3. Story: "Auswege" (Seite 283 bis 302)

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29. März 2022
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Von den 3 ausgewählten Geschichten tue ich mich mit dieser am schwersten. Zumindest muss ich mehr darüber nachdenken.
Es geht aber wieder um die Verlorenheit im Leben und den Tod. In diesem Zusammenhang finde ich die Äußerung des Vaters über den Großvater sehr vielsagen. Er habe nur kurz vor dem Tod einige Minuten gelebt. Und das scheint hier das zentrale Motiv zu sein: Lizzies Mutter hat sich in sich zurückgezogen, lebt nicht wirklich. Wird sie einen Ausweg finden?
In diesem Zusammenhang scheint der Zauberer mit seiner Fähigkeit, Menschen zu zersägen und sie wieder zusammenzusetzen, große Symbolkraft zu haben. Lizzies Mutter stürmt nämlich im Zirkus, nachdem sie wieder etwas getrunken hat auf die Bühne, um sich selbst dafür anzubieten: Sie möchte zersägt werden, um wieder von vorne beginnen zu können. So lese ich es.
Lizzies und ihre Mutter werden abgeführt und in ein Café gebracht. Der Platzanweiser selbst hatte wohl an einem Punkt seines Lebens auch mit sich abgeschlossen und ist von einer Brücke gesprungen. Er macht Lizzies Mutter Mut, sie müsse sich fassen, einen Ausweg finden.
Lizzie selbst hat es wohl geschafft, ihre Mutter leider nicht, wie wir erfahren.

Es ist eine Geschichte voller Traurigkeit. Ich weiß, es steckt noch mehr drin. Da muss ich nochmal schauen...
 

Federfee

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13. Januar 2023
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Und wieder so ein armes Mädchen, das aus einer kaputten Familie kommt oder einer dysfunktionalen – wie man das heutzutage nennt. Der Vater ist seltsam , sein erster Satz über den Großvater, die Sache mit dem Spazierstock – stiehlt er ihn? Und er verschwindet, überlässt die Tochter der Mutter, die eine heftige Trinkerin ist, entzieht sich somit allem.

Das Verschwinden spielt eine große Rolle: nicht nur der Vater. Auch der berühmte Zauberer Houdini und sein späterer Abklatsch lassen Personen und Dinge verschwinden. Die Mutter verschwindet beim Trinken manchmal 'irgendwo in ihrem Inneren' (296).

Diese Geschichte empfinde ich als stark surrealistisch: Träume spielen eine große Rolle, z.B. die Haare, die im Wageninneren wachsen (288), im Kreis um das Haus herumfahren etc.

Es gibt auch etliche nachdenkenswerte Sätze über das Leben, die mir hier allerdings ziemlich eingestreut vorkommen. Oder interpretieren sie das vorher Geschilderte?

Hier mal ein hoffnungsvoll klingendes Ende: 'Ich fand einen Ausweg, aber es dauerte Jahre.' Das könnte man allerdings auch negativ sehen.​
 

Federfee

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13. Januar 2023
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Es geht aber wieder um die Verlorenheit im Leben und den Tod
Immer und immer wieder :-(
Sie möchte zersägt werden, um wieder von vorne beginnen zu können. So lese ich es.
Gute Idee, das ist eine Möglichkeit der Interpretation.
Es ist eine Geschichte voller Traurigkeit. Ich weiß, es steckt noch mehr drin.
Das kann sein, das wird so sein, aber ehrlich gesagt: ich finde es nicht. Und ich finde die Geschichte mehr als traurig, so wie alle: hoffnungslos trotz des Endes, das man evtl. positiv verstehen könnte.
 

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29. März 2022
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Diese Geschichte empfinde ich als stark surrealistisch: Träume spielen eine große Rolle, z.B. die Haare, die im Wageninneren wachsen (288), im Kreis um das Haus herumfahren etc.
Das stimmt. Ich müsste mich nochmal intensiver damit befassen...
Hier mal ein hoffnungsvoll klingendes Ende: 'Ich fand einen Ausweg, aber es dauerte Jahre.' Das könnte man allerdings auch negativ sehen.
Wie meinst Du das?
 
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RuLeka

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30. Januar 2018
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Wieder eine sehr traurige Geschichte.
Menschen, die ihr Leben nicht nutzen wie der Großvater. Erst im Angesichts der Todes versteht man die Bedeutung des Lebens.
Eine dysfunktionale Familie: Lizzies Vater verschwindet irgendwann und lässt sie mit der alkoholkranken Mutter zurück.
Houdini, der große Befreiungskünstler, findet im Tod seinen Meister. Alle Kunststücke, jeder Zauber verliert am Ende seine Wirkung.
Will man hinter das Geheimnis des Zaubers kommen, bleibt die Enttäuschung.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Die Mutter verschwindet beim Trinken manchmal 'irgendwo in ihrem Inneren' (296
Das ist einer der Sätze, die mir gefallen und die man auf Anhieb versteht.
Hier mal ein hoffnungsvoll klingendes Ende: 'Ich fand einen Ausweg, aber es dauerte Jahre.' Das könnte man allerdings auch negativ sehen.
Für mich ist das ein positiver Schluss, wenn man davon absieht, dass es din Mutter nicht geschafft.
Es könnte ja auch Suizid sein.
Dann könnte sie uns nicht davon erzählen.
 
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dracoma

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16. September 2022
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Von den 3 ausgewählten Geschichten tue ich mich mit dieser am schwersten. Zumindest muss ich mehr darüber nachdenken.
Das ging mir auch so. Ich habe die Geschichte mehrmals gelesen, aber ich sehe immer nur einzelne Facetten, und die fügenb sich bei mir noch nicht richtig zusammen.
Sie möchte zersägt werden, um wieder von vorne beginnen zu können. So lese ich es.

Ja, es geht um das Verschwinden, das ist ein durchgängiges Thema (meine ich). Um das Verschwinden aus einer unerträglich gewordenen Situation und die Hoffnung auf einen neuen Anfang. Ich fand die Szene, als die betrunkene Mutter auf die Bühne stürzt, sehr beklemmend und ich hatte viel Mitleid mit dieser Frau.
Der Vater ist seltsam
Ja... ich fand seinen Witz (1. Seite) schon sehr seltsam. Jedenfalls nicht kindgemäß. Der Vater verschwindet auf eine merkwürdige Art: er kauft sich einen Stock und schauspielert eine neue Identität, bei der seine Tochter keinen Platz mehr hat. Und dann verschwindet er.
Aber in dieser Anfangsszene schützt die Mutter noch ihre Tochter; darauf kommt dann später der Platzanweiser zurück.

Diesen Platzanweiser fand ich erstaunlich, auf einmal tritt da ein mitfühlender Mensch auf, der das Problem erkennt, aber die Frau nicht zum Verschwinden auffordert, was einer Verurteilung ihres Verhaltens gleich käme. Statt dessen ist er fürsorglich und ermahnt sie selber zur Fürsorglichkeit, weil sie ein Kind habe. Das kann die Mutter aber nicht leisten. Sie kann es nicht MEHR leisten, denn zu Anfang der Geschichte schützt sie ihre Tochter fürsorglich vor dem Witz des Vaters. Sie schützt sie auch vor der blutigen Wahrheit bei der Geschichte mit dem Bären.

Um es auf den Punkt zu bringen:
zuerst verschwindet der Vater und beginnt ein neues Leben, er verschwindet auch physisch. Dann verschwindet indirekt die Mutter, wenn sie ihre Mutterrolle nicht mehr erfüllt.
Und wieder so ein armes Mädchen, das aus einer kaputten Familie kommt
Genau... wieder ein einsames kleines Mädchen.

Die Geschichte heißt aber AUSWEGE. Das Verschwinden ist offenbar ein Ausweg. Daher auch die Erinnerung an Houdini und der Besuch beim Zauberer.

Ich habe wie gesagt nur Bruchstücke im Kopf. Da ist das Auto, das nach oben offen ist, und es ist auch nach unten offen; sind das Auswege? Der Alkohol zeigt sich schon sehr früh als Ausweg, ich denke da an das Champagnerglas auf dem Dach, und Lizzie wünscht sich auch so ein Glas - der Wunsch wird ihr erfüllt, leider nicht so schön, wie sie gehofft hatte.

Ihre Träume zeigen auch die Suche nach einem Ausweg, wie diese quälende Autofahrt immer im Kreis herum und immer zum selben Ziel. Dass das Wageninnere mit Haaren zuwächst, hat mich an den Bären denken lassen, aber das bleibt für mich unklar. Auf alle Fälle sind das beängstigende Träume.
 

RuLeka

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aber ich sehe immer nur einzelne Facetten, und die fügenb sich bei mir noch nicht richtig zusammen.
Das geht mir bei den meisten der Geschichten. Einzelteile kann ich deuten, doch dann versuche ich einen Zusammenhang herzustellen und das gelingt mir nicht.
Ja, es geht um das Verschwinden, das ist ein durchgängiges Thema (meine ich). Um das Verschwinden aus einer unerträglich gewordenen Situation und die Hoffnung auf einen neuen Anfang.
Keine Figur im Buch ist glücklich oder wenigstens richtig zufrieden mit seiner Situation. Hoffnung ist höchstens etwas Diffuses in der Ferne.
Diesen Platzanweiser fand ich erstaunlich, auf einmal tritt da ein mitfühlender Mensch auf, der das Problem erkennt, aber die Frau nicht zum Verschwinden auffordert, was einer Verurteilung ihres Verhaltens gleich käme. Statt dessen ist er fürsorglich und ermahnt sie selber zur Fürsorglichkeit, weil sie ein Kind habe.
Einer der wenigen Figuren, die positiv herausstechen. Ein Platzanweiser am richtigen Platz.
Genau... wieder ein einsames kleines Mädchen.
Verlassene Kinder gibt es hier zuhauf. Ich stelle mir das Leben von Joy Williams nicht glücklich vor.
 

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Das geht mir bei den meisten der Geschichten. Einzelteile kann ich deuten, doch dann versuche ich einen Zusammenhang herzustellen und das gelingt mir nicht.
So geht es mir auch immer wieder. Es steckt sehr viel drin in den Geschichten. Ich verstehe nur einen Bruchteil davon.
Verlassene Kinder gibt es hier zuhauf. Ich stelle mir das Leben von Joy Williams nicht glücklich vor.
Man müsste mal recherchieren, welche persönlichen Bezüge sich zur Autorin herstellen lassen. Ich denke aber auch, dass die Themen sie sehr beschäftigen.
 
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Federfee

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13. Januar 2023
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Dann könnte sie uns nicht davon erzählen.
Nein, realistisch gesehen nicht. Ich weiß auch nicht, wie ich darauf komme, so abwegig. Andererseits hat JW am Anfang den Vater so merkwürdig über den Großvater sprechen lassen und in dieser Geschichte ist so vieles surreal, dass ich alles für möglich halte.
 
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Federfee

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13. Januar 2023
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Ich frage mich, ob JW sich von den Surrealisten hat beeinflussen lassen. Nicht nur, dass ihre Short Story so daherkommt und dass Träume eine große Rolle spielen ... mir geht die ganze Zeit das mit den Haaren, die im Auto wachsen, im Kopf herum. Eine Deutung kann ich leider nicht anbieten, aber mir ist dazu Meret Oppenheims Pelztasse eingefallen, ein Symbol des Surrealismus, auch ganz viele Haare.
 

dracoma

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16. September 2022
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Ein Platzanweiser am richtigen Platz.
Stimmt, Du hast Recht!! Er weist ihr tatsächlich einen Platz zu! Das wäre auch ein Ausweg, aber den kann sie nicht nehmen.

Ich gebe es inzwischen auf, eine schlüssige Deutung zu finden, die alles einschließt. Mir kommt es so vor, als ob die Autorin zwar durchaus ihre Themen hat. In dieser Geschichte sind das Auswege aus beengenden Lebenssituationen (Fesselung und Entfesselung!). Sie hat also ihre Themen, aber ansonsten zertrümmert sie die Wirklichkeit, und solche Facetten fügt sie ein, manchmal sind die spitz wie Glasscherben.

in dieser Geschichte ist so vieles surreal,
Ich habe spontan an Bilder von Hopper gedacht, die sind auch so beklemmend echt und alltäglich.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Sie hat also ihre Themen, aber ansonsten zertrümmert sie die Wirklichkeit, und solche Facetten fügt sie ein, manchmal sind die spitz wie Glasscherben.
Sehr schönes Bild. Musst Du Dir merken für die Rezension.
Ich habe spontan an Bilder von Hopper gedacht, die sind auch so beklemmend echt und alltäglich.
Hopper kommt für mich nur als Kontrast in Frage. Seine Bilder sind in ihrem Realismus so klar . Sie sprechen zwar auch von Einsamkeit und fehlender Kommunikation aber ohne surreale Aplträume.
 

Federfee

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13. Januar 2023
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Hopper kommt für mich nur als Kontrast in Frage. Seine Bilder sind in ihrem Realismus so klar . Sie sprechen zwar auch von Einsamkeit und fehlender Kommunikation aber ohne surreale Aplträume.
Hoppers Bilder finde ich zwar von Einsamkeit und Melancholie geprägt, aber surrealistisch sind sie nicht. Surrealistische Alpträume gibt es eine Menge bei Max Ernst.
 
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dracoma

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16. September 2022
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aber surrealistisch sind sie nicht.
ohne surreale Aplträume.
Ich habe auch nicht gesagt, dass ich Hopper surrealistisch finde, das ist er nicht. Ich wollte nur anschließen an @Federfee 's Assoziation und meine eigene Assoziation mitteilen.

Ich versuche es nochmals:
Die Geschichte erinnert mich an die sachliche Art Hoppers, Menschen zu betrachten und ihre Verlassenheit und Einsamkeit zu zeigen. Das wirkt auf mich beklemmend.
Manchmal ist es schwierig, eine Assoziation zu erklären.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Diese Geschichte hat mich berührt. Die Erzählerin beschreibt ihre Kindheitserinnerungen, die recht fragmentarisch sind, aber immer wieder die von euch meisterhaft herausgearbeiteten Themen betreffen. Todtraurig, das alles: ein gestorbener Opa, ein abgehauener Vater, eine versoffene Mutter...

In der Biografie von JW würde ich nicht suchen wollen. Solche Begebenheiten kommen überall vor, wenn man die Augen aufhält. Faszinierend sind die Bausteine, aus denen die Autorin ihre Story zusammensetzt.

Die Mutter war gut zu ihr. Das betrifft aber alles die Zeit, bevor sie lesen konnte.
Geschriebene Wörter lagen zwischen mir und einem Ort, an den ich nicht kam.
Houdini war ein Meisterkünstler. Der andere Zauberer nur ein billiger Abklatsch. Das hat die Mutter enttäuscht. Man kann Kindheitserinnerungen nicht einfach wieder aufleben lassen. Als Erwachsener sieht man die Dinge anders. Sie sagt es ja selbst: "Eine schöne Erinnerung kann sehr irreführend sein."

Faszinierend wie sensibel hier der Alkoholismus beschrieben wird:
Sie roch wie das Glas, das morgens immer in der Spüle stand, und der Geruch erinnert mich noch heute an Kühnheit und Betrug, Hoffnungen und kleine Lügen. 290
Wenn Sie trank, ging sie an einen Platz in Ihrem Innern. Wie alleine und verloren fühlte sich das Kind? Aber Lizzie jammert nicht, sondern nimmt die Situation mit Selbstverständlichkeit auf - was soll sie auch sonst tun?

Lizzie hat kein Vertrauen zum Platzanweiser. Warum nicht? Er scheint es doch gut zu meinen. Jeder Säufer berichtet von einem Auslöser, ohne den er nicht von der Sucht losgekommen wäre. Was der Mann erzählt, klingt glaubwürdig. Die Tochter hat den Ausweg gefunden, die Mutter nicht. Was immer das heißt.

Ich verstehe nur einen Bruchteil. Aber diese Story hat mir gefallen.