3. Leseabschnitt: S. 145 bis S. 220

Amena25

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23. Oktober 2016
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Tatjanas Verhaftung, die Trennung von ihrer Tochter und ihr Leben im Lager wird zwar eher nüchtern dargestellt, doch gerade dadurch empfinde ich es als besonders niederdrückend. Auch die eingefügten Dokumente, wie z.B. der Aktenvermerk über den Umgang mit Zahnprothesen aus Gold wirken in ihrer nüchternen Sachlichkeit umso unmenschlicher und abstoßender.
Sehr erstaunlich finde ich, wie positiv und unbeugsam Tatjana noch wirkt, mit ihren 90 Jahren sogar noch zu einer Demonstration geht.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Beiläufig erfahren wir, dass Tanja infolge der Listenfälschung nichts passiert. Sie arbeitet weiterhin im Amt. Aus den Dokumenten geht die ignorante Behandlung der russischen Kriegsgefangenen im Ausland hervor. Ein Austausch war nicht erwünscht. Das erklärt vielleicht auch die äußerst späte Rückkehr deutscher Gefangener aus Russland in den 1950er Jahren... Alles hängt irgendwie zusammen.

Tatjana kann sich nur kurz über das Kriegsende freuen. Im Juli 1945 wird sie von den Tschekisten (russische radikale Staatssicherheit) festgenommen. Ihre Tochter wird von ihr getrennt. Grund für die Festnahme: ihr Mann soll zum Feind übergelaufen sein. Aufgrund der Sippenhaft ("Eure Ehe ist die Bestätigung dieses Komplotts") muss sie für ihren Mann büßen.
Tatjana ist eine starke Frau, sie provoziert den Ermittler, der sie wiederholt prügelt und zu vergewaltigen versucht. Letzteres gelingt ihm nicht, daraufhin "muss es ein Gehilfe tun".
Sie wird zu 15 Jahren im Lager verurteilt zwecks "Umerziehung".
Im Lager hat sie Glück: aufgrund ihrer Fähigkeiten darf sie im Büro des Kommandanten arbeiten. Die Behandlung der Inhaftierten ist erschreckend: sie müssen nicht nur hungern und frieren, sondern werden auch erniedrigt.

Tatjana hat ihrer Tochter gegenüber große Schuldgefühle. Sie wird "gläubig", um dieses Leben zu ertragen. Gott ist dabei derjenige, der für dieses Unheil verantwortlich ist und an dem sie sich irgendwann rächen will.
[zitat]Alzheimer ist die Zerstörung des Weges zu ihm, und mein Alzheimer ist die stärkste Bestätigung, dass er mich fürchtet." (S. 197)[/zitat]

Wieder in der Gegenwart kommt eine junge Nachbarin zu Sasha. Sie "kennt seine Geschichte"(?) und bietet sich als Babysitterin an. Sehr seltsam.

Anschließend geht es zur Demo. Die alte Frau hat Chuzpe, während Sasha eher einen naiven Eindruck macht.

Tatjana möchte noch immer dafür kämpfen, dass die Wahrheit ans Tageslicht kommt. Allerdings will sie niemand hören. In diesem Zusammenhang fand ich die Ausführungen zu Stalin und seiner Führungsrolle interessant auf S. 216: "Ein Führer muss wie Stalin sein...".

Nach Stalins Tod gibt es 1953 eine Amnestie. Manche Frauen sollen entlassen werden. Qua definitione auch Tatjana: sie schöpft Hoffnung, möchte ihr Kind wiedersehen, das mittlerweile 15 Jahre alt ist...
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Dieser LA beschäftigt sich hauptsächlich mit Tatjanas Zeit im Lager. Sie hat noch Glück mit ihrem Schreibjob, aber wie schrecklich es ist, wird uns Lesern schon sehr deutlich. Aber auch ihre emotionale Kraft. Sie leidet weniger an ihrer eigenen erbärmlichen, unmenschlichen Lager-Situation, sondern ist noch viel mehr besorgt um Mann und Tochter und deren Situation.
sehr stark fand ich den Abschnitt über den „neuen Menschen“, den die Sowjetunion erschaffen will ( eigentlich muss, denn sonst funktioniert das Gesellschaftsmodell nicht) und was daraus wird/werden könnte (S.188).
 

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Dieser Leseabschnitt hat mich erschüttert. Ich muss gestehen, dass ich bis dato nicht wusste, dass in der Sowjetunion damals auch die Angehörigen von Kriegsgefangenen so büßen mussten. Das ist zutiefst unmenschlich. Und was Tatjana alles ertragen muss: Vergewaltigungen, Misshandlungen, Arbeitsdienst im Lager (wobei sie es noch vergleichsweise gut getroffen hat), widrigste Bedingungen in den Baracken - und dann die ständige Ungewissheit, was mit ihrem Mann und ihrer Tochter wirklich geschehen ist. Die Amnestie gibt neuen Anlass zur Hoffnung. Allerdings habe ich die Vermutung, dass das Martyrium damit für Tatjana noch nicht ausgestanden ist.

Trotz der nüchternen Sprache ist die Geschichte sehr eindringlich. Mich stört jedoch ein wenig, dass so viele Dokumente den Leserfluss immer wieder stocken lassen. Man merkt schon, dass der Autor intensiv und gründlich recherchiert hat. Mir hätte es aber etwas besser gefallen, wenn man die Zahl der Dokumente reduziert und einiges zusammengefasst hätte. Manches wiederholt sich ja sowieso.
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

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Obwohl mich die vorigen Leseabschnitte schon getroffen haben. Dieser Leseabschnitt ist noch deutlich heftiger. Das muss man sich mal vorstellen. Tatjana wird verhaftet, mit ihrer Tochter Assja zusammen, dann wird sie gewaltsam von Assja getrennt, sie kommt in den Knast, gerät an einen Sadisten, erfährt dort, dass ihr Mann noch lebt, sie nicht wegen ihren gefälschten Listen inhaftiert wurde, sondern weil ihr Mann zurückgekommen ist, sie zeigt Kraft und wird schließlich durch ständiges Vergewaltigen, Schläge und Verhöre gebrochen, möchte sich umbringen. Dann bekommt sie ihr Urteil, 15 Jahe Gulag, wieder ein Ort der ständigen Qual. Dort wird sie gläubig, um Gott wegen der Verbrechen an der Menschheit anzuklagen, da sie ja an die eigentlichen Schuldigen nicht kommt. Das hält sie am Leben und geistig gesund.

Später in der Freiheit stellt sie fest, dass es niemanden interessiert, was den Häftlingen widerfahren ist. Russland/Belorussland/Ukraine, alle scheinen eigenartige Welten zu sein. Die Gräueltaten an der eigenen Bevölkerung in der Vergangenheit werden nicht wahr genommen, Gegner der herrschenden Elite haben es nicht leicht bzw. müssen sogar in Todesangst leben, genauso wie auch jeder, der gegen bestehende Normen und Lebensmodelle verstößt, fremde Völker werden nicht gern gesehen. Alle drei Staaten wirken sehr kalt und unfreundlich. Und dieses Denken findet sich ebenso in den Staaten des ehemaligen Ostblocks. Wo doch gerade diese Staaten für sich so sehr in Anspruch nehmen menschenfreundlich zu sein. Komisch!!!

Und jetzt als alte Frau, an ihrem Lebensende bekommt sie Alzheimer, weil Gott sich vor ihrer Anklage fürchtet.

Tolle Gedankengänge von Filipenko!!!
 
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Wandablue

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Tatjanas Geschichte geht einem sehr nahe. Wie sehr die Menschen der Stalinzeit dem Regime ausgeliefert waren. Man musste im Prinzip gar nichts verbrochen haben - und konnte trotzdem ins Straflager kommen.

Die Dokumente sind langweilig, man braucht sie aber, um Authentizität herzustellen. Anders sieht es mit den Gedichten aus. Ich mag sie nicht. Eins hätte genügt.

Vllt ist der Brief, der gekommen ist, von ihrer Tochter. Der Italiener spielt keine Rolle mehr, die Episode sollte nur darstellen, über welche Nichtigkeiten wir Menschen uns grämen - weil wir echtes Leid nicht kennen (was ein Glück!).

Tatjanas Unglück ist anderen Menschen geschuldet, Saschas jedoch ist reines Schicksal. Keiner ist schuld an der Krankheit seiner Frau.

Wie gehen diese beiden Leben zusammen? Wird der Autor noch etwas zusammenweben?
 

Renie

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Gott ist dabei derjenige, der für dieses Unheil verantwortlich ist und an dem sie sich irgendwann rächen will.
Alzheimer ist die Zerstörung des Weges zu ihm, und mein Alzheimer ist die stärkste Bestätigung, dass er mich fürchtet." (S. 197)

Die Textpassage um Gott ist für mich eine der stärksten in diesem Buch. Wenn man bedenkt, dass Gott in der Religion immer als Hoffnungsträger dargestellt wird, ist der Gedankengang, die Existenz Gottes als Begründung für das Böse in den Vordergrund zu stellen ein ganz starker Erklärungsansatz. Da es auf das "Warum" keine Antwort gibt, und man an einem "Das ist halt so" kaputtgehen würde - insbesondere als Opfer - , schafft man sich eine göttliche Instanz, die man zur Verantwortung zieht.
 

Literaturhexle

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Da es auf das "Warum" keine Antwort gibt, und man an einem "Das ist halt so" kaputtgehen würde - insbesondere als Opfer - , schafft man sich eine göttliche Instanz, die man zur Verantwortung zieht.
Ja. Es ist zweifellos eine der starken Stellen, die man auch ethisch-religiös diskutieren könnte....
Ich finde es sowohl problematisch, Gott für alles Gute wie auch für alles Schlechte zur Verantwortung zu ziehen. Vieles ist am Ende doch menschengemacht.
In diesem Fall schiebe ich die Extremsituation als Begründung vor. Wie du sagst: sie brauchte wahrscheinlich jemanden, auf den sie ihren Hass projezieren könnte.
 

Wandablue

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Die Textpassage um Gott ist für mich eine der stärksten in diesem Buch. Wenn man bedenkt, dass Gott in der Religion immer als Hoffnungsträger dargestellt wird, ist der Gedankengang, die Existenz Gottes als Begründung für das Böse in den Vordergrund zu stellen ein ganz starker Erklärungsansatz. Da es auf das "Warum" keine Antwort gibt, und man an einem "Das ist halt so" kaputtgehen würde - insbesondere als Opfer - , schafft man sich eine göttliche Instanz, die man zur Verantwortung zieht.

Das ist interessant, Renie ;-). Für mich ist das die schwächste und krudeste Passage im Buch, wo wahrscheinlich nur ! der Atheismus des Autoren durchschlägt. Der vom Christentum wahrschl keine Ahnung hat.
 
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kingofmusic

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Die Dokumente sind langweilig, man braucht sie aber, um Authentizität herzustellen. Anders sieht es mit den Gedichten aus. Ich mag sie nicht. Eins hätte genügt.
Was ist an den Dokumenten langweilig? :eek::D Als Archivar und Lyrikliebhaber kann ich weder von Originaldokumenten noch von Gedichten genug haben :D. Das Gedicht über den Russengott finde ich ziemlich zeitlos...Oder kommt das erst im vierten LA? :confused: Bin nämlich jetzt fasst durch mit dem Buch...

Die Geschichte von Tatjana und ihrer Zeit im Lager und danach ist unfassbar.
 

parden

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Die Textpassage um Gott ist für mich eine der stärksten in diesem Buch. Wenn man bedenkt, dass Gott in der Religion immer als Hoffnungsträger dargestellt wird, ist der Gedankengang, die Existenz Gottes als Begründung für das Böse in den Vordergrund zu stellen ein ganz starker Erklärungsansatz. Da es auf das "Warum" keine Antwort gibt, und man an einem "Das ist halt so" kaputtgehen würde - insbesondere als Opfer - , schafft man sich eine göttliche Instanz, die man zur Verantwortung zieht.
Mir gefiel ja der Vergleich mit den Mistkäfern: alle Generationen wiederholen immer die selben Ablaufe, das genetische Gedächtnis - beim Menschen ist dies eben die Tradition der Folter...
 

parden

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Auch hier bleibt die Erzählweise distanziert, dennoch wird das Gräuel der Stalin-Ära deutlich, die Willkür, die Tatsache, wie wenig ein Menschenleben wert ist... Alexander bleibt eine eher blasse Figur für mich gegenüber Tatjana, aber vielleicht kommt er bei der redewütigen "Alten" auch einfach nicht zu Wort... ;)
 

KrimiElse

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In vielerlei Hinsicht findet sich für mich wenig Unterschied in den Beschreibung des Lagerlebens bei den Nazis und im Gulag. Unmenschlichkeit regiert, kleine Ratten, die das System brauchen um ihren Kleingeist und ihre Verunsicherung überspielen zu können, stützen und nähren es, sowohl bei den Verhören als auch bei der Lagerkommandatur. Das ist für mich einfach nur zum Kotzen, auch beim Lesen...
Ich bin beeindruckt, wie nahe man der Geschichte kommt, trotz der Distanziertheit, mit der Tatjana erzählt. Sie ist wirkt nach all den Jahren auf mich abgebrüht ohne verhärmt zu sein, ist kühl und überlegen, ohne dass ihr Dinge egal sind. Was für eine Protagonistin!
 
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KrimiElse

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26. Januar 2019
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Das erklärt vielleicht auch die äußerst späte Rückkehr deutscher Gefangener aus Russland in den 1950er Jahren... Alles hängt irgendwie zusammen.
Es ist unglaublich, wie viele Dinge dieses schmale Buch anspricht und berührt, oft mit wenigen Sätzen oder in diesem Fall mit kurzen Briefen / Telegrammen, die eingeschoben sind, ohne diese weiter zu erläutern. Und man spürt dennoch die unmenschliche Maschinerie, die dahinter steckt, ganz deutlich.