3. Story: "Auswege" (Seite 283 bis 302)

Christian1977

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Ja... ich fand seinen Witz (1. Seite) schon sehr seltsam. Jedenfalls nicht kindgemäß. Der Vater verschwindet auf eine merkwürdige Art: er kauft sich einen Stock und schauspielert eine neue Identität, bei der seine Tochter keinen Platz mehr hat.
Beide Elternteile belügen und betrügen Lizzie. Sei es die Geschichte mit dem Großvater, die mit dem Stock oder die mit dem Bären. Sie verspielen damit Lizzies Vertrauen.
Lizzie hat kein Vertrauen zum Platzanweiser.
Das könnte in meinen Augen ebenfalls damit zusammenhängen. Sie hat keine Erwachsenen um sich, denen sie vertrauen kann.
 
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Was der Mann erzählt, klingt glaubwürdig. Die Tochter hat den Ausweg gefunden, die Mutter nicht. Was immer das heißt.
Ich denke, die Mutter hat Selbstmord verübt; in jedem Fall ist sie tot. Die Tochter hat es vielleicht geschafft, den Kreislauf zu durchbrechen. Zumindest bin ich mir sicher, dass sie lebt. Was immer das auch in der Sichtweise von Joy Williams bedeutet...
Ich verstehe nur einen Bruchteil. Aber diese Story hat mir gefallen.
Das geht mir bei mehreren Geschichten so. Ich lese sie gerne, merke: es steckt mehr drin, als ich verstehe. Ich habe aber zugegeben nicht immer die Muße, mich mit jeder einzelnen Geschichte so intensiv zu beschäftigen, dass sich mir nach mehrerem Lesen nach und nach Zugänge eröffnen.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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"Liebe" und "Auswege". Die beiden vielleicht bedeutungsvollsten Titel stehen also ganz am Anfang und ganz am Ende des Erzählbandes.

Erneut steht eine einsame Figur im Mittelpunkt des Interesses. Lizzie ist praktisch auf sich allein gestellt, die Eltern eine einzige Enttäuschung. Sie lügen und betrügen, der Vater verschwindet, die Mutter trinkt.

Die zersägte Frau, die wieder zusammengesetzt wird, könnte man, wie oben jemand schrieb, als Wunsch nach einem Neuanfang deuten. Für mich repräsentiert es die Zerrissenheit der Mutter, vielleicht aber auch Lizzies.

Zum Traum mit den grauen Haaren im Auto fällt mir ein, dass er Lizzies Angst vor dem Altern, vor dem Erwachsenwerden bedeuten könnte. Ein Albtraum, so viele wachsende Haare im Auto zu haben. Ein Albtraum, erwachsen zu werden. Bis das Auto vor lauter Haaren zerberstet - bis zum Ende der Kindheit oder gar bis zum Tod.

Die Geschichte finde ich insgesamt intensiv und stark.
 

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29. März 2022
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"Liebe" und "Auswege". Die beiden vielleicht bedeutungsvollsten Titel stehen also ganz am Anfang und ganz am Ende des Erzählbandes.
Gut beobachtet. Ich habe mich insgesamt auch gefragt, ob die Reihenfolge der stories von Bedeutung ist?
Zum Traum mit den grauen Haaren im Auto fällt mir ein, dass er Lizzies Angst vor dem Altern, vor dem Erwachsenwerden bedeuten könnte. Ein Albtraum, so viele wachsende Haare im Auto zu haben. Ein Albtraum, erwachsen zu werden.
Interessante Interpretation. Klingt plausibel. Ich wäre selbst nie drauf gekommen...
 

dracoma

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16. September 2022
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Sei es die Geschichte mit dem Großvater, die mit dem Stock oder die mit dem Bären. Sie verspielen damit Lizzies Vertrauen.
Die Sache mit dem Bären habe ich als Fürsorge für das Kind empfunden: die Mutter schützt das Kind noch vor der brutalen Wahrheit, nämlich dass der Bär die Frau zerrissen hat.
Das kann man auch anders formulieren:
Diese Frau ist verschwunden und nicht wieder aufgetaucht. Sie hat das "Zersägen" nicht überlebt und keinen Neuanfang machen können.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Ich habe mich insgesamt auch gefragt, ob die Reihenfolge der stories von Bedeutung ist?
Ich gehe stark davon aus, dass sich das deutsche Lektorat da sehr genau festgelegt hat. Joy Williams selbst vielleicht nicht, da die Stories ja aus verschiedenen Bänden stammen. Nehmen wir "Liebe" zu Beginn. Für mich die eingängigste Geschichte, die man in der Leseprobe glaube ich komplett lesen konnte. Hätte der Verlag zum Beispiel "Kongress" nach vorn gesetzt, würde sich das Buch mit Sicherheit schlechter verkaufen.

Für mich ist es vergleichbar mit einem Musik-Album. Da überlegen sich die Künstler ja auch eine genaue Reihenfolge der Songs.
 

Christian1977

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der brutalen Wahrheit, nämlich dass der Bär die Frau zerrissen hat.
Ja, kann man auch so sehen. Aber Lizzie ist kein Baby mehr und weiß, dass dies nicht stimmt. So fühlt sie sich nur angelogen.

Mein Vater sah sich einmal einen Horrorfilm im Fernsehen an, während ich im Nebenzimmer schlafen sollte. Ich glaube, es war ein kanadischer. Ich war ungefähr sieben und hatte nur die Vorschau gesehen. In einer Szene lag eine Frau im Bett und schaute auf den Fußboden und begann zu schreien. Und ich wollte unbedingt wissen, warum. Also fragte ich ihn und er behauptete, ein Baby sei durch den Raum gekrabbelt. Ich hielt das nicht für glaubwürdig und musste wochenlang daran denken. Erst einige Wochen später sagte er mir, es sei ein Totengräber gewesen. Da war ich beruhigt, obwohl es ja eigentlich unheimlicher ist. Daran musste ich in der Szene denken.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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"Auswege" hat mich an "Shuggie Bain" mit dessen alkoholkranken aber auch irgendwie glamourösen Mutter denken lassen. Die Auswege, die Houdini so scheinbar einfach gefunden hat, sind für jemanden mit Alkoholabhängigkeit und auch für die Co-Abhängigen nicht immer einfach oder auch nie zu finden. Lizzie scheint in einer Co-Abhängigkeit zu stecken, hat aber, wie wir am Ende erfahren, im Gegensatz zu ihrer Mutter einen Ausweg gefunden.
Ihre Mutter ist wie der schlechte Zauberer in der Show, Lizzie dann eher wie Houdini. Sie schaffte etwas, was nicht jeder schafft.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Zum Traum mit den grauen Haaren im Auto fällt mir ein, dass er Lizzies Angst vor dem Altern, vor dem Erwachsenwerden bedeuten könnte. Ein Albtraum, so viele wachsende Haare im Auto zu haben. Ein Albtraum, erwachsen zu werden. Bis das Auto vor lauter Haaren zerberstet - bis zum Ende der Kindheit oder gar bis zum Tod.
Überzeugende Interpretation!
 

Federfee

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13. Januar 2023
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Die Geschichte erinnert mich an die sachliche Art Hoppers, Menschen zu betrachten und ihre Verlassenheit und Einsamkeit zu zeigen. Das wirkt auf mich beklemmend.
Manchmal ist es schwierig, eine Assoziation zu erklären.
Ich verstehe schon, wie du es meinst. Das gleiche Thema haben sie auf jeden Fall.
 
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Reaktionen: dracoma und RuLeka

Federfee

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Zum Traum mit den grauen Haaren im Auto fällt mir ein, dass er Lizzies Angst vor dem Altern, vor dem Erwachsenwerden bedeuten könnte. Ein Albtraum, so viele wachsende Haare im Auto zu haben. Ein Albtraum, erwachsen zu werden. Bis das Auto vor lauter Haaren zerberstet - bis zum Ende der Kindheit oder gar bis zum Tod.
Danke, auf so eine Möglichkeit der Interpretation hatte ich gehofft.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Die letzte Story ist wieder eine schöne, authentische, aber traurig. Mutter Alkoholikerin und Vati unbekannt.
Der letzte Satz einprägsam: Ich fand einen Ausweg, aber es dauerte Jahre.
Hätte ich gerne mehr darüber gewusst.
Houdini und die Zaubershow: Alles ist Show. Das ganze Leben.
Immerhin die Tochter weiß, sie wird geliebt.
Dissoziation. Sich von sich selber entfernen. Auch gut dargestellt.
 
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dracoma

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16. September 2022
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Das Auto ist brüchig, nicht offen. Es pfeift ein kalter Wind herein! Der kalte Wind des Lebens und der Realität.
Richtig! Und die Frage ist doch, ob das Auswege sind! Und nicht, woher diese "Offenheit" kommt.
Dein Gedanke mit der kalten, unfreundlichen (und irgendwie auch gefährlichen!) Realität passt gut.
Wenn Lizzie also durch diese offenen Stellen verschwindet, trifft sie auf den kalten Wind der Realität.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ich habe die Geschichte jetzt dreimal gelesen und weiß immer noch nicht recht, was ich dazu sagen soll.
Mutter und Tochter scheinen nach "Auswegen" zu suchen, wobei ich bei beiden nicht den Eindruck habe, dass sie aus einer unerträglichen Situation fliehen wollen. Es scheint sich eher um ein Lebensprinzip zu handeln. Die Mutter trinkt, die Tochter malt sich alles mögliche in ihrer Phantasie aus, wozu sie von der Mutter noch ermutigt wird: "Ach, wenn ich doch bloß mehr wie du sein könnte", sagt die Mutter, als die Tochter dem Papa einen Schnurrbart andichten will.
Das gemeinsame Interesse an Houdini, der hauptsächlich für seine "Entfesselungs-Darbietungen" bekannt war, deutet auch in diese Richtung.

Was mich, wenn ich mal ganz persönlich werden darf, an der Geschichte besonders bewegt hat, ist, dass ich einige Eigenarten mit der Erzählerin teile. Ich war als Kind von dem Wort "Matinee" fasziniert und gebrauchte es gern, auch wenn es gar nicht passte, z.B. für eine Kinovorstellung oder ein Platzkonzert. Ich liebte Kaugummizigaretten, die es nur in einem einzigen Laden an meinem Heimatort gab und ich brauchte von zu Hause aus bestimmt eine Dreiviertelstunde, um da hinzutapern und mein Taschengeld auszugeben, aber das konnte mich nicht abhalten. Auch das Bild mit dem Schlitten (S. 301) kenne ich. Ich war als Kind begeistert davon, wie der leer hinter mir her gezogene Schlitten hüpfte und tanzte, als wäre er ein Hund an der Leine.
Vielleicht hängt es damit zusammen, dass mich die Geschichte im Innersten so sehr freut, obwohl ich sie kaum richtig deuten kann.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Vielleicht hängt es damit zusammen, dass mich die Geschichte im Innersten so sehr freut, obwohl ich sie kaum richtig deuten kann.
Deine Ausführungen sind für mich Interpretation genug. So wie Du auch schreibst, haben Kinder bestimmte Eigenheiten, die die Autorin hier beschreibt. Sie hat dabei sicherlich aus ihrer Erinnerung geschöpft und das einfach aufgeschrieben.
Irgendwo habe ich gelesen, dass es Joy Williams nicht um eine „ Message“ geht, deshalb suchen wir die hier vergeblich. Sie beschreibt Menschen und Situationen und treibt sie ins Surreale. Einzelne Bilder deuten wir, aber eine eindeutige Gesamtaussage lässt sich nicht finden.
Mich lässt das unbefriedigt zurück, aber ich habe aufgehört nach mehr zu suchen.