3. Leseabschnitt: Zweiter Teil - Kapitel 9 bis 15

münchnerkindl

Mitglied
23. Februar 2022
81
207
19
57
München
Ich bin nun ganz drin im Buch und gar nicht wirklich zu Kommentaren fähig. Eure Beiträge zum vorherigen Abschnitt habe ich verfolgt und empfinde sie als grosse Bereicherung.
Jetzt ist er also tot der Freund.
Carl Joseph lässt sich an die äusserste Stelle der Monarchie nahe der russischen Grenze versetzen. Gleichsam als selbstauferlegte Strafe.
Dort ist es für ihn trostlos. Er ist nicht geschaffen für das militärische Leben. Und trotzdem erfüllt er fast mechanisch seine Pflicht. Trost findet er im Alkohol und der richtet ihn zugrunde.

Roths Erzählkunst lässt mich hier schaudern.

Wie er etwa den Tagesablauf des Trinkers Carl Joseph schildert, so ohne große Dramatik, einfach und klar erzählt, in einer Art und Weise, dass jeder mitfühlen kann wie der Neunzigprozenter Carl Joseph nach und nach Trost spendet. Wie plötzlich alles einfacher wird und schöner. Das ist sehr ergreifend und auch traurig.

Ein Highlight für mich auch die Passage mit dem Vater., als der treue Diener Jacques stirbt.
Ich habe jetzt noch Gänsehaut und trauere mit Franz mit.
Ich bin sehr berührt von diesen Schicksalen und will allen Beteiligten ständig zurufen : Nehmt euch doch mal in den Arm und tröstet euch. Aber es ist ihnen nicht möglich.
Als Franz seinen Sohn besucht, gibt es auf S216 die Stelle wo es heisst: "Der Bezirkshauptmann öffnete den Mund, immer noch gebeugt über den Koffer. Er sprach in den Koffer hinein wie in ein offenes Grab. Aber er sagte nicht, wie er gewollt hatte Ich hab dich lieb mein Sohn!, sondern....."
Armer Mann!
Dieser Roman lebt von der wunderbaren Art Joseph Roths zu erzählen. Er achafft es dem Leser die Gefühle von Menschen nahezubringen , die sich selbst keine Gefühle eingestehen.
 

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.556
16.321
49
Rhönrand bei Fulda
Ich habe mal online herumgesucht, was ein Neunziggrädiger ist, aber nur herausgefunden, dass es sich offenbar um Kirschwasser handelt. Gemeint ist jedenfalls nicht unbedingt ein Alkoholgehalt von 90 %.
Trotzdem sind die Mengen Alkohol, die da verkonsumiert werden, und das offenbar den ganzen Tag über, schon beängstigend. Lauter Spiegeltrinker.
 

RuLeka

Bekanntes Mitglied
30. Januar 2018
6.406
23.956
49
66
Ich bin sehr berührt von diesen Schicksalen und will allen Beteiligten ständig zurufen : Nehmt euch doch mal in den Arm und tröstet euch. Aber es ist ihnen nicht möglich.
Das ist das eigentlich Traurige daran. Sie können ihre Gefühle nicht zeigen und müssen sie stattdessen ertränken in Alkohol oder auf die Nation und den Kaiser übertragen.
Diese Erziehung ohne Mutterliebe, ohne Gefühle zuzulassen musste seelische Krüppel hervorbringen.
 

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.556
16.321
49
Rhönrand bei Fulda
Das ist das eigentlich Traurige daran. Sie können ihre Gefühle nicht zeigen und müssen sie stattdessen ertränken in Alkohol oder auf die Nation und den Kaiser übertragen.
Diese Erziehung ohne Mutterliebe, ohne Gefühle zuzulassen musste seelische Krüppel hervorbringen.
Ist eigentlich irgendwo bisher von Carl Josephs Mutter die Rede gewesen? Es klingt, als hätte er gar keine gehabt. Vielleicht hat sein Vater ihn zur Welt gebracht ... o_O
 

Emswashed

Bekanntes Mitglied
9. Mai 2020
2.674
9.513
49
So! Selbst der Kaiser hat eine ganze Generation vergessen und denkt, der Vater von Carl Joseph war der Held von Solferino.... wenn mich das mal nicht adelt!;)

Aber im Ernst, an des Kaisers Altersgleichmut zeigt sich die Eingefahrenheit des Reichs und legt einen Grundstein für dessen Untergang. Aufstände der Arbeiter (Borsten kämmen) werden blutig niedergeschlagen und der arme Trotta kann sich nicht wirklich aus seiner Situation befreien. Er unterschreibt Schuldscheine, weil er es als Freundschaftsdienst sieht, und kann sich trotz frischer Stärkung des Verliebtseins nicht aus dem eisernen Griff der militärischen Befehlsketten befreien.

Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, die männlichen Figuren (in diesem Fall der Kaiser) sind sehr schön nachvollziehbar gezeichnet. Fast meine ich die Uniformen und Backenbärte vor mir zu sehen, die stolze Würde, die zeremoniellen Aufmärsche und der gleichzeitige Blick in die Köpfe... herrlich.
 

Eulenhaus

Aktives Mitglied
13. Juni 2022
321
1.502
44
Das Mitgefühl des Bezirkshauptmanns für den Diener hat mich auch erstaunt. Der Verlust zeigt ihm auch, dass Umbrüche und Erneuerungen sich anbahnen. Die Arbeiter wehren sich, die slawischen Völker (östliche Europäer) und die Sozialdemokraten erheben ihre Stimme.
Der Sokolverein war ein Turnverein, der aber auch politisch die Souveränität der slawischen Völker anstrebte.
 

Eulenhaus

Aktives Mitglied
13. Juni 2022
321
1.502
44
In der Grenzgarnison scheinen sich viele zwielichtige Gestalten aufzuhalten. Die Eröffnung des Spielsaals treibt den Ruin weiter voran. Mit Graf Chojnicki ist Roth eine illustre Gestalt gelungen. Seine Beschreibung der Regierung (ganz toll!) und der Volksstämme, seine Vorausschau auf den Untergang werden mit Gelächter und Trunk quittiert. Nur der feinfühligere Leutnant Trotta ahnt das Zerbröckeln alter Gewissheiten.
Zum Alkoholkonsum:
In einem Feuilleton-Beitrag von Volker Weidermann habe ich gelesen: „Roth hat das letzte Kapitel 1932 geschrieben, als der Vorabdruck in der „Frankfurter Zeitung„ längst begonnen hatte. Er hatte viele Verpflichtungen, größte Geldnot und war immer betrunken. Er musste schreiben, schreiben.“
 

münchnerkindl

Mitglied
23. Februar 2022
81
207
19
57
München
In einem Feuilleton-Beitrag von Volker Weidermann habe ich gelesen: „Roth hat das letzte Kapitel 1932 geschrieben, als der Vorabdruck in der „Frankfurter Zeitung„ längst begonnen hatte. Er hatte viele Verpflichtungen, größte Geldnot und war immer betrunken. Er musste schreiben, schreiben.“

Sehr interessant ! Ich selbst fand die Schilderung des Wandels Carl Josephs zum Trinker beeindruckend und authentisch. Somit verständlich, er wusste also gut woüber er schreibt.
 

Eulenhaus

Aktives Mitglied
13. Juni 2022
321
1.502
44
Frau von Taußig wird die Geliebte Leutnant Trottas. Deren Aussage über Männer (S.229 Auflage 21) lässt mich schmunzeln.
Trotta schlägt einen - berechtigten - Arbeiteraufstand unrühmlich nieder. Die Opposition verlangt eine Aufklärung. Der alte gebrechliche Kaiser - von seinem Diener an den Helden von Solferino erinnert - entscheidet: „Günstig erledigen.“
Erschreckend ist, dass ähnliche Proteste auch gegenwärtig aktuell sind und gewaltsam beendet werden. Beispiele: China 1989, Ägypten 2011 und Türkei 2013.
 

kingofmusic

Bekanntes Mitglied
30. Oktober 2018
7.245
18.659
49
48
Ich kann euch bzgl. der fantastischen Figurenzeichnung nur zustimmen; ich komme zwar nur langsam voran, bin aber trotzdem ziemlich begeistert von Roth´s Blick auf das Ende der kuk-Monarchie. Jetzt geht´s weiter mit dem dritten Teil. :cool:
 
  • Like
Reaktionen: Emswashed

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.556
16.321
49
Rhönrand bei Fulda
Ich habe nun endlich auch aufgeschlossen bis zum Ende dieses Teils (als der Kaiser sich unter die Truppen mischt und in die Tornister schaut, um zu erfahren, was in den Konservendosen ist).
Der Kaiser ist schon eine recht traurige Figur. Mir hat der arme Barbier so leid getan, der zum Feldwebel befördert wurde, obwohl er eigentlich nur nach Hause wollte. Was für eine trübselige Gesellschaft!
 

kingofmusic

Bekanntes Mitglied
30. Oktober 2018
7.245
18.659
49
48
Ich habe nun endlich auch aufgeschlossen bis zum Ende dieses Teils (als der Kaiser sich unter die Truppen mischt und in die Tornister schaut, um zu erfahren, was in den Konservendosen ist).
Der Kaiser ist schon eine recht traurige Figur. Mir hat der arme Barbier so leid getan, der zum Feldwebel befördert wurde, obwohl er eigentlich nur nach Hause wollte. Was für eine trübselige Gesellschaft!
Ja, da habe ich auch gedacht "Arme Sau." Aber ich gebe dir Recht bezüglich des Kaisers. Irgendwie gibt es nur tragische und traurige Figuren in diesem Roman...