3. Leseabschnitt: Seite 91 bis 138

Anjuta

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8. Januar 2016
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Ich bin nicht gut darin, den inhaltlichen Faden eines Leseabschnitts wiederzugeben. Und werde das deshalb jetzt auch nicht tun, auch wenn ich hier den Reigen zum 3. LA starte.
Ich schreibe lieber darüber, was mir aufgefallen/was mich angesprochen hat.:
Hier geht es sehr stark um das Thema "Schaffensprozess" und zwar einerseits beim Schaffen einer Biografie. Barnes kokettiert da etwas mit dem unweigerlichen Nichtwissen des Biografen, indem er schreibt:
[zitat]Der Satz ruft uns in Erinnerung, dass die eingängige Lebensbeschreibung, die wir lesen, bei aller Detailfülle und Ausführlichkeit, bei allen Fußnoten, faktischen Gewissheiten und zuversichtlichen Hypothesen nur eine öffentliche Version eines öffentlichen Lebens und eine unvollständige Version eines privaten Lebens sein kann. Eine Biografie ist eine Ansammlung von Löchern, die mit Bindfäden zusammengehalten werden, ..."[/zitat]
Also schafft er ganz konsequent gleich keine, denn nichts ist dieses Buch doch weniger als eine Biografie Pozzis!
Andererseits beschäftigt sich der Autor hier mit dem Schaffensprozess von Portraits, mit der Rolle von Modell und der des Malers. Und wir haben die Freude, die angesprochenen Portraits auch direkt abgebildet vor uns sehen zu können.
Handlungsmäßig tritt das Buch weiter auf der Stelle. Die Reise kommt nicht andeutungsweise vor und keinerlei Vorbereitungen dafür sind erkennbar. Aber sie wird im Buch wahrscheinlich so überraschend und plötzlich beginnen wie so viele andere Gedankenstränge hier. Also: auf in den nächsten LA!
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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schafft er ganz konsequent gleich keine, denn nichts ist dieses Buch doch weniger als eine Biografie Pozzis!
Dennoch fand ich die Ehrlichkeit spannend. Ich erinnere mich an den Roman über Herrmann Oberth, den Physiker. Wir haben den Autor immer damit gelöchert, was nun wahr und was erfunden sei...
Wenn man sich die Löchrigkeit von Beginn an klar macht, ist das vielleicht nicht mehr so wichtig.
Desgleichen gilt für die Ehe Pozzis: Wir hören aus seinen Briefen die Unzufriedenheit raus. Barnes betont aber, dass die Sicht Thereses oder die ihrer Mutter eine völlig andere sein könnte. Was für Erwartungen hatte Pozzi, der schon durch allerhand wilde Betten gegangen war, an seine 10 Jahre jüngere, jungfräuliche Gattin? Ich vermute, er hat sie schon während der Flitterwochen überfordert:(. Mangelnde Empathie.
Es gefällt mir, wie der Autor den Zweifel an der Wahrhaftigkeit seiner Quellen selbst sät und kritisch als erzählendes Ich dazu Stellung bezieht.

P.S.: ich werde gleich den versuch einer Zusammenfassung machen, allerdings habe ich wenig Bezug zur Kunst, so dass sich mir manches nicht komplett erschlossen hat;)
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Gerüchte
ist eines der Themen, die ich entdecke. Da ist eingangs der Dialog, der nahelegt, dass Pozzi eine Geliebte hat. Dann der Literatenzirkel, über den ein Journalist schon im Vorfeld schrieb, so dass nicht einmal die Teilnehmer stimmten - die Gerüchte waren aber in der Welt.
Goncourts Journal scheint sich gerne mit den Schlüpfrigkeiten der Upper Class und der immer gleichen Personen zu beschäftigen: Wer mit wem, wie, wann und warum:D...
Den ambivalenten Umgang mit Homosexualität finde ich interessant: Lesben sind willkommener als (skandalfreie) Schwule. Homosexualität ist zwar nicht verboten, bringt aber Gefahren mit sich, in Scmutz und Elend zu landen. "Die Gesellschaft" rund um Pozzi scheint ihre Schwulen ja zu hofieren. Man verkleidet sich mit ihnen, lädt sie ein, genießt die Andersartigkeit und sogar Typen wie Lorrain.
Die Wissenschaft bemüht sich, das Phänomen medizinisch zu ergründen. Jetzt weiß ich endlich, wo der "warme Bruder" herkommt, ein Begriff, den mein Vater ebenso wie "den 175er" noch benutzte...
Ein paar Details gibt es zu unseren Reisenden. Originell, ein Geschenk mit einem freien Krankenbett zu vergelten. Die Reisetasche, die Riesenzyste und auch die Kugel tauchen erneut auf. (Faszinierend, wie sich Pozzi an die häusliche Operation herangewagt hat. Dünndarmdurchschuss- da ist anschließend soviel Dreck im Bauchraum, dass das auch heute noch schwierige Dinge sind...:confused:

Die Sammelbilder als Sammelsurium des Ruhms. Wer darauf auftauchte, hatte es geschafft.
Es geht um Kunst und was darüber entscheidet, welche Werke überleben. Immer eine Frage des Geschmacks/der Meinung und des Zeitgeists, wie Barnes anhand verschiedener Beispiele aus Kunst und Literatur darlegt. Die Kunst imitiert das Leben (und nicht umgekehrt). Kunst wird zu unterschiedlichen Zeiten völlig unterschiedlich bewertet. Der Dandy will den Geschmack perfektionieren.
Die Streiflichter Pozzis bringen uns den Protagonisten kurz ins Bewusstsein und zeigen seine schillernde, vielseitige Persönlichkeit. Er pflegt Umgang mit vielerlei Menschen und wird überall geschätzt und gemocht. Ein Tausendsassa.

Interessant die Ausführungen über Sargent und dessen Modell Amelie Gautreau. Was man damals schon als erotisch angesehen hat! Ich empfinde das Gemälde (S. 124) als ansprechend- aber erotisch?

Das oben von Anjuta genutzte Zitat habe ich auch fett markiert. Die Löcher in Biografien- schön, wenn man dazu stehen kann, nicht alles zu wissen (Wir wissen es nicht). Danach wird ein paar Seiten über geänderte Meinungen zu Kunst und Werk gefachsimpelt, natürlich mit Namen und Beispielen unterlegt. Mehr braucht man davon, glaube ich, nicht zu behalten;)
 

Querleserin

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wie der Autor den Zweifel an der Wahrhaftigkeit seiner Quellen selbst sät und kritisch als erzählendes Ich dazu Stellung bezieht.
Das ist aber sehr konsequent, da er nur Quellen hat, die aus einer Perspektive erzählen. Wir haben bereits viele Romane gelesen, deren Spannung daraus besteht, ein Ereignis aus unterschiedlichen Perspektiven darzustellen.

wunderbare Zusammenfassung, liebe @Literaturhexle. Ich schließe mich @Anjuta an und notiere einige Aspekte, die mir aufgefallen sind.
Interessant fand ich, dass Homosexualität in Frankreich seit 1791 legalisiert war. Erneut verweist Barnes auf die Unterschiede zwischen GB und Frankreich:
„Robert war immer zu sehr Franzose, um in die Extreme zu verfallen, für die die Engländer berühmt sind.“ (96)

Barnes lobt Pozzi in diesem LA in den Himmel - charmant, gastfreundlich, großzügig, bei allen beliebt, erfolgreich, ein wissenschaftlicher Atheist, wie @Literaturhexle treffend sagt: ein Tausendsassa ;), der vielleicht sogar schon Schönheitsoperationen durchgeführt hat.
Mir gefallen besonders Barnes rhetorische Fragen, in denen er nebenbei die Personen bewertet: „Oder wollte da womöglich jemand ein überflüssiges Teil loswerden?“ (102) über die Reisetasche, die der Graf Pozzi geschenkt hat und die die Initialen des Grafen hat.
Am Beispiel des Romans „Gegen den Strich“, den Wilde gelesen hat und der seinen Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ beeinflusst hat und der sogar darin in diesem vorkommt, zeigt Barnes „das Gesetz der unbeabsichtigten Folgen“ auf, denn beide Romane gaben dem Ankläger Wildes einen Hebel für die Verurteilung des Dichters.
Sehr ironisch fand ich den Abschnitt zu „Wir wissen es nicht. Sparsam gebraucht, ist das eine der stärksten Aussagen in der Biografensprache.“ (127)
Auf den folgenden Seiten kommt der Satz dann häufiger zum Einsatz ;)
Dass bei den Betrachtungen über Bilder diese mit abgebildet sind, ist sehr hilfreich und auch schön, so erspart man sich das Googeln ;).
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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über die Reisetasche, die der Graf Pozzi geschenkt hat und die die Initialen des Grafen hat.
Ja, diese Dinge machen Spaß und holen mich auch zurück, wenn ein Vergleich für mich persönlich mal nicht so prickelnd war.
denn nichts ist dieses Buch doch weniger als eine Biografie Pozzis!
Das stand auch nirgendwo geschrieben!
Dadurch wurde es im Vorfeld für uns auch schwer zu bewerten, ob das Buch unseren Geschmack trifft...
Es war der Autor, der überzeugt hat.
Das Buch ist kein Roman, kein Sachbuch (oder wie würde das Thema heißen?) und keine Biografie....
Ein Band mit Essays? Nein, die wären ja konsequent voneinander getrennt?
Egal, was es Ist, es ist absolut anders und lesenswert!
 

Querleserin

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as Buch ist kein Roman, kein Sachbuch (oder wie würde das Thema heißen?) und keine Biografie....
Ein Band mit Essays? Nein, die wären ja konsequent voneinander
Es ist ein Roman über eine Epoche um den Arzt Pozzi und den Grafen. Der Prinz spielt eher eine untergeordnete Rolle - bisher.
 

Bibliomarie

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Ich staune über das immense Wissen, das Barnes in dieses Buch einfließen lässt. Man könnte meinen, er hat fast jedes Buch, jeden Artikel und jede Biografie dieser Zeit gelesen.
Er schafft sogar "Zwiegespräche" indem er die passenden Zitate zweier Personen gegenüberstellt.
Da müsste doch die Literaturliste am Ende des Buchs ellenlang sein.
Aber um den Kern seiner Geschichte, den Mann im roten Rock, kreist er noch.

Was wissen wir über ihn:
- Er ist elegant - neigt ein wenig zum Dandytum und zum Luxus - durch seine überaus vorteilhafte Ehe ist er auch finanziell dazu in der Lage.
- Er ist diplomatisch,das Geschenk Montesquiou beantwortet er mit dem freien ersten Bett. Er weiß wohl um dessen Erwartungen an die Beschenkten. So auch die Reisetasche, ist es wirklich so großzügig, das Monogramm und das Krönchen lassen eher vermuten, dass er ein - vielleicht ungeliebtes - Stück weitergibt.
- Er ist mutig. Es gehört schon eine große Portion Mut und Selbstvertrauen dazu, im heimischen Wohnzimmer des Patienten eine Bauchoperation durchzuführen, wo er doch sonst eher auf Hygiene achtet.
- Er ist ein Mann der Wissenschaft, neuen Theorien gegenüber offen und nimmt sein Metier ernst.

Viele kleine Begebenheiten aus den vorangegangen Abschnitten tauchen wieder auf, werden in Bezug zu anderen Personen gesetzt.

Auch diesen Abschnitt finde ich schön zu lesen, Barnes zeigt eloquent sein großes Wissen und lässt uns Leser daran teilhaben. Aber den roten Faden vermisse ich allmählich.
 

Bibliomarie

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Den ambivalenten Umgang mit Homosexualität finde ich interessant: Lesben sind willkommener als (skandalfreie) Schwule. Homosexualität ist zwar nicht verboten, bringt aber Gefahren mit sich, in Scmutz und Elend zu landen. "Die Gesellschaft" rund um Pozzi scheint ihre Schwulen ja zu hofieren. Man verkleidet sich mit ihnen, lädt sie ein, genießt die Andersartigkeit und sogar Typen wie Lorrain.

Das fiel mir auch auf. Lesbische Liebe wurde eher als "prickelnd" empfunden, das ging ja bis in die Neuzeit so. Als ob weibliche Homosexualität nicht echt wäre und eher anregend für die Männerwelt.
Bei manchen Personen habe ich den Eindruck, als ob ein gewisses Maß an Homoerotik zum Dandytum dazugehört, um sich abzugrenzen, die Lust an der Eleganz der Kostüme auszuleben, sich als besonders verfeinert darzustellen. Ob sie Schwulsein auch auslebten? Das wird explizit nur bei Lorrain geschildert und der kommt im Urteil seiner Zeitgenossen auch nicht so gut weg.
 

Barbara62

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- Er ist mutig. Es gehört schon eine große Portion Mut und Selbstvertrauen dazu, im heimischen Wohnzimmer des Patienten eine Bauchoperation durchzuführen, wo er doch sonst eher auf Hygiene achtet.

Joseph Lister hat seine Schwester auf dem eigenen Esstisch operiert, an dem sie am Abend vorher noch zusammen gespeist hatten. Eklig, ich weiß, aber andererseits waren im Krankenhaus so viele Keime, dass es am Ende vielleicht sogar ungefährlicher war. Hausgeburten waren ja zeitweise auch sicherer als Krankenhausgeburten.
 
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Barbara62

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Pozzi behandelte mit Vorliebe die Menschen, vor allem Frauen, mit denen er auch gesellschaftlich Umgang pflegte. Dafür braucht es eine Menge innerlicher Distanz, sonst geht man als Arzt daran zugrunde. Dass er mit vielen Patientinnen auch noch ins Bett ging, ist ein absolutes No-Go. Aber er hat die Medizin in Frankreich durch seine Offenheit und Weitsichtigkeit vorangebracht. Damit hat er sich wesentlich größere Verdienste erworben, als seine beiden Reisegenossen.
 

Emswashed

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Das stand auch nirgendwo geschrieben!
Dadurch wurde es im Vorfeld für uns auch schwer zu bewerten, ob das Buch unseren Geschmack trifft...
Es war der Autor, der überzeugt hat.

Mit dem Titelbild und dem Rückentext ging ich allerdings auch von einer Biografie, oder zumindest einem Portrait aus. Nun, das ist es ja auch! Aber eingebettet in ein Bouquet des Fin de Siècle (um mal ganz dreist von meinem neu Erlernten Gebrauch zu machen).
Ich finds klasse!

Was wissen wir über ihn (Pozzi):

Vielleicht können wir Pozzi nur begreifen, wenn wir auch sein Umfeld ausleuchten.

Dafür braucht es eine Menge innerlicher Distanz, sonst geht man als Arzt daran zugrunde.

Oder einfach nur den Geist der damaligen Zeit, in der Frauen, bis auf wenige Ausnahmen, nur schmückendes Beiwerk, oder notwendiges Übel für den Fortgang der Geschichte waren.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Ich habe da noch eine Frage zum Begriff des "Somdomiten" (S.128)

Ist das jetzt ein Schreibfehler, oder eine Mischung aus somnambul und Sodomist quasi eine reine Kopfsache?
 

Bibliomarie

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10. September 2015
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Ich habe da noch eine Frage zum Begriff des "Somdomiten" (S.128)

Ist das jetzt ein Schreibfehler, oder eine Mischung aus somnambul und Sodomist quasi eine reine Kopfsache?

Das ist ein Zitat samt historischem Schreibfehler. Dem Vater von Wildes Liebhaber Bosie wurde in einem Club der Zutritt verweigert und er hinterließ seine Visitenkarte mit sinngemäß dieser Anrede: Für Oscar Wilde, dem posierenden Somdomiten. (Lt einer Buch von Merlin Holland "Oscar Wilde im Kreuzverhör"
 

Yolande

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13. Februar 2020
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Ich kann eigentlich nicht mehr viel hinzufügen. Die Bildchen in den Schokoladentafeln gefallen mir sehr, jetzt weiß ich auch, warum in dem vorhergehenden Abschnitt so viel über die Panini-Bildchen geredet wurde ;):D.
Im Moment erscheint mir vieles unzusammenhängend, hier ein Bericht über Montesquiou, dann wird über die erstaunliche Operation im Wohnzimmer erzählt. Viele Bildbeschreibungen, was mir ausnehmend gut gefällt. Nur konnte ich die Erotik in dem Porträt der Madame X nicht so ganz finden.
Das Zitat über das Wesen der Biografie habe ich mir auch dick angestrichen. Und ich habe einige Wörter gefunden, die mir nicht mal das WWW so richtig erklären konnte (interkrural=zwischen den Schenkeln des äußeren Leistenrings liegend! Hä??o_O)