3. Leseabschnitt: Seite 115 bis Ende (Seite 166)

Literaturhexle

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3. Leseabschnitt: Seite 115 bis Ende (Seite 166)

Erster Satz:
"Denn irgendwann würde Jacques zurückkommen."
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Wenn die Ambivalenz unseres Protagonisten (wurde eigentlich irgendwann mal sein Name erwähnt?) nicht schon bemitleidenswert wäre, würde ich jetzt, angesichts seiner verrückten Gedanken, lachen.
Aus Seite 119 will er Jacques, kraft seines Amtes als Marthes Liebhaber, auffordern, seiner Fürsorgepflicht für die Frau nachzukommen. Oh je.

Dann aber kann er der Verführung Sveas kaum widerstehen und rechtfertigt dies mit der Unfähigkeit zur Selbstbefriedigung, örks.

Zudem ist er beleidigt, wenn Marthe in ihrem Trennungsbrief nicht mit Selbstmord droht, das wäre für den jungen Herren doch wohl das Mindeste, was er von seiner Angebeteten erwarten darf.

Er lebt und handelt in seiner Vorstellungswelt, der gemeinsame Aufenthalt in Marthas Elternhaus, verdeutlicht dies. Auch wenn er das Gegenteil beteuert, er sich überhaupt keiner Verantwortung bewusst. Lieber lässt er Marthe in ihrem Zustand durch den Regen marschieren, als sich der Peinlichkeit der Buchung eines Hotelzimmers auszusetzen.

Ja, das Ende ist tragisch, aber für alle Beteiligten wohl die beste Lösung, denn Martha hat auch nicht verantwortungsvoller gehandelt.
Aber! "Ich rieb meine Nervenkraft [...] durch Wagemut auf [...], dass ich in meinem Alter das Abenteuer eines Mannes verkraftet hatte." (S. 146)

Nun, bei soviel Selbstverliebtheit bleibt natürlich alles andere auf der Strecke und fast könnte man auf den Gedanken kommen, dass diesem Jungsporn nur eine moralisch standhafte Frau in die Schranken hätte weisen können. Aber alle Last und endgültige Konsequenz liegt hier sowieso beim weiblichen Geschlecht, so dürfen sich Jungmänner ruhig weiterhin ausprobieren und austoben und ihren anschließenden Weltschmerz dem geneigten Leser unterbreiten.

Puh, ich weiß wirklich nicht, was ich davon halten soll.
 

pengulina

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22. November 2022
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so dürfen sich Jungmänner ruhig weiterhin ausprobieren und austoben und ihren anschließenden Weltschmerz dem geneigten Leser unterbreiten
Aber das ist doch gerade das, worum es geht. Ein junger Mann schreibt autobiografisch (?) von seiner ersten großen Liebe, ist überfordert von der Ambivalenz (liebt sie mich, liebt sie mich nicht? Wer ist denn nun der Vater?), ist überspannt und ungestüm in seinem Verhalten und in seinen Gedanken. Und dann die Allgemeinplätze, die er immer wieder einstreut. Es ist schon erkennbar, dass den Text ein junger Mann geschrieben hat, der in seiner Verliebtheit weder aus noch ein weiß.

Ich bin gespannt, was wir aus dem Anhang erfahren.
 

Literaturhexle

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bevor ich hier Weiteres dazu schreibe.
Mach mal. Vielleicht nimmst du mir Arbeit ab;). Nein, mein Eindruck ist eher kritischer Natur. Ich habe mich persönlich durch das Buch quälen müssen. Ich mag den Ton nicht, das Überhebliche, Schelmische, Dominierende, Neunmalkluge, Egoistische. Ich kann darüber weder lachen noch lächeln. Das hat mir die ganze Story verleidet. Das möchte ich dem Buch aber nicht komplett anlasten. Insofern bitte ich euch um Vorlage.
Dazu das beständige Hin und Her. Man wird ganz wuselig im Kopf!
Ich bin noch ganz benommen...
 
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pengulina

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Zunächst mal möchte ich die ausgezeichnete Übersetzung loben. Herr Schmidt-Henkel hat den Spagat geschafft zwischen Texttreue und behutsamer Modernisierung. Ich habe ja Original und Übersetzung parallel gelesen und war manchmal froh um den deutschen Text (schade, dass die Gedichte im Anhang nicht zweisprachig gedruckt wurden ...).

Es ist die Erzählung eines jungen Mannes, der schwer verliebt ist, sich aber von niemandem etwas sagen lässt, erst recht nicht von seiner Marthe. Diese wird im übrigen auch als berechnend dargestellt, sie sagt nicht immer die Wahrheit.

Stark auch die Szene mit der nicht stattgefundenen Nacht im Hotel, wieder mit so einem Allgemeinplatz: "Kinder suchen Ausreden. Sie müssen sich vor ihren Eltern rechtfertigen, und deshalb lügen sie zwangsläufig." (S. 149)

Aber es ereilt Marthe ja leider auch das Schicksal vieler Frauen in der damaligen Zeit, sie stirbt kurz nach der Geburt ihres Sohnes. Und wieder kommt das Berechnende durch: Sie hat ihm den Namen ihres Liebhabers gegeben, stirbt mit seinem Namen auf den Lippen - und Jacques glaubt, sie meint das Kind.
 

Eulenhaus

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pengulina, ich stimme dir zu.
Marthes Anschauungen waren von der bürgerlichen Moral bestimmt. Sie denkt ans Heiraten, er an das Abenteuer. Sie weiß um ihre Pflichten als Ehefrau, aber dieser Liebesrausch trübt ihren Blick.
Marthes Mutter bewundert ihre Tochter wegen der Affäre, sie hätte sich so etwas nie getraut.
Anfang des 20.Jahrhunderts war es in der Regel das Ziel in der Erziehung von Mädchen, sie auf die Ehe vorzubereiten. Aus der Obhut des Vaters wurden junge Frauen in die Obhut des Ehemannes gegeben, gegenüber dem sie sich unterzuordnen hatten. Erst 1918 wurde das Frauenwahlrecht beschlossen, 1958 durften Ehefrauen ein eigenes Konto eröffnen. Ich denke, in Frankreich war es ähnlich.
Aus eigenem Erleben weiß ich, dass in den 60er Jahren in unserer ländlichen Gegend Mädchen in der Bekleidungsfabrik arbeiteten, weil sie ja doch heiraten würden.
Mit der Emanzipation leben wir heute in einer besseren Zeit, auch wenn es noch mehr zu tun gibt.
 

Literaturhexle

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Diese wird im übrigen auch als berechnend dargestellt, sie sagt nicht immer die Wahrheit.
Die Vokabel "berechnend" empfinde ich in dem Kontext etwas unpassend (ist vlt. aber Haarspalterei). Ich würde es vorausschauend und realistisch nennen. Ein 15 jähriger Schüler kann keinerlei Perspektive bieten. Verlass ist an dieser Stelle nur auf den Leutnant - wenn er aus dem Krieg zurückkommt. Insofern muss jener im Glauben gelassen werden, dass ein Kind von ihm sein KÖNNTE;)
Einen Skandal gilt es zu vermeiden, Marthe hätte auf dem gesellschaftlichen Parkett alles verspielt. Mit ehebrechenden Frauen ging man hart ins Gericht. Höchst unmoralisch verhält sich das Liebespaar ja permanent. Viel tiefer kann man kaum sinken.
 

Literaturhexle

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Ein Lehrstück in bürgerlicher Moral, Kleinstadtmief und den Sitten und Gepflogenheiten in Frankreich vor hundert Jahren.
So miefig finde ich das gar nicht. Dieses Paar betreibt sein Verhältnis ja schon sehr, sehr offensichtlich. Dafür halten sich die Wellen doch erstaunlich flach. Wenn man da an die arme Effi ein paar Jahrzehnte zuvor denkt...
 

pengulina

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Das Verhältnis selbst ist offen, aber alles, was drumherum erzählt wird, spiegelt die Gesellschaft wider.

Und Radiguet selbst (bzw. Schmidt-Henkel) hatte Marthe "berechnend" genannt, glaube ich, finde es jetzt natürlich nicht wieder.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Ich glaube, man muss bei der Beurteilung zwei Dinge berücksichtigen - das Alter des Erzählers und die Zeit, in der er den Roman geschrieben hat.
Das ist auch für mich das Zentrale. Raymond Radiguet war 17, als er diesen Roman schrieb. Mit 15 ging er von der Schule ab. Und das Ganze schrieb er 1920! Als es noch keine Popliteratur gab, keine Beat-Generation. Und dieser Jugendliche wirft die moralischen und gesellschaftlichen Normen und Werte mit diesem Buch einfach über den Haufen.

Ob man das gut findet, ob man seinen Stil mag, ob man die Figuren mag - egal. Wird er vielleicht auch gedacht haben, mal sehen, was der Anhang bringt. Aber es ist Rebellion, Aufbegehren, Aufregung. So etwas liefert die Kunst und Kultur heutzutage viel häufiger, damals war es revolutionär. Und ich finde, das macht dieses Buch und seine Neuübersetzung zu einer Besonderheit.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Ich kann neben meinem Statement gar nicht viel mehr sagen. Ich stimme euch in vielen Punkten zu. Der Roman hat - auch sprachliche - Schwächen, die Figuren sind blass oder unsympathisch, die Handlung ermüdend. Auch ich habe vieles nicht gern gelesen in diesem Abschnitt. Dennoch ist er in meinen Augen eine Besonderheit und eine Veröffentlichung, die mich allein wegen ihrer Existenz mitreißt.

Ein Jugendlicher, der kurz nach dem 1. Weltkrieg diesen als eine Art Hintergrundrauschen zu einer unmoralischen Liebesgeschichte darstellt. Diese Verve muss man erstmal haben.

Den Tod Marthes habe ich erwartet. Ich glaube, er wurde damals auch schon in der Arte-Doku thematisiert. Und letztlich endeten ja irgendwie alle besonders dramatischen Liebesgeschichten in Buch und Film mit dem Tod: Ob Werther, Love Story oder My Girl.
 

Eulenhaus

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Im Haus der Eltern Marthes erleben beide noch einmal eine glückliche Zeit. Mit dem September endet ihre Affäre. Im Frühjahr 2017 lernten sie sich kennen, im Herbst 2018 endet die Beziehung.
Der Vater macht sich jetzt ernsthafte Sorgen. Einmal reagiert er streng, das nächste Mal nachsichtig. Dieses Verhalten kann man als Schwäche oder Stärke deuten. „So mattete ich mich ab, bald feige, bald verwegen, ganz erschöpft von den tausend Widersprüchen meines Alters, dem das Abenteuer eines Mannes zugemutet wurde.“ Eine altkluge, freche Aussage der Hauptfigur.
 

luisa_loves-literature

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Im Buch selbst wird der Name aber nicht genannt.
Das soll mir bitte mal einer erklären, warum der Erzähler per Klappentext dann einen Namen bekommt. So etwas kann ich ja gar nicht vertragen, denn aus literaturwissenschaftlicher Sicht hat die Namenlosigkeit immer eine Funktion :think
Aber es ereilt Marthe ja leider auch das Schicksal vieler Frauen in der damaligen Zeit, sie stirbt kurz nach der Geburt ihres Sohnes.
Mit ehebrechenden Frauen ging man hart ins Gericht.
So ist es - außerdem absolut typisch in der Literatur. Ehebrechende Frauen, Frauen, die sich nicht an die Konventionen halten, eine eigene Meinung haben, unter Stand heiraten, müssen am Ende sterben. Das war auch in den 20ern noch so. Solche Frauen bedrohen die Gesellschaft, das kann man nicht durchgehen lassen - also ist der Tod die angemessene Strafe, auf welche Art auch immer.
Außerdem auch immer ein einfacher Weg aus einer vertrackten Geschichte. Wenn einem kein formvollendetes Ende einfällt, Tod geht immer.
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Hatte ich im zweiten Abschnitt ein etwas versöhnlicheres Auge auf unseren Erzähler geworfen, bin ich nun doch wieder sehr ernüchtert. Auch ich habe diesen letzten Teil der Liaison als quälend langsam und leider auch etwas langweilig empfunden. Die Ichbezogenheit des jungen Mann wurde mir zunehmend unerträglich, leider nehme ich ihm auch selbst am Ende nicht ab, dass es Liebe für Marthe gewesen sein soll, was er empfand. Das tritt für mich besonders auch dann zutage, wenn er darüber reflektiert, das man mit Selbstmord drohen sollte, weil man das eben in so einer Situation so macht.

Für mich ist er tatsächlich ein selbstgefälliger Jüngling, der sich arrogant seinem eigenen Mangel an Erfahrung entgegenstellt. Hinzu kommt, dass Marthe als Figur absolut schemenhaft bleibt. Dies mag der Tatsache geschuldet sein, dass der Erzähler sich eben einfach nur für sich selbst interessiert, aber es nimmt dem Text die Kraft, die Reichweite, das Identifikationspotential.

Hinzu kommt, dass ich den Text einfach nicht gut genug erzählt finde. Wo ist das so hervorragend nutzbare Spannungsfeld zwischen Erlebnis und Erzählung? Wieso wird der Erzähler nicht mit diabolischeren Fähigkeiten ausgestattet? Denn letztlich ist sein Verhalten doch eher ein Resultat von Unwissenheit, fehlender Erfahrung, typischem Peinlichkeits-Teenieverhalten und dem Unvermögen, Situationen angemessen zu bewerten.
Raymond Radiguet war 17, als er diesen Roman schrieb. Mit 15 ging er von der Schule ab. Und das Ganze schrieb er 1920! Als es noch keine Popliteratur gab, keine Beat-Generation. Und dieser Jugendliche wirft die moralischen und gesellschaftlichen Normen und Werte mit diesem Buch einfach über den Haufen.
Ja, das stimmt. Aber für mich hat der Roman überspitzt gesagt doch etwas von "Fan-Fiction" à la "ich schreibe meine lustvollen Gedanken nieder und ergötze mich selbst an ihnen". In der Literatur ging es ja vorher auch schon immer wieder darum gegen Normen und Konventionen aufzubegehren - sodass ich Radiguet jetzt auch nicht als den großen Revolutionär sehe.