3. Story: "Auswege" (Seite 283 bis 302)

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Ich habe die Geschichte jetzt dreimal gelesen und weiß immer noch nicht recht, was ich dazu sagen soll.
Mutter und Tochter scheinen nach "Auswegen" zu suchen, wobei ich bei beiden nicht den Eindruck habe, dass sie aus einer unerträglichen Situation fliehen wollen. Es scheint sich eher um ein Lebensprinzip zu handeln. Die Mutter trinkt, die Tochter malt sich alles mögliche in ihrer Phantasie aus, wozu sie von der Mutter noch ermutigt wird: "Ach, wenn ich doch bloß mehr wie du sein könnte", sagt die Mutter, als die Tochter dem Papa einen Schnurrbart andichten will.
Das gemeinsame Interesse an Houdini, der hauptsächlich für seine "Entfesselungs-Darbietungen" bekannt war, deutet auch in diese Richtung.

Was mich, wenn ich mal ganz persönlich werden darf, an der Geschichte besonders bewegt hat, ist, dass ich einige Eigenarten mit der Erzählerin teile. Ich war als Kind von dem Wort "Matinee" fasziniert und gebrauchte es gern, auch wenn es gar nicht passte, z.B. für eine Kinovorstellung oder ein Platzkonzert. Ich liebte Kaugummizigaretten, die es nur in einem einzigen Laden an meinem Heimatort gab und ich brauchte von zu Hause aus bestimmt eine Dreiviertelstunde, um da hinzutapern und mein Taschengeld auszugeben, aber das konnte mich nicht abhalten. Auch das Bild mit dem Schlitten (S. 301) kenne ich. Ich war als Kind begeistert davon, wie der leer hinter mir her gezogene Schlitten hüpfte und tanzte, als wäre er ein Hund an der Leine.
Vielleicht hängt es damit zusammen, dass mich die Geschichte im Innersten so sehr freut, obwohl ich sie kaum richtig deuten kann.
Vllt bist du eigentlich Joy Williams oder sie hat von dir abgeschrieben?
Der Zauberer ist für mich ein Bild dafür, dass die Mama (und nachfolgend auch das Kind) sich wünschen, der Zauberer würde ihre Probleme verschwinden lassen. Kann er auch einen Elefanten verschwinden lassen? Also etwas wirklich Großes.
Wie so viele Süchtige (und Übergewichtige) wünschen sich die beiden, dass die Probleme verschwänden, - ihre Mitwirkung dabei ist ihnen unerwünscht. Und: wünscht sich nicht jeder insgeheim einen funktionierenden Zauberstab? Abrakadabra, die Häsin ist ein Mensch! (qed). Passt auf, ich kanns auch umgekehrt!
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Die Geschichte heißt aber AUSWEGE. Das Verschwinden ist offenbar ein Ausweg. Daher auch die Erinnerung an Houdini und der Besuch beim Zauberer.

Ich habe wie gesagt nur Bruchstücke im Kopf. Da ist das Auto, das nach oben offen ist, und es ist auch nach unten offen; sind das Auswege? Der Alkohol zeigt sich schon sehr früh als Ausweg, ich denke da an das Champagnerglas auf dem Dach, und Lizzie wünscht sich auch so ein Glas - der Wunsch wird ihr erfüllt, leider nicht so schön, wie sie gehofft hatte.

Ihre Träume zeigen auch die Suche nach einem Ausweg, wie diese quälende Autofahrt immer im Kreis herum und immer zum selben Ziel. Dass das Wageninnere mit Haaren zuwächst, hat mich an den Bären denken lassen, aber das bleibt für mich unklar. Auf alle Fälle sind das beängstigende Träume.
So sehe ich das auch - es geht hier eigentlich nur um Auswege und Fluchten, um ein Entkommen aus der Realität, der Wirklichkeit, dem Leben, sehr deprimierend.
Diesen Platzanweiser fand ich erstaunlich, auf einmal tritt da ein mitfühlender Mensch auf, der das Problem erkennt, aber die Frau nicht zum Verschwinden auffordert, was einer Verurteilung ihres Verhaltens gleich käme. Statt dessen ist er fürsorglich und ermahnt sie selber zur Fürsorglichkeit, weil sie ein Kind habe. Das kann die Mutter aber nicht leisten.
Er weist ihr tatsächlich einen Platz zu!
Genau! versucht im wörtlichen Sinne der Mutter einen neuen Platz zuzuweisen, ihr einen Impuls für einen neuen Weg zu geben.

Houdini war ein Meisterkünstler. Der andere Zauberer nur ein billiger Abklatsch. Das hat die Mutter enttäuscht.
Vielleicht ist das der Schlüssel: es gibt Kindheit und es gibt den "billigen Abklatsch" einer Kindheit, wie die Erzählern ihn erleben muss.
 

luisa_loves-literature

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Was mich am meisten an der Geschichte interessiert, ist der Perspektivenwechsel im Vergleich zu allen anderen Kurzgeschichten in diesem Band. Zum ersten Mal haben wir eine Ich-Erzählerin!

Es wird also auf einmal sehr persönlich, wir sind sehr viel näher dran am Gefühl als in allen anderen Geschichten - sollte man meinen...tatsächlich nehme ich auch hier eine große Distanz war. Die Erzählerin ist mehr Beobachterin als Teil des Elends der Geschichte. Das mag auch an der zeitlichen Distanz liegen. Die Frage, die sich aber auf jeden Fall stellt, ist die schon erwähnte nach der Erinnerung. Sind auch die Haare im Auto vielleicht etwas "aufgeheizt" durch fehlgeleitete Erinnerung? Was vom Erzählten ist wirklich so gewesen? Das könnte auch die "surrealen" Elemente etwas besser beleuchten.
Man kann Kindheitserinnerungen nicht einfach wieder aufleben lassen. Als Erwachsener sieht man die Dinge anders. Sie sagt es ja selbst: "Eine schöne Erinnerung kann sehr irreführend sein."
Den Satz finde ich in dem Zusammenhang wieder echt deprimierend. Sind "schöne Erinnerungen" nur Konstrukte? Ist in Wahrheit alles eher schlecht und wir erinnern uns eben einfach nur lieber an etwas Schönes und glorifizieren daher im Nachgang?
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Was mich am meisten an der Geschichte interessiert, ist der Perspektivenwechsel im Vergleich zu allen anderen Kurzgeschichten in diesem Band. Zum ersten Mal haben wir eine Ich-Erzählerin!

Es wird also auf einmal sehr persönlich, wir sind sehr viel näher dran am Gefühl als in allen anderen Geschichten - sollte man meinen...tatsächlich nehme ich auch hier eine große Distanz war. Die Erzählerin ist mehr Beobachterin als Teil des Elends der Geschichte.
Vielleicht liegt's an mir, ich sehe da kein Elend - das sind bloß unsere Maßstäbe als Außenstehende. Als Leser mag man die Mutter mit ihrer Trinkerei verurteilen, aber ich habe nicht den Eindruck, dass sie eine unglückliche Trinkerin ist, und ebensowenig kommt mir die Erzählerin unglücklich vor. Sie scheinen sich beide in ihrer Phantasiewelt wohl zu fühlen. Vielleicht genügt das Bewusstsein, dass man "offen fährt", in diesem Fall schon für ausreichende Zufriedenheit. Erst mit dem letzten Absatz, der die zeitliche Distanz der Erzählerin aufzeigt ("damals war das Ende noch weit entfernt"), fällt auch die Erzählerin selbst ein Urteil.