3. Leseabschnitt: Teil 2 (Seite 87 bis Ende)

Christian1977

Bekanntes Mitglied
8. Oktober 2021
2.651
12.956
49
47
Ich fand den zweiten Teil insgesamt gelungener als die erste Hälfte. Offenbar habe ich diesmal eher die Originalität des Schreibstils zu schätzen gewusst als zuvor, denn die langen Sätze haben mich kaum noch gestört. Wahrscheinlich auch, weil ihr immer betont habt, wie toll das sei. ;)

Grundsätzlich lag ich mit meiner Einschätzung, dass Max Rache üben könnte, also richtig. Überrascht hat mich jedoch, dass diese verhältnismäßig harmlos ausfällt. Wobei ein Rachemord vielleicht auch nicht zum zuvor angeschlagenen Tonfall gepasst hätte - insbesondere in Bezug auf Max, der in seiner stumpfen Naivität nicht wie ein Killer daher kam. Und trotz des ernsten Themas meinte ich, oftmals eine gewisse Süffisanz dahinter zu erkennen.

Max' Finale finde ich ein wenig unfair, auch wenn es dabei bleibt, dass ich mit keiner Figur etwas verbinden konnte. Denn letztlich ist der Boxer am Ende eine so grotesk harmlose Figur, dass nicht einmal die Bodyguards ihn noch ernst nehmen.

Gar nicht erwähnt wurde in meinen Augen, ob Quentin überhaupt verheiratet ist. Dann hätte diese Geschichte doch noch ein weiteres Geschmäckle gehabt oder?
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.488
50.095
49
Im Grunde genommen ist dieser Ausgang erwartbar gewesen. Laura ist nicht abgebrüht genug, um den erfolgreichen, gut vernetzten Minister zu Fall zu bringen, der die Vorwürfe wie Öl an sich abperlen lässt. Die Macht gewinnt den ungleichen Kampf.

Doch manches ist nicht schlüssig. Max hat sich monatelang auf den Boxkampf vorbereitet. Am Vortag erfährt er, dass seine erwachsene Tochter vom BM, seinem Arbeitgeber, sexuell ausgenutzt wird. Das wird ihn aufregen. Er könnte den Kampf absagen. Aber nein. Er lässt sich zur Schlachtbank führen und sich bewusst zum Krüppel prügeln. Ich habe an Drogen gedacht, die man ihm verabreicht hat, So unrealistisch wirken die Sequenzen auf mich (Stichwort: Ätherrausch).

Offenbar gab es aber kein Fremdeinwirken. Max wollte sich größtmöglich bestrafen lassen. Sind ihm die Sicherungen durchgegangen beim Anblick Lauras zwischen den zwei Männern? Oder hat er es geplant?
Sein Niedergang wird sehr plastisch geschildert. Max wird dauerhaft behindert bleiben. Was Laura wieder in die Arme des Bürgermeisters treibt. Schade, dass ihr keine anderen Strategien einfallen.

Die Anzeige ist also die Revanche für seine Abfuhr, seine Verachtung. Auf Seite 116 taucht das "Ich" wieder auf. Wer ist dieses Ich?

Max schafft es, sich seine Handschuhe zu holen, den Minister zu finden, auf die Bühne zu klettern und ihn zusammenzuschlagen. Ein später Sieg. Ist das realistisch, so verwirrt, wie Max gezeichnet wird? Allerdings kann er doch nie und nimmer schuldfähig sein?! Zwei Jahre? Da kann Ulrike vielleicht etwas dazu sagen.

Gezeigt wird in diesem Buch tatsächlich ein System. Die Details sind nicht so wichtig, es geht ums Prinzip. Auch wenn einem keine Figur nahe kommt (oder genau deswegen), versteht man das Prinzip: David gegen Goliath, die Macht trägt den Sieg davon...

Mir hat der Roman sehr gut gefallen. Die Intensität des ersten Abschnitts hat sich für mich im zweiten etwas verloren, obwohl mehr passierte, konnte ich die "emotionale Dichte" nicht mehr in gleicher Weise spüren, die mich so begeistert hat. Trotzdem ist der Schreibstil für mich der Star dieses Romans.
 

Christian1977

Bekanntes Mitglied
8. Oktober 2021
2.651
12.956
49
47
Sind ihm die Sicherungen durchgegangen beim Anblick Lauras zwischen den zwei Männern? Oder hat er es geplant?
Ich denke, er hat es geplant. Dafür spricht auch, wie apathisch er zuvor bei der Autowäsche ist und das Plakat für den Boxkampf später im Blick hat.
Ein später Sieg.
Findest du? Ich habe es als Niederlage auf ganzer Linie empfunden. Verlacht bzw ignoriert von der Öffentlichkeit haut er den Bürgermeister zwar blutig, doch letztlich ist er es, der trotz seiner Behinderung ins Gefängnis muss, während Quentin nicht einmal angeklagt wird. Das meinte ich auch mit "unfair" gegenüber Max.
 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.701
22.126
49
Brandenburg
Findest du? Ich habe es als Niederlage auf ganzer Linie empfunden.
Ja, ich auch. Darüber könnte man diskutieren.

Ein frustrierender Roman über den Mechanismus der Macht. Diesmal wie es sich im Kleinen auswirkt.
Man könnte natürlich auch trefflich darüber diskutieren, wie die andere Seite aussieht. Wir haben ja nur Lauras Sicht bekommen. Wenn ich so was in der Zeitung lese, denke ich da anders drüber, muss ich zugeben.
Und Laura ist nicht die hellste Kerze auf der Torte. (Ich habs ja geahnt). Jedoch ist das kein Grund, sie auszunutzen.

Ich muss das Ganze mal auf mich wirken lassen.

Das Spielchen, den Mechanismus als Protagonist herzunehmen, das gefällt mir. Der Bewusstseinsstrom, wie Bi das schon im 2. LA gesagt hat, ist auch sehr nachvollziehbar. Das ist wohl die moderne Erzählart, oder zumindest eine moderne, wenn nicht die. Bei Galgut hatten wir das auch. (Da mochte ich es nicht). Hier passt es. Aber die Vergleiche im letzten LA lassen mich oft schaudern.
Obwohl ich wieder einen gefunden habe, den ich genial finde, wie die Eröffnungszeremonien abgehalten werden, um die politischen Größen rauszuputzen, "Zeremonien, die heruntergebetet werden wie der Rosenkranz", das ist groß, aber so viele andere, ein Gehirn wie ein Drachen am Himmel an einer Schnur, da wird mir schummerig. So schlecht ist der und das ist nicht der einzige.
Das gibt auf alle Fälle Punktabzug. Fragt sich nur, wieviel.
Dazu muss ich Rezi schreiben. Erst dabei wird mir meistens klar, wie ich einen Roman wirklich einschätze. Meine Finger wissen es also, sie sind wie die Bewegung des Brunnenschwingels, der das klare Wasser (der Rezension) aus dem Brunnen pumpt.
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.488
50.095
49
Findest du? Ich habe es als Niederlage auf ganzer Linie empfunden.
Ja. Natürlich. War reiner Sarkasmus. Eine armselige Gestalt ist Max geworden. Aber warum lässt er sich im richtigen Kampf dermaßen demütigen? Er liebt seine Tochter. Will er sich bestrafen, weil er selbst Laura dem BM "zugeführt" hat, er selbst den Missbrauch möglich machte?

Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Max genauso obrigkeitshörig tickt wie seine Tochter. Das wird ihr anerzogen sein.
So schlecht ist der und das ist nicht der einzige.
Och? Der wird da gerade zusammengeprügelt. Das Hirn schwappt von links nach rechts, das Nasenbein kommt dazu...
(War es nicht in dem Kontext?)
Aber ich kenne das: ist man erst einmal genervt, schaut man genau hin. Und das tut den ausufernden Metaphern meist nicht gut.
Aber ich will nicht genau hinschauen. Mir haben die Wortgebilde einfach gefallen. Sollte was weniger Gelungenes dabei sein, hat es sich in meinen Augen gut verstecken können.
 

Emswashed

Bekanntes Mitglied
9. Mai 2020
2.743
9.827
49
Als Max sich zusammenschlagen ließ, dachte ich, er macht das, weil er vielleicht wusste, dass seine beiden Widersacher große Summen auf ihn gewettet haben.... aber davon war ja überhaupt keine Rede.

Ich musste gestern Abend die ganze Zeit an Ferdinand von Schirach denken, der auch solche "Machtverhältnisse" in seinen Geschichten beschreibt. Nur ist von Schirach das komplette Gegenteil von Viel. Er schreibt nüchtern, mit wenigen Worten. Nur die konzentrierte Sicht auf das jeweilige "Spiel", das ist beiden gemeinsam.

Nun bewundere ich von Schirach und das brachte mich jetzt mächtig ins Grübeln. Viel beschreitet einen komplett anderen Weg, ist deswegen aber nicht weniger eindringlich.

(Abgesehen davon, dass der eine echte Fälle, der andere Fiktion schreibt, dass aber der Sache an sich keinen Abbruch tut.)
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.488
50.095
49
Ich musste gestern Abend die ganze Zeit an Ferdinand von Schirach denken, der auch solche "Machtverhältnisse" in seinen Geschichten beschreibt.
Gilt das für alle seine Bücher? Ich gebe zu, meine Lektüre ist schon sehr lange her. Es hat mir gefallen, aber ich bin der Reihe nicht mehr gefolgt.
Dieses Thema klingt interessant. Was empfiehlst du zuerst?
 

ulrikerabe

Bekanntes Mitglied
14. August 2017
3.050
7.678
49
Wien
www.facebook.com
Max schafft es, sich seine Handschuhe zu holen, den Minister zu finden, auf die Bühne zu klettern und ihn zusammenzuschlagen. Ein später Sieg. Ist das realistisch, so verwirrt, wie Max gezeichnet wird? Allerdings kann er doch nie und nimmer schuldfähig sein?! Zwei Jahre? Da kann Ulrike vielleicht etwas dazu sagen.
Ulrike kennt sich bei den Franzosen nicht aus. Haben die nicht auch einen speziellen Paraagrafen für eine Affekttat, wenn Mann die Frau mit Liebhaber erwischt! Ich scheitere ja schon an der Bezeichnung "Klägerin" für eine Person, die bei der Polizei Anzeige erstattet.

Grundsätzlich finde ich das Bild des Pflegefalls Max nicht stimmig, mit dem was er tut. Er nimmt die Medikamente nicht, kann stratetigisch denken, schafft es mental und physisch vom Spital in die Stadt, zu Bellec und dann zu Le Bars. Das wirkt alles durchdacht und geplant. Erschwerend kommt dazu, dass er Boxer ist und weiß, was er mit seinen Fäusten anrichten kann. In Ö gibt es bis zu drei Jahre für schwere Körperverletzung. Die zwei Jahre finde ich nicht unrealistisch.
 

ulrikerabe

Bekanntes Mitglied
14. August 2017
3.050
7.678
49
Wien
www.facebook.com
Nun bewundere ich von Schirach und das brachte mich jetzt mächtig ins Grübeln. Viel beschreitet einen komplett anderen Weg, ist deswegen aber nicht weniger eindringlich.
Ach der Ferdinand von Schirach, das ist mein Liebster unter den schreibenden Juristen. Auf den steh' ich ein bisschen. ;)
 

ulrikerabe

Bekanntes Mitglied
14. August 2017
3.050
7.678
49
Wien
www.facebook.com
Der Bewusstseinsstrom, wie Bi das schon im 2. LA gesagt hat, ist auch sehr nachvollziehbar.
Sollte der Bewusstseinsstrom nicht das Bewusstsein der handelnden Personen darstellen. Ein Menachnaismus hat doch kein Bewusstsein.

Mir war viel zu oft Gedankenwelt eines abgehobenen Erzählers, die nicht in die Welt der Personen gepasst hat. Da wir dem Max das Hirn aus dem Leib geboxt und der Erzähler schreibt so schön von tektonischer, brodelnder, kollektiver Seele. Das war kurz vor knapp, dass ich versucht habe festzustellen welche tektonische Auswirkung es hätte, wenn das Buch am Boden aufschlägt.
 

ulrikerabe

Bekanntes Mitglied
14. August 2017
3.050
7.678
49
Wien
www.facebook.com
Beim Boxen kenne ich mich eigentlich noch weniger aus als bei den Franzosen. Aber ist es in der deutschen (Sport)sprache üblich zu einem Boxkampf Match zu sagen (S. 98) ?
Oder ist es hier wieder der Übersetzer, der mir komisch vorkommt (match de boxe heißt es offenbar im Französichen)
 
  • Like
Reaktionen: Emswashed

Christian1977

Bekanntes Mitglied
8. Oktober 2021
2.651
12.956
49
47
Beim Boxen kenne ich mich eigentlich noch weniger aus als bei den Franzosen. Aber ist es in der deutschen (Sport)sprache üblich zu einem Boxkampf Match zu sagen (S. 98) ?
Oder ist es hier wieder der Übersetzer, der mir komisch vorkommt (match de boxe heißt es offenbar im Französichen)
Ich habe das im Deutschen auch noch nie gehört. Aber Hinrich Schmidt-Henkel mag ich trotzdem nicht kritisieren, weil er uns bei norwegischer Literatur schon so viele schöne Stunden beschert hat... Unantastbar für mich. ;)
 

Lesehorizont

Bekanntes Mitglied
29. März 2022
2.580
9.749
49
53
Mainz
Ich hatte vorgestern etwas Migräne und war auf einer Lesung von Karl-Ove Knausgard, die übrigens super war. Ich habe "Der Morgenstern" jetzt signiert hier und werde ihn über Ostern lesen :)

Doch zurück zu diesem Roman.
Ich muss sagen, dass es bei mir im Vergleich zu Christian genau andersrum war: Ich fand den zweiten Teil schwächer als den ersten. Der erste Teil lebte von der Stilistik und vom subtilen Spannungsbogen. Meiner meinung nach gibt es da im zweiten Teil einen deutlichen Bruch. Er ist jetzt handlungsintensiver. Dass es durch Max zu einer Art Racheaktion kommen würde, hatee ich vermutet. Auch dass Laura den Missbrauch zur Anzeige gebracht hat, war ja angedeutet. Die Innensicht Lauras fand ich hier in dem Abschnitt noch am besten gelungen, Anderes ging mir zu plötzlich oder ließ mich irgendwie enttäuscht zurück...
 

Lesehorizont

Bekanntes Mitglied
29. März 2022
2.580
9.749
49
53
Mainz
Findest du? Ich habe es als Niederlage auf ganzer Linie empfunden. Verlacht bzw ignoriert von der Öffentlichkeit haut er den Bürgermeister zwar blutig, doch letztlich ist er es, der trotz seiner Behinderung ins Gefängnis muss, während Quentin nicht einmal angeklagt wird. Das meinte ich auch mit "unfair" gegenüber Max.
Es geht wohl um Themen wie Macht und Dominanz und Ende siegt wohl der, der am längeren Hebel sitzt. Vielleicht hat mich das am Ende frustriert. Es ist aber irgendwie auch realitätsnah.