3. Leseabschnitt: Teil IV (Seite 108 bis 151)

Eulenhaus

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13. Juni 2022
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Trotz einiger Schwierigkeiten mit dem Text entwickelt er mehr und mehr einen Sog. HB hervorragend gelesen von Christian Brückner.

Ein sehr schönes vielsagendes Zitat: „Dinge, die aus Licht bestehen. Sie brauchen unseren Schutz. Und dann am Morgen, saßen wir am Strand und tranken Tee und sahen die Sonne aufgehen.“
Alicia mit ihrem Bruder Bobby.

Erstaunt hat mich die Formulierung, dass Alicia sich in der Welt der Verrückten sieht. Sie sagt, dass die Welt der Verrückten eine andere ist als die der gewöhnlichen.
 

alasca

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13. Juni 2022
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Mittlerweile hat der Text mich gepackt. Am Ende des LA habe ich versucht, für mich zu formulieren, worum es in dem LA geht. Ging nicht, ich musste zurückblättern, herausgekommen ist folgendes:

Alicia leidet an der Linearität des Lebens. Das Leben ist eine schiefe Ebene, wir rutschen unaufhaltsam hinunter. Der einzige Ausweg: Selbstmord.

Und daran, dass sie es nicht versteht. Sie ist so intelligent, dass sie alles durchdringen kann - nur das Leben nicht. Das geht uns allen so, wir haben es akzeptiert. Sie kann es nicht akzeptieren. Sie MUSS verstehen. Am liebsten wäre ihr, wenn alles so wäre wie die Musik mit ihrem festen Satz an Regeln, die sich niemals ändern (ist das so? Ich muss diese Behauptung so hinnehmen, aber sie scheint mir plausibel). Aber selbst ihre Lieblingsdisziplin Mathematik ist offenbar so nicht strukturiert. Für Alicia ein existenzielles Problem.

Ihre große Liebe: Ein Mitschüler aus einer oberen Klasse, sie ist zwölf. So tragisch wie lächerlich.

Was hier alles beiläufig gestreift und angerissen wird ... die Ethik der Wissenschaft zum Beispiel. Jede Menge kluger Sätze - man kann sich ständig was rausschreiben, wenn man will. Ich nicke sehr oft.

Wie Alicia die Realität in Frage stellt, das gefällt mir. Alles eine Frage des Standpunktes. Da ist was dran.
 

alasca

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13. Juni 2022
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Alicia mit ihrem Bruder Bobby.

In "Der Passagier" ist es wohl so, dass Bobby Alicia betrauert, die zu dem Zeitpunkt bereits Selbstmord begangen hat. Wir dürfen also wohl davon ausgehen, dass Bobby aus dem Koma erwachen wird.

Das Feuilleton hält den Vorgängerroman für besser als Stella Maris oder jedenfalls ist man der Meinung, dass letzterer zugänglicher wäre, hätte man vorher den Passagier gelesen.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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oder jedenfalls ist man der Meinung, dass letzterer zugänglicher wäre, hätte man vorher den Passagier gelesen.
Das möchte ich bis jetzt anzweifeln. Mich hat "Der Passagier" ein bisschen genervt: Es gibt ständige Szenenwechsel. Der Twist, der mich am meisten interessierte, wurde stiefmütterlich behandelt. Zeitlich ist Stella auch früher angesiedelt, hat eine komplett andere, viel engere, Erzählweise. Der Passagier wirkt auf mich weit konventioneller, sehr amerikanisch - mich haben die männlich sexualisierten Begriffe abgestoßen. Dort geht es um eine rauhe Männerwelt. Alicia habe ich nur in ihren Gesprächen mit dem Zwerg erleben dürfen, die ja offenbar in der Vergangenheit stattfanden. Als Hörbuch sehr anstrengend und unzusammenhängend.

Stella fasziniert mich weit mehr. Allerdings habe ich hier das gedruckte Buch, was ein Vorteil ist.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Mich fesselt dieser Dialog immer stärker. Patientin und Therapeut gehen sehr respektvoll miteinander um, manchmal blitzt Humor durch. Man achtet auf jedes Wort, die Intellektualität der beiden ist hoch. Cohen hat sich offenbar sehr intensiv mit Alicia im Vorfeld beschäftigt. Seine Fragen sind keinesfalls zufällig, er verfolgt einen Plan und lässt sich auch auf Frage - Antwort- Spiele ein. Er weiß, was er tut.

Es ist bemerkenswert, wie nachvollziehbar (auch für mich!) Alicia ihre "Verrückheit" beschreiben kann. Als vermeintlich Gesunder denkt man kaum über das psychische Leidensbild nach. Ein gebrochenes Bein kann man sich vorstellen, aber eine "kranke" Wahrnehmung...? Kollektive Übereinkünfte. Das Unbewusste. Kritik an Psychopharmaka. Wesen von Erinnerungen: Was passiert, wenn man keine "löschen" kann? Denkstoff ohne Ende.

Freude dagegen lehrt kaum je Dankbarkeit. 115
Wenn wir Dinge aufgeben, die wir mögen, wird die Welt uns nicht nehmen, was wir wirklich lieben. 117
Wenn man wehrlos ist, behält man seine Meinung für sich. 119
Es gibt zahllose solcher Sätze, über die man nachdenkt und die man rausschreiben könnte.

Dass die Gesetze der Musik vollständig sind, das nehme ich ebenso wie @alasca so hin. Fest steht, dass Bach ein Regelkünstler war, der für die komplette Klassik sowie für alles, was nachfolgte, bahnbrechend war. Man hat doch iwann die 9-Ton-Musik erfunden, den Jazz, Rap... - dafür gelten doch immer wieder neue Regeln, hätte ich gedacht?

Der Zwerg und Miss Vivien erinnern mich an John Irvings Zirkuskind. Auch er liebt skurrile Gestalten.

Etwas mehr lässt Alicia jetzt über ihr Liebesleben heraus. Wobei ich nicht sicher bin, ob der ältere Schüler mit der Liebe ihres Lebens identisch ist. Vielleicht war der Schüler auch nur ein Initiierungserlebnis?

Richtig spannend die Szene bei der Zündung der Atombombe: Wie fühlten sich die Wissenschaftler, was hat es mit ihnen gemacht? Der Affe mit den zugehaltenen Augen ist ein gutes Bild. Der Vater bezahlte die Erfindung mit seinem Leben. Tragisch wiederum die erfolglose Suche nach seinem Grab. Wie schwer solche Versäumnisse wiegen können. Interessant auch Alicias Erwiderung in Bezug auf ihren Vater: Sie stand ihm nicht nahe, aber sie liebte ihn. Spitzfindig, die Frau.
 

petraellen

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Mathematik, Bach und Musik ist nicht zufällig gewählt. Musik und Mathematik passen hervorragend zusammen. Mc Carthy schreibt nicht nur exelente Dialoge, sondern setzt auch Symbolik ein. Stella Maris im ersten Teil hatte ich schon geschrieben. Hier bei Bach zeigt es sich, wie eng Mathematik und Musik miteinander verknüpft sind. B-A-C-H = 14 (Die Summe der Buchstaben) .
Man denke nur auch an die Rhythmik, die Intervalle, die unterschiedlichen Strukturen in Musikstücken, an den Instrumentenbau oder die verschiedenen Tonstrukturen. In der Musik lassen sich viele mathematische Inhalte aufzeigen. 14 läßt sich auch sehr gut durch zwei teilen: ergibt sieben. Wir haben sieben Sitzungen. Die sieben steht für: "Die Sieben ist die Summe von drei und vier, von Geist und Seele einerseits sowie Körper andererseits, also das Menschliche." Zufall bei Mc Carthy? Ich meine nein.
 
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Literaturhexle

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Gute Mathematiker sind oft gute Musiker und umgekehrt. Beide Disziplinen sind in derselben Hirnregion angesiedelt.
Musik besteht in ihrem Kern auch aus Luftschwingungen, deren Frequenzen man absolut berechnen kann. Der Zusammenhang zwischen Musik und Mathematik ist zweifellos vorhanden, das wollte ich nie bezweifeln. Was ich nicht weiß ist, ob die musikalischen Regeln wirklich endlich sind.schließlich werden ständig neue Stile mit neuen Regeln geboren.
 

Naibenak

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Man hat doch iwann die 9-Ton-Musik erfunden, den Jazz, Rap... - dafür gelten doch immer wieder neue Regeln, hätte ich gedacht?

Was ich nicht weiß ist, ob die musikalischen Regeln wirklich endlich sind.
Musik ist meines Wissens nicht starr in den Regeln. Sie hat sich stets weiterentwickelt und verändert. Unabhängig von bspw Dur und Moll gibt es noch eine Reihe weiterer Tonleitern/musikalischer Geschlechter (dorisch, phrygisch, mixolydisch etc). Außerdem ist Musik auch stark abhängig in ihrer Form von der jeweiligen Kultur. Mit Mathematik ist die Musik aber wohl immer schon eng verknüpft. Mathematische Regeln für die Musik gab/gibt es immer, jedoch haben sich diese auch immer verändert. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die Möglichkeitwn im Musikalischen unendlich sind.
 

Naibenak

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Mir geht es wie euch, ich bin zunehmend gefesselt von den Gesprächen. Zum Teil, weil ich etwas mehr verstehe und andererseits, weil auch ich die Dialoge sehr gelungen finde. Es gibt aber auch Szenen, die so abgedreht philosophisch daherkommen, dass ich passen muss. Ich habe nichts gegen philosophisch angehauchte Romane, im Gegenteil. Jedoch möchte ich den Gedanken irgendwie folgen können. Das ist hier leider häufiger nicht der Fall.

Einige Dinge wiederholen sich, zum Bsp hinsichtlich der Wahrnehmung von Realität, vom Leben... Auch Erinnerungen an den Vater.

Berührend finde ich die Tatsache, dass Bobby das Grab seines Vaters nicht finden konnte und wie sehr das die Geschwister belastet.

Im Großen und ganzen lese ich es momentan lieber als zu Beginn. Aber auch ich werde das Gefühl nicht los, dass die Lektüre vom "Passagier" durchaus hilfreich gewesen wäre bei alledem. Die Beziehung zu Bobby z. Bsp. - wie war die? Offenbar sehr eng... Oder mehr als das?
 

Literaturhexle

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Die Beziehung zu Bobby z. Bsp. - wie war die? Offenbar sehr eng... Oder mehr als das?
Ich denke, darüber lässt Alicia Dr Cohen bewusst im Unklaren. Und damit auch uns.
Mir geht es zwar wie dir, was das Unverständnis mancher Aussage betrifft - allerdings habe ich nicht den Eindruck, dass der Passagier helfen würde. Selbst das Feuilleton ist sich nicht klar darüber, welchen der beiden Romane man zuerst lesen sollte. Einig ist man nur darüber, dass beide zusammen gehören und sich ergänzen.
 

petraellen

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In diesem Teil Abschnitt IV erfahren etwas über das Leben in Stella Maris. Alicia nimmt das Stichwort Tischtennisnetz und erläutert die Grundregel. Kein Patient darf sich verletzen. Gürtel oder Seile, Glas oder Schafe Kanten sind verbannt. Spiegel bestehen aus Edelstahl. Selbst das harmlose Tischtennisnetz verbirgt eine Gefahr. Wahrscheinlich hat sich schon ein Patient damit erhängt. Danach wird das Gespräch weitergeführt mit der Vereinbarung, dass jeder drei Fragen stellen darf. Alicia stellt Dr. Cohen persönliche Frage nach seiner Familie. Weiter folgt diese Sitzung unterschiedlichen philosophischen Gedankengängen. Es stellt sich heraus, dass Alicia die Geige fehlt. Sie hat sie abgegeben, obwohl sie eine Stütze für sie war. Philosophisch betrachten sie das Universum, wenn verschwände, würde nur die Musik bleiben. Ohne Regeln hat man nichts als Lärm. Wenn wir eine falschen Ton hören, zucken wir zusammen. (vgl S. 123) Bei diesem Thema würde ich gerne mit philosophieren. Und weiter dreht es sich um Mathematik. Thema ist auch wieder der Zerg. Kann der Zwerg Alicia in den Abgrund treiben? Alicia definiert die Möglichkeit über eine definierbare Beziehung zu der Stimme einer Halluzination. "Die meisten Selbstmörder brauchen keine Stimme" (S. 128) Mc Carthy nimmt hier Bezug auf das Kekule Problem aus dem Jahr 2017 indem der Autor über die Beziehung zwischen Sprache und Unterbewusstsein nachdenkt. Über weitere Themen wird am Schluss des LA über die Geige gesprochen. Eine Geige hat keine Vorläufer." Sie erscheint in all ihrer Perfektion einfach aus dem Nichts. (S. 151) Ein kleiner Mann aus dem fünfzehnten Jhd. fällte Ahorn und schnitt sie in dünne Bretter, ließ sie sieben Jahre trocknen (hier wieder die sieben) und machte sich, nach einem Dankgebet an Gott, an die Arbeit. Das geht Alicia sehr nahe.
 
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Literaturhexle

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Stimmt, so betrachtet mag es absolut richtig sein :)
Vielleicht, vielleicht auch nicht. Das wüsste ich gerne von einem Musiker bestätigt. Die Anzahl der Töne mag endlich sein. Aber die Regeln? Neue Musikrichtungen bringen neue Konzepte, neue Rhythmen, Betonungen. Gefühlsmäßig ist mit diese Aussage zu resolut. Sie lässt keine Spielräume. Sie klingt gut. Aber ob sie der Wahrheit entspricht?
 
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