ich mich wieder, was Teresa eigentlich an ihm findet. Die beiden haben scheinbar sehr wenig gemeinsam. Sie war immer schon hungrig nach Bildung und versessen aufs Lesen, und er hat eigentlich überhaupt keine Lust darauf, das Lesen zu lernen, sondern hängt lieber mit seinen Kumpels ab. Aber natürlich ist er im Grunde das Produkt der Welt, in der er lebt, denn er wurde am "Rand" geboren. Woher soll die Lust auf Bildung kommen, wenn Bildung Luxus ist und man sich erstmal darum kümmern muss, nicht zu erfrieren oder zu verhungern? Auf jeden Fall ist er mutig, loyal und fest entschlossen, Teresa zu beschützen, und damit hat er dann doch noch mein Herz gewonnen.

Dennoch, die Romantik kam blieb für mich eher lauwarm... Es gibt auch eine Dreiecksgeschichte, und das hasse ich ehrlich gesagt normal wie die Pest. Allerdings fand ich es hier noch erträglich und ich konnte es sogar ein Stück weit nachvollziehen, denn hier geht es um junge Menschen in einer Extremsituation, und da können Gefühle wie Angst und Dankbarkeit schon mal für emotionales Chaos sorgen.
Der Schreibstil gefiel mir sehr gut. Er liest sich leicht und angenehm und beschwört mit Leichtigkeit eine Welt herauf, die unserer völlig fremd und doch sehr ähnlich ist.

Fazit:
Eine Welt, in der Angst und Armut an der Tagesordnung sind und Blut eine Währung darstellt. Eine Heldin, die wegen ihres Blutes erst eine Ausgestoßene ist und dann etwas Kostbares, das von vielen Menschen begehrt wird. Die Geschichte ist originell, spannend und regt zum Nachdenken an, und bis zum Ende tappte ich im Dunkeln, was hinter all dem steht. Die beiden Protagonisten waren für mich nicht unproblematisch, aber definitiv interessant! Für mich ist "Vollkommen" eine der interessanteren Dystopien der letzten Jahre.

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