3. Leseabschnitt: Seite 96 bis 134 (Ende)

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Ich fand diesen Abschnitt zwar wieder etwas besser als den zweiten, aber zurückgewinnen konnte mich das Buch leider nicht mehr wirklich.

Ehrlich gesagt mochte ich es am liebsten, wenn ich den Kopf abschalten und die schöne Sprache genießen konnte. Die Beschreibung der Regentropfen, des Schirms - dem konnte ich mich hingeben, wenn die Autorin nicht gerade irgendwelche kindlichen Reime oder Lautmalereien einbaute. Gerade auf letztere reagiere ich in der Literatur allergisch.

Was soll uns ansonsten das Ende sagen? Die Welt ist nicht der richtige Ort für träumende kleine Mädchen? Oder war es zumindest damals nicht? Der Tod ist eine Erlösung?

Ich bin ratlos... Und ihr?
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Schön, dass schon etwas dazu dasteht zu diesem Abschnitt!

Im ersten Moment frug ich mich, ob hier die Anfänge des Existenzialismus liegen. Aber als ich die Definition nachlas, verneinte ich. Impressionismus vielleicht, beim Impressionismus lösen sich die Formen auf und werden Tupfer. (Ich kenn mich überhaupt nicht aus auf dem Gebiet der Malerei, also nur so ganz laienhaft, oberflächlich). Aber Impressionismus ist es auch nicht. Man bräuchte ein eigenes Wort, so kreiere ich: Dissolvere - Dissolutionismus. Das sich Auflösende. Vllt fällt euch was Besseres ein.

In diesem Abschnitt wende ich mich vom eigentlichen Roman erstmal ab und wende mich der Zeit zu, aufbrechende Moderne. Denn als Roman selber funktioniert er nicht. Es ist wohl ein Frühwerk Manners; ein literarisches Experiment. Als solches kann es ein Literaturwissenschaftlicher sicher besser würdigen.

Zurück zum Romangeschehen selber: Alles löst sich auf. Sein und Nichtsein ist dassselbe (heftiger Widerspruch). Zunächst hat Leena nur Nachsitzen. Dann wünscht sie sich einen Schirm. Und beim Schuleschwänzen (schwänze nie die Schule - aber ist ja zu spät für uns)- kommt sie auf die Idee, mit dem Schirm aufs Wasser hinaus zu fahren. Sie ertrinkt. Ist das logisch? Nein, natürlich nicht. Eine Neunjährige, die am Meer wohnt, weiss, dass man dann ertrinkt. Aber das will der Roman ja auch gar nicht, eine logische Geschichte erzählen. Er relativiert die Bedeutung des Lebens. Er behauptet, alles fließt ineinander und nichts ist wichtig. Oder alles ist gleich wichtig.

Dass die Autorin das Ertrinken literarisch erhöht und verbrämt, damit hat sie es mit mir verdorben. Ertrinken ist KEIN schöner Tod. Und der Tod ist auch nicht mit dem Leben gleichzusetzen.

Das wiederkehrende Motiv ist das Wasser. Das andere die Musik.

Was Musik angeht, habe ich ja etwas anderes erwartet. Mehr Bach. Vielleicht ein Kind, das durch die Musik gerettet wird. Aber Pustekuchen.

Die Finnen spinnen? Nun ja, so viel Dunkelheit und dann so viel Licht. Und Kargheit. Das Buch von Lars Mytting "Die Glocke im See" öffnet mir auch ein wenig diesen Roman. Aberglaube, Mythen, Phantasiewelt. Die Jahreszeiten, die so ganz anders sind als bei uns, bringen auch eine andere Literatur hervor. Und sehr viele Suizide. Besser sie schreibt und bringt Leena um als sich selber.

Schon fast ein Fazit.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Dass die Autorin das Ertrinken literarisch erhöht und verbrämt, damit hat sie es mit mir verdorben. Ertrinken ist KEIN schöner Tod. Und der Tod ist auch nicht mit dem Leben gleichzusetzen.
Das hat mir auch missfallen. Nicht nur wegen des Ertrinkens als Form des Todes, sondern weil es mir allgemein so schien, als würde der Tod hier als etwas Schönes oder Erlösendes betrachtet.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Angenommen Leena wäre nicht Leena, sondern die Kindheit an sich - dann würde das Ganze für mich logischer. Dann wäre der Roman eine Allegorie. Sollte dann nicht Allegorie draufstehen? Als Allegorie auf die Kindheit, die notwendigerweise verschwindet (stirbt) könnte ich was damit anfangen. Aber dann läse ich den ganzen Roman anders.
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
In diesem LA ist mir immer mehr die Kindersicht dieses Romans negativ aufgestoßen, die ich dem Buch immer weniger glauben konnte. Der Erzähler/die Erzählerin hält wirklich sehr wenig (zu wenig?) Abstand von ihrer Hauptfigur Leena und lässt so den Eindruck entstehen, als habe er/sie sich in ihrem Kopf breit gemacht und vermittelt uns nun relativ ungefiltert Leenas Weltsicht. Aber da schießt er/sie, meines Erachtens, ganz schön über das Ziel hinaus. Denn er/sie legt Leena Gedanken und Gefühle in den Mund/den Kopf, denen ich die Kindersicht einfach so gar nicht abnehmen kann. Und dann ergibt sich für mich Konfusion: Wer vermittelt mir hier eigentlich etwas und wie weit kann und soll ich diesem Vermittelten Glauben schenken.
Diese Verwirrung hat mir bei der Lektüre nicht geholfen, sondern hat mir den 3. LA leider immer weiter vermiest
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Nun bin ich doch einigermaßen überrascht, wo mich der letzte LA hingetragen hat. Es hat mich gefreut, dass man diesen skurrilen Filemon hinter sich lassen konnte. Das Mädchen hat ihn offenbar aber völlig anders wahrgenommen als ich: Während ich den Kinderhasser gesehen habe, der Verwirrliches über Gott und die Welt von sich gibt, hat er Leena fasziniert und nachhaltig positiv beeindruckt, wie sie auch ihrem Onkel in berührenden Worten schreibt.
Und keinen Filemon, der etwas seltsam und etwas betrunken war, aber ansonsten ziemlich nett und lustig. S. 98

Das einsame Mädchen hat in der Kirche mit Elisabet einen Ort des Verständnisses und den Zauber der Musik gefunden. Die Großmutter will davon nichts hören. Die Kirche ist römisch-katholisch, der Ort wird ihr verboten. Konfessionelle Unterschiede kamen zu jener Zeit nicht nur in Finnland tiefen Gräben gleich.
Die Großmutter ist mit diesem fantasievollen, verträumten Kind heillos überfordert. Zumal ihr selbst die Lebensfreude längst abhanden gekommen ist. Ihr Mann erhängte sich. Vielleicht ist es auch sein Erbe, das Leena zu schaffen macht?

Die Gedanken des Mädchens schwanken in diesem LA hin und her. Sie haben nur manchmal etwas mit der Realität zu tun. Zum Beispiel, als Leena sich vornimmt, besser auf die Oma zu achten, damit sie noch lange lebt. Oder der Besuch der nächtlichen Schule, als die Lehrerin sie versetzt. Immer wieder wird Leena von ihrer Traumwelt übermannt, in der sich Fragmente aus Worten und Bildern wiederfinden, die sie erlebt/gehört hat.

Es gibt zahlreiche Bilder, die mich wieder an den poetisch-traurigen Anfang erinnern. Insofern schließt sich für mich der Kreis. Bilder der Hoffnung wechseln mit Bildern der Verlorenheit. Nach wie vor möchte Leena die Flucht ergreifen. Die Schule ist ein Ort des Schreckens und der Demütigung für sie. Leider bleibt auch der Onkel blass, wir sehen ihn nur durch sein Geschenk, den lilafarbenen Regenschirm, das ihr Flügel verleihen soll.

Die folgenden Tage erlebte Leena wie im Traum. S.111
Das kann ich nur bestätigen. Der Boden zur Realität wird immer dünner. Die aufsteigenden Bilder sind jedoch mitunter wunderschön formuliert, wenn auch die Stimmung zunehmend ins Melancholische gleitet. Bsp.:
Die Welt ist wieder groß und schön, diese violette Welt. Wie eine gigantische, aus einem Traum hervorgesprossene Blume schimmert sie über ihr, schwankt in dem Asphaltspiegel unter ihr, sie klingt und singt und schimmert. 115
Leenas Stimmungen wechseln hin und her. Das Ganze wird flankiert von ihrem Irrlauf durch die Stadt.
Nur Träume sind wahr, Menschen nicht. Nur der Traum ist wahr, und alles andere grau. 120
Die Einsamkeit dieses Mädchens wird körperlich spürbar. Den Traum vom Verirren kann ich gut nachvollziehen. Diese Panikträume kenne ich - lang ist´s her. Das Ende, der tragische Tod im Wasser, war im Grunde vorherzusehen. Die poetisch erhobenen Motive Wasser, Musik, Flügel waren in diesem Teil omnipräsent. Ein "schwieriges" Mädchen wie Leena hat es in dieser kalten Realität schwer, in der man funktionieren muss, Verbündete fehlen ihr. Bitter, dass die Kirche gerade an dem Tag geschlossen ist, als sie ein offenes Ohr gebraucht hätte.

Die finnische Literatur unterscheidet sich von der mitteleuropäischen. Ihr wohnt wesentlich mehr Melancholie und Schwere inne (habe ich in einem VHS Literaturkreis gelernt), auch gibt es dort viel mehr schreibende Menschen. Der Ausgang des Romans erinnert mich erneut an "Die Vögel" oder "Das Eisschloss" von Tarjei Vesaas.

Mich hat dieser 3. LA in Summe wieder erreicht. Jetzt lese ich mal eure Kommentare.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ehrlich gesagt mochte ich es am liebsten, wenn ich den Kopf abschalten und die schöne Sprache genießen konnte.
Genau. Die Sprache muss man wirklich wertschätzen und auf sich wirken lassen. Diese Kinderreime haben mich nicht irritiert. Mich hat nur der musikalische Kontrast von Bach zum Walzer irritiert. Da war sie dann wieder ganz das bei der Omi aufgewachsene KInd;)

Was soll uns ansonsten das Ende sagen? Die Welt ist nicht der richtige Ort für träumende kleine Mädchen
Kennen wir das nicht schon von Vesaas? Hat es uns beide da nicht begeistert?!
Eine Neunjährige, die am Meer wohnt,
Es ist wohl eher ein plätschernder Fluss, mit Brücke drüber weg. So habe ich es verstanden. Aber klar: Die Gefahren bleiben gleich.
Er relativiert die Bedeutung des Lebens. Er behauptet, alles fließt ineinander und nichts ist wichtig. Oder alles ist gleich wichtig.
Du hast Recht. Das klingt nach einer grundsätzlichen Einstellung. Dissolutionismus. Muss ich sacken lassen.

Die Finnen spinnen? Nun ja, so viel Dunkelheit und dann so viel Licht. Und Kargheit.
Aberglaube, Mythen, Phantasiewelt.
Jep. Das gilt es zu bedenken. Die Finnen ticken literarisch einfach anders.
Sollte dann nicht Allegorie draufstehen? Als
Sowas steht nie drauf. Ein Roman kann grundsätzlich alles sein, auch eine Allegorie.
Aber dafür schwimmt mir doch zuviel Konkretes mit im Pudding... Es ist eine Mischung aus Realität, Fantasie und Traum. Die letzten beiden münden im ersten. Der Tod ist das Ende.
 

Christian1977

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Kennen wir das nicht schon von Vesaas? Hat es uns beide da nicht begeistert?!
Es ist ähnlich, stimmt, aber da hatte ich nicht das Gefühl, dass der Tod als eine Art Erlösung oder als erstrebenswert angesehen wird. Damit habe ich hier ein Problem. Noch begeisterter waren wir glaube ich beide auch noch von Vesaas' Vögeln.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Dass die Autorin das Ertrinken literarisch erhöht und verbrämt, damit hat sie es mit mir verdorben. Ertrinken ist KEIN schöner Tod. Und der Tod ist auch nicht mit dem Leben gleichzusetzen
Hier wird kein Plädoyer für den Suizid durch Ertrinken gehalten. Das ist kein realistisches Buch, sondern es beschreibt neben der realen Welt eines kleinen Mädchens - Schule, das Zusammenleben mit der Oma- eine magische märchenhafte Welt, in der Leena oft verschwindet. Bei ihr ist Wasser positiv besetzt, so klar und ewig wie die Musik, und darin zu verschwinden oder aufzugehen ist für sie eine schöne Vorstellung.
sondern weil es mir allgemein so schien, als würde der Tod hier als etwas Schönes oder Erlösendes betrachtet.
Für Menschen, die in einer trostlosen Welt sich verlassen fühlen, kann der Tod sehr wohl was Erlösendes haben.
Der Erzähler/die Erzählerin hält wirklich sehr wenig (zu wenig?) Abstand von ihrer Hauptfigur Leena
Für mich ist die Erzählerin selbst das Mädchen Leena, sie fühlt sich ein in ihr früheres Ich. Da braucht es keinen Abstand, auch nicht den Einwurf, dass 9jährige keine solchen GedankenGänge haben können.
 

Literaturhexle

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Hier wird kein Plädoyer für den Suizid durch Ertrinken gehalten. Das ist kein realistisches Buch,
So würde ich es auch lesen wollen. Leena ist für die reale, harte Welt nicht gemacht. Hier gleitet sie quasi aus dem Leben heraus und lässt den Ballast hinter sich. Mir gefällt das Bild. Ist es das Auflösen (Dissolutionismus;)) der Kindheit, das Erwachsenwerden oder tatsächlich der (Unfall-)Tod?
Die Autorin kommt aus der Lyrik. Auch das sollte man bedenken.

Bei ihr ist Wasser positiv besetzt, so klar und ewig wie die Musik, und darin zu verschwinden oder aufzugehen ist für sie eine schöne Vorstellung.
Ein Schlussakkord, der sich perfekt in die Motivlage des kleinen Romans einfügt.
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Mir hat hier doch noch mal das ein oder andere von euch geschriebene, aber auch das Nachwort etwas Klarheit gebracht. Wenn ich die Übersetzungstätigkeit der Autorin (Kafka, Lewis Carroll etc.) berücksichtige, wundert mich die surreale Geschichte überhaupt nicht mehr; ich hätte das Nachwort vielleicht als Vorwort lesen sollen...:cool:
 

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29. März 2022
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Mainz
Mir hat hier doch noch mal das ein oder andere von euch geschriebene, aber auch das Nachwort etwas Klarheit gebracht. Wenn ich die Übersetzungstätigkeit der Autorin (Kafka, Lewis Carroll etc.) berücksichtige, wundert mich die surreale Geschichte überhaupt nicht mehr; ich hätte das Nachwort vielleicht als Vorwort lesen sollen...:cool:
Ich werde die Abschnitte zwei und drei noch mal vor diesem Hintergrund lesen. Ich habe aktuell eh noch etwas Probleme mti dem lesen, da die Kopfschmerzen immernoch nicht ganz weg sind. Da macht Manner es mit nicht leicht. Aber das Nachwort finde ich durchaus inspirierend.