3. Leseabschnitt: S. 104 bis S. 154

kingofmusic

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3. Leseabschnitt: Seite 104 bis Seite 154; letzter Satz: "Ich denke, sie hat Recht, ich bin ein Würstchen."
 

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Soeben, inzwischen auf Seite 129 angelangt, stelle ich fest, dass der junge Victor für mich von allen Figuren am ehesten nachvollziehbar und "greifbar" ist. Auf Seite 118, seine Nachricht, großartig. "... brauche deine Hilfe ganz grundsätzlich nicht. Ich brauche nur eine Familie." Alle anderen Mitglieder der Familie bleiben trotz der hitzigen Debatten für mich als Lesende auf Distanz, was mich nicht stört, da ich grundsätzlich mehr an der Geschichte interessiert bin, die mir ein Autor, eine Autorin erzählt, als an den Figuren.
 
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Ich stelle fest, dass mir die Passagen in Auschwitz und Birkenau den Roman ein wenig retten. Die eingebettete Kritik am Tourismus an solchen Gedenkstätten finde ich gut und richtig. Gerade wenn endlich mal ein etwas zusammenhängender Text entsteht, lese ich sogar richtig "gerne". (Das setze ich mal in "", weil natürlich das Thema der KZs überhaupts nichts ist, was man "gerne" liest. Aber die Lektüre ist hier einfach ergiebiger für mich.)

Bevor ich auf ein paar inhaltiche Aussagen eingehe noch eine Anmerkung zur Form: Meines Erachtens hat die Autorin ein Problem mit der Erzählstimme. Es soll Sean sein, der erzählt, häufig sehr subjektiv und erinnernd. Und dann ist hier der Text durch fast essayistische Passagen, die die Meinung der Autorin widergeben (laut gelesenen und gesehenen Interwievs mit der Autorin), unterbrochen. Da klingt es nicht mehr so recht nach Sean, wenn die Erinnerungskultur hinterfragt wird. z.B. S. 128
"Menschen wie ihnen [Überlebende der Deportation] werden wir nie wieder begegnen. Ohne sie wird es diesen Ort nicht mehr geben. Wozu die Stützstreben, der Rasenmäher, die Erhaltung der Backsteine, Ziegel und Balken, wenn sie nicht mehr am Leben sind? Sie nehmen ein ganzes Jahrhundert und einen Kontinent mit sich."
oder auf S. 106
"Vergesst nicht. Aber warum? Um es nicht wieder zu tun? Aber du wirst es wieder tun. Ein Wissen, das nicht zutiefst mit einem selbst verbunden ist, bleibt folgenlos. Von der Erinnerung ist nichts zu erwarten. Dieser Fetischismus der Erinnerung ist bloßer Schein. usw. usf."
S. 147
"Und ich denke, ist all dieses Vergesst nicht!, sind all diese wilden Mahnungen zum Gedenken nicht zugleich auch Ausflüchte, um die Ereignisse zu entschärfen und sie guten Gewissens in die Geschichte zu entsorgen?"

Und nun inhaltlich. Die Meinung darf die Autorin natürlich haben. Mit ist es jedoch ein Anliegen persönlich dagegen zu argumentieren. Dass Gedenkstättentourismus in diesem Ferienpark-Flair zu kiritisieren ist, keine Frage. Aber dass die Gedankstätten weiter existieren und erhalten werden, auch wenn - und gerade weil - es keine Zeitzeugen mehr gibt, finde ich wichtig. Die Erhaltung dieser Lager auf mitteleuropäischem Grund ist wichtig, um auch einer Selbstüberhöhung entgegen zu wirken. Um nicht so einfach sagen zu können: Soetwas würde es hier niemals geben... wenn an Syrische Folterzellen, an chinesische Gefangenen-/Vernichtungslager für Uiguren verwiesen wird. Doch, das gab es und die Tatsache, mit eigenen Augen sehen zu können, wie effizient diese Tötungsmaschinerie aufgebaut war, ist ein (negatives) Kulturgut.

Sehr gut fand ich innerhalb der KZ-Passagen, die absolute Zuspitzung als auf S. 112 Josephine immer lauter und penetranter ihrem Vater zuschreit: "Funfhundertrausend Deportierte sind hier angekommen!... die Judenrampe!...die Judenrampe!" Und ja, da finde ich das poinierte Schreiben von Reza schmerzhaft gut. Es tut so weh, dieser Konversation beizuwohnen. Keine Frage. Deshalb finde ich auch diese Passagen bisher am stärksten.

Tja, und dann kommen wieder diese nichtssagenden Passagen und Einwürfe zu diversen Familien- und Bekanntenkreismitgliedern. Und ich möchte am liebsten das Buch weglegen. Der Leseabschnitt endet mit diesem schrecklichen Dialog zwischen Sean und Marion, der mir ehrlich gesagt erst einmal entgangen ist. Da der Absatz genau zwischen S. 150 und 151 liegt, dann wieder einmal alles mit merkwürdigen Gedankengängen anfängt, rutschte ich förmlich in die Konversation und wusste nicht, was jetzt eigentlich vorsichgeht. Dann ist er wohl doch ein Würstchen. Na denn...
 

GAIA

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stelle ich fest, dass der junge Victor für mich von allen Figuren am ehesten nachvollziehbar und "greifbar" ist. Auf Seite 118, seine Nachricht, großartig.
Die hat mir tatsächlich auch gefallen. Und ich dachte mir so: Der Junge scheint der einzige in der Familie zu sein, der anständig und klar kommunizieren kann. :/
 

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In diesem Abschnitt kommt es in Krakau zum wohl längst fälligen Streit zwischen den Geschwistern, endlich werden die Konflikte ausgesprochen. Nana sagt ihren älteren Brüdern die Meinung, über all die Jahren sind die herablassend gegenüber ihrem spanischen Ehemann Ramos, vor allem Serge, während Jean immer zu vermitteln sucht. Diese Szenen haben mir die Figuren näher gebracht, vor allem Serge, seine Denkweise "Kategorischer Imperative. Alternativlos. Das ist mein Lebensideal." Das kann ich nachvollziehen, mag egoistisch sein, aber so vermeidet er hemmende Soll-Fragen in seinem Leben, auch wenn er zur Zeit beruflich und finanziell in einer Notlage ist, er hat ja seine Tochter Joséphine mehrmals unterstützt. Jean dagegen ist beruflich erfolgreich, aber privat schafft er es nicht, den letzten Schritt in eine längere Beziehung zu machen. Gerade hat er sich vorgenommen, mit Marion eine Familie zu gründen, jetzt wäre die Gelegenheit für die entsprechenden Worte und er überlegt es sich wieder. Für ihn ist Familie wichtig, auch wenn er keine eigene Familie will, deshalb hat er immer wieder versucht, den Kreis der Geschwister aufrecht zu erhalten.
 
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Tja, und dann kommen wieder diese nichtssagenden Passagen und Einwürfe zu diversen Familien- und Bekanntenkreismitgliedern.
Auf der Buchrückseite steht unter Anderem die Frage "Was heuißt jüdisch sein", ich sehe in dieser modernen Familien-, Generationen-, Beziehungsgeschichte, abgesehen von diesem Auschwitz-Kapitel keinen besonderen Bezug zu Religion und Herkunft. Für mich könnten die Familienmitglieder irgend eine Religion haben und auch seit Generationen Franzosen sein, oder auch nicht. Die Frage "Wie umgehen wir mit Alter, Krankheit, Tod?" ist für mich wesentlich präsenter, auch die Antworten auf diese Frage, Möglichkeiten, wie wir damit umgehen könnten und es tun, dies zeigt sich in diesem immer wieder zwischen die aktuellen Dialoge einfließenden Episoden mit den sehr alten, kranken und sterbenden Familienmitgliedern, teilweise Erinnerungen, teilweise aktuelle Ereignisse. Die Mutter, Maurice, Zita ...
 

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Meines Erachtens hat die Autorin ein Problem mit der Erzählstimme.
Die Erzählperspektive ist auch meiner Ansicht nach nicht durchgehend stimmig. Wie hier schon mal jemand angemerkt hat, ( Pause), hab nachgelesen, war nicht jemand sondern Du, erzählt Jean die Erlebnisse von Serges Fastenkur eher so, als sei er dabei gewesen.
Ich bin gespannt, ob wir am Ende wissen, warum Yasmina Reza diese Perspektive gewählt hat.
Tja, und dann kommen wieder diese nichtssagenden Passagen und Einwürfe zu diversen Familien- und Bekanntenkreismitgliedern.
Aber so unterhalten sich Familienmitglieder. Da geht es um Wesentliches und Banales, wild durcheinander. Und nur weil man sich an einem so schrecklichen und geschichtsträchtigen Ort befindet, ändert das nur kurzzeitig was am Umgang miteinander. Man besichtigt das Grauen und stellt fest, dass man friert oder Hunger hat. Und man gibt Weisheiten von sich und die Gedanken schweifen ab zu irgendetwas anderem.
Die Meinung darf die Autorin natürlich haben.
Für mich spricht da eine große Resignation heraus. Man hofft und will dass diese Mahnmale ein „ Nie wieder“ auslösen, doch ist die Welt seit Auschwitz eine bessere geworden?

Bitte mich nicht falsch verstehen. Ich bin sehr wohl für diese Gedenkstätten und für eine Erinnerungskultur. Und ich bin keineswegs eine von denen, die sagen, „ es reicht mal damit“, im Gegenteil. Ich habe Geschichte studiert und der Holocaust war eines meiner Schwerpunktthemen. Ich glaube nur nicht mehr, dass die Menschheit aus der Geschichte lernt.
Für mich könnten die Familienmitglieder irgend eine Religion haben und auch seit Generationen Franzosen sein, oder auch nicht.
Nein, es ist gerade für diese Auschwitz- Passage wichtig, dass sie Juden sind. Und zwar assimilierte Juden, Menschen, die sich als Franzosen fühlen und mit der Religion und der Vergangenheit nichts zu tun haben ( wollen). Ihnen wird bewusst, dass sie ihre Eltern kaum nach dem Früher gefragt haben. Es war anscheinend ein Tabu- Thema in der Familie.
Es macht einen Unterschied, ob man die ausgestellten Photos einfach interessiert anschaut oder danach sucht, ob sich ein bekanntes Gesicht findet oder sich Familienähnlichkeiten feststellen lassen.
Ansonsten haben jüdische Familien natürlich die gleichen Probleme mit Alter, Krankheit, Tod, beruflichem Erfolg oder Misserfolg.

Außerdem spielt es eine Rolle, dass Yasmina Reza selbst Jüdin ist. Nur Juden verzeiht man, wenn sie sich im Grunde für eine Abschaffung dieser Erinnerungskultur aussprechen.
Die hat mir tatsächlich auch gefallen. Und ich dachte mir so: Der Junge scheint der einzige in der Familie zu sein, der anständig und klar kommunizieren kann. :/
Wobei man sich in einer Mail anders ausdrückt als im Gespräch. Aber ich weiß, was Du meinst. Er kann sagen, was ihn an der Familie, bzw. an seinem Onkel stört und was er tatsächlich bräuchte.

Ansonsten kann ich mich euch nur anschließen, das war der bisher intensivste Abschnitt, zum einen, weil hier Wesentliches zur Sprache kommt. Zum anderen gewinnen die einzelnen Familienmitglieder Kontur.
 

GAIA

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Aber so unterhalten sich Familienmitglieder. Da geht es um Wesentliches und Banales, wild durcheinander. Und nur weil man sich an einem so schrecklichen und geschichtsträchtigen Ort befindet, ändert das nur kurzzeitig was am Umgang miteinander.
Ja da hast du recht. Ich meinte da konkret diesen Kipppunkt im Buch, wenn die Familie aus Auschwitz abreist und man (ich) hatte gerade Tiefe bei den Überlegungen von Jean bemerkt und auch bei der Autorin eine Konstanz im Erzählen und plötzlich "peng" sind da wieder diese (für mich maximal nervigen) Dialoge. Das war mein subjektives Empfinden/mein Wunsch, dass ich die dort einfach nicht (mehr) haben wollte. Aber ja, wenn sich die Leute vorher so unterhalten haben, dann tun sie es auch danach weiter.
 

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Mit ist es jedoch ein Anliegen persönlich dagegen zu argumentieren. Dass Gedenkstättentourismus in diesem Ferienpark-Flair zu kiritisieren ist, keine Frage. Aber dass die Gedankstätten weiter existieren und erhalten werden, auch wenn - und gerade weil - es keine Zeitzeugen mehr gibt, finde ich wichtig. Die Erhaltung dieser Lager auf mitteleuropäischem Grund ist wichtig, um auch einer Selbstüberhöhung entgegen zu wirken. Um nicht so einfach sagen zu können: Soetwas würde es hier niemals geben... wenn an Syrische Folterzellen, an chinesische Gefangenen-/Vernichtungslager für Uiguren verwiesen wird. Doch, das gab es und die Tatsache, mit eigenen Augen sehen zu können, wie effizient diese Tötungsmaschinerie aufgebaut war, ist ein (negatives) Kulturgut.
Volle Unterstützung!
 
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kingofmusic

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Ja da hast du recht. Ich meinte da konkret diesen Kipppunkt im Buch, wenn die Familie aus Auschwitz abreist und man (ich) hatte gerade Tiefe bei den Überlegungen von Jean bemerkt und auch bei der Autorin eine Konstanz im Erzählen und plötzlich "peng" sind da wieder diese (für mich maximal nervigen) Dialoge. Das war mein subjektives Empfinden/mein Wunsch, dass ich die dort einfach nicht (mehr) haben wollte. Aber ja, wenn sich die Leute vorher so unterhalten haben, dann tun sie es auch danach weiter.
Auch da hast du meine volle Unterstützung. Ich war nach dem Besuch in Buchenwald nicht in der Lage, ein "banales" Gespräch zu führen. Ich konnte in der Klinik auch kaum was zum Abendbrot essen, weil ich noch so fertig war.
Okay, jeder "reagiert" sich anders ab nach solchen Besuchen, aber ein bißchen "wertschätzender" darf es schon sein...
 

Renie

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Spätestens mit diesem Abschnitt kann ich mir ein Bild von Serge machen: Ich-bezogen, einer, der keine Meinung neben seiner gelten lässt; er weiß, was gut für andere ist und lässt sich durch nichts davon abbringen.
Er will immer die Kontrolle über sich und andere haben. Auschwitz löst etwas in den Menschen aus, so auch bei Serge. Er fühlt sich fremdbestimmt und damit kommt er nicht zurecht. Deshalb zickt er in Auschwitz rum und verweigert sich.
Der Streit mit Nana bringt es auf den Punkt: eigentlich ist er ein Versager, der im Leben nichts erreicht hat. Vielleicht ist Serges dominante Art seine Masche, um von seinem Versager-Dasein abzulenken. Mehr Schein als Sein.

Ich begegne in diesem Roman immer wieder Gedanken und Sätzen, die mich zum Nachdenken und Philosophieren anregen. Das gefällt mir an dem Buch. Dieser Wechsel zwischen komischen Elementen und tiefgründigen Textpassagen.
 

RuLeka

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Vielleicht ist Serges dominante Art seine Masche, um von seinem Versager-Dasein abzulenken. Mehr Schein als Sein.
Solche Typen gibt es mehr als genug. Jemand mit genug Selbstwertgefühl muss sich nicht ständig selbst bestätigen. Der hat auch keine Probleme, mal seine eigenen Wünsche hintendran zu stellen.
Dieser Wechsel zwischen komischen Elementen und tiefgründigen Textpassagen.
Das gefällt mir ebenfalls. Diese eigentlich banalen Gespräche haben Selbstentlarvendes.
 

Barbara62

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Außerdem spielt es eine Rolle, dass Yasmina Reza selbst Jüdin ist. Nur Juden verzeiht man, wenn sie sich im Grunde für eine Abschaffung dieser Erinnerungskultur aussprechen.
Wenn sie nicht Jüdin wäre, würde ich das Buch nicht lesen wollen. So darf nur eine Jüdin schreiben.

Tja, und dann kommen wieder diese nichtssagenden Passagen und Einwürfe zu diversen Familien- und Bekanntenkreismitgliedern. Und ich möchte am liebsten das Buch weglegen. Der Leseabschnitt endet mit diesem schrecklichen Dialog zwischen Sean und Marion, der mir ehrlich gesagt erst einmal entgangen ist. Da der Absatz genau zwischen S. 150 und 151 liegt, dann wieder einmal alles mit merkwürdigen Gedankengängen anfängt, rutschte ich förmlich in die Konversation und wusste nicht, was jetzt eigentlich vorsichgeht. Dann ist er wohl doch ein Würstchen. Na denn...
Mir sagt dieser Abschnitt schon etwas: Jean hätte eigentlich gerne eine eigene Familie, traut sich aber aufgrund der Beobachtungen bei seinen Geschwistern und Eltern nicht. Und er ist sich bewusst, dass er feige ist.

Auf der Buchrückseite steht unter Anderem die Frage "Was heuißt jüdisch sein", ich sehe in dieser modernen Familien-, Generationen-, Beziehungsgeschichte, abgesehen von diesem Auschwitz-Kapitel keinen besonderen Bezug zu Religion und Herkunft. Für mich könnten die Familienmitglieder irgend eine Religion haben und auch seit Generationen Franzosen sein, oder auch nicht. Die Frage "Wie umgehen wir mit Alter, Krankheit, Tod?" ist für mich wesentlich präsenter, auch die Antworten auf diese Frage, Möglichkeiten, wie wir damit umgehen könnten und es tun, dies zeigt sich in diesem immer wieder zwischen die aktuellen Dialoge einfließenden Episoden mit den sehr alten, kranken und sterbenden Familienmitgliedern, teilweise Erinnerungen, teilweise aktuelle Ereignisse. Die Mutter, Maurice, Zita ...
Ich finde schon, dass es eine Rolle spielt, dass sie Juden sind, denn mit ihrem Altern und Tod gehen die letzten betroffenen Zeitzeugen des Holocausts verloren.

Auch da hast du meine volle Unterstützung. Ich war nach dem Besuch in Buchenwald nicht in der Lage, ein "banales" Gespräch zu führen. Ich konnte in der Klinik auch kaum was zum Abendbrot essen, weil ich noch so fertig war.
Okay, jeder "reagiert" sich anders ab nach solchen Besuchen, aber ein bißchen "wertschätzender" darf es schon sein...
Sie haben den Kopf nicht frei für Auschwitz. Sie stecken so tief in ihrem Familienzwist, dass das KZ nicht die erste Rolle in ihren Gedanken spielt. So sollte man nicht nach Auschwitz fahren.
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Meines Erachtens hat die Autorin ein Problem mit der Erzählstimme. Es soll Sean sein, der erzählt, häufig sehr subjektiv und erinnernd. Und dann ist hier der Text durch fast essayistische Passagen, die die Meinung der Autorin widergeben (laut gelesenen und gesehenen Interwievs mit der Autorin), unterbrochen.
Ja, das finde ich auch. Das passt nicht wirklich zusammen. So etwas hat seinen Platz u.U. in der Autofiktion (wie z.B. in "Die Fremde" von Claudia Durastanti) aber hier ist es sehr (ver)störend.

Diese eigentlich banalen Gespräche haben Selbstentlarvendes.
Für mich haben die banalen Gespräche auch eine Funktion. Irgendwie zeigen sie doch das Verhältnis zur Vergangenheit auf und sind ein weiteres Mosaiksteinen in der Diskussion um die Erinnerungsstätten. Die Familie erinnert sich, ja, aber hat das eine Auswirkung auf ihr Leben? Man erinnert sich, weil man jetzt mal gerade da ist, aber insgesamt wirkt es wie ein aktives "Muss" in der Situation. Es wird so distanziert und oberflächlich dargestellt und genauso oberflächlich und belanglos ist unser modernes Leben im Vergleich zu dem erlittenen Leid.
Als weitere Funktion würde ich wirklich das Kontrastieren von Komik und Tragik sehen, also sozusagen ein komisches Ventil, damit die Düsternis nicht überhand nimmt. Allerdings kann man darüber diskutieren, ob das hier gelungen ist.

Ich muss gestehen, dass ich den Roman nicht sehr gern in die Hand nehme - im Großen und Ganzen langweilt er mich - weil ich für alle Elemente (jüdische Identität, Geschwister-Hick-Hack, unreife Männer, Erinnerungskultur, essayistische Einlassungen, Kontrastierung düstere Vergangenheit - banale Gegenwart, Auflockerung der Tragik durch Komik) mindestens einen Text kenne , der das um Längen besser macht....