3. Leseabschnitt: Kapitel XIII bis XIX (Seite 146 bis 231)

tinderness

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Wandervögel und Jugendwahn: Natürlich geht es im Mann'schen Universum bei der Schilderung des Universitätslebens nicht ohne die studentischen Verbindungen ab. Ich weiss schon, man darf nicht heute mit gestern vergleichen, das ist wie mit den Äpfel und Birnen! Überdies muss nicht jede Studentenverbindung gleich sein. Aber schlagend ist sie bei Mann allemal. Doch bleiben wir "in" der Erzählzeit und beschäftigen wir uns besser mit dem, worüber bei den jungen Menschen diskutiert wird, in der christlichen Verbindung namens "Winfried".

Sehr klar wird dabei das Thema der "Wandervögel" positioniert, denn mindestens zweimal im Jahr als Gesamtheit und mehrmals im Jahr in kleinen Gruppen macht sich die Verbindung auf, die nähere Umgebung zu erkunden. (.... Junge Musensöhne, die von Halle aus gemeinsame Wanderungen unternahmen ...- Kapitel 14). Die "Wandervögel" waren eine in Deutschland im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts sehr weitverbreitete Jugendbewegung, die das Nationalssozialistische Deutschland sehr geschickt für die eigene Sache auszunutzen wusste, indem sie die einzelnen Gruppierungen in die Hitlerjugend einzugliedern wusste. Sie war meist von bürgerlichen und akademischen Jugendlichen besucht, wurde aber auch von Sozialdemokratischen Kreisen aufgenommen. Mit viel Ironie wird deren "Zugangegehen in der Natur" vom Erzähler geschildert, auch wenn es darum geht das Fremdeln der städtischen Jugend auf Feld und Wiese zu erzählen: "...solch freiwillige Zurückschraubung und Vereinfachung (des bürgerlichen Lebens der Studenten) hat leicht, ja fast notwendig einen Anflug von Künstlichkeit, Gönnerhaftigkeit, Dilletantismus, Komik ...) Kein Wunder, wenn die Bauern schmunzeln, wenn sie sie ihrer ansichtig werden.

Doch viel interessanter sind in diesem Zusammenhang die Diskussionen um den "Eigenwert der Jugend", die in der Scheune vor dem Nachtlager stattfinden. Diese Diskussionen verweisen schon, so wie die Wandervögelbewegung, auf die Ideologie des Naziregimes, mit seinem Kult des Neuen, Frischen, der Jugend überhaupt. Das Lebensgefühl der Jugend wird angesprochen (ich bin jung, also bin ich). Und AL verstrickt sich nun erstmals in eine halböffentliche Diskussion darüber, er, der immer eine nicht unübersehbare Distanz zu sozialen und individuellen Verbindlichkeiten gezeigt hatte - was ihm sogar das "Du-Wort" zu seinen Kommilitonen erschwert. Auch zum Thema Jugend wahrt er deshalb die ihm eigene Distanz und wird deshalb von seinen Gesprächspartnern kritisiert.

Und da wird es geäussert, dieses Argument, dass Jahre später mit vielen anderen in die Katastrophe des Nationalsozialismus führen wird: Die deutsche Jugend repräsentiere den Volksgeist der Deutschen! Die Jugend habe nichts mit Politik zu tun, sie sei eine metaphysische Gabe! Mit ihr könnten die Fesseln einer "überlebten" Zivilisation abgeschüttelt werden. So argumentiert über weite Strecken ein Student, der (nomen est omen!) Deutschlin heisst und dem sich AL zweifelnd in den Weg stellt. Wir sind wieder beim eigentlichen Thema angelangt.
 
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Musikstudium: Während seines Aufenthalts zum Theologiestudium in Halle bleibt AL mit seinem ehemaligen Musiklehrer Wendell Kretzschmar aus Kaisersaschern in regelmässigem brieflichen, aber auch persönlichen Kontakt. Der aus den USA stammende Kretschmar ist ja schon in vorgängigen Kapiteln als geniales Original und Sonderling beschrieben worden, der seine Passion für Beethoven in wenig besuchten Vorträgen unter quälendem Stottern und fantastischen Praxisbeispielen nachgegangen war. Er bedrängt nun seinen Schüler, das Musikstudium zu beginnen. Nach einer intensiven Überlegungen entschliesst sich AL letzten Endes doch, sein theologisches Studium in Halle abzubrechen und seinem ehemaligen Lehrer nach Leipzig zu folgen. WK ist an die dortige staatliche Musikhochschule berufen worden. Die Lebenswege der beiden Freunde trennen sich nun für einige Jahre: AL geht nach Leipzig, SZ zum Militärdienst nach Naumburg.

Das Interesse AL an der Musik ist ausschliesslich durch Theoretischer Musik geprägt, die ihn in Anlehnung der Alchemie als "hermetisches Laboratorium" und als "Goldküche" interessiert. Er entdeckt, dass die Musikformen, die ihm sein Lehrer WK zu Lernzwecken zumutet, nicht sein eigenstes Interesse berühren, obwohl er anhand derer sein Können erweitert und verfeinert. Langsam beginnt sich bei ihm ein recht distanzierter Habitus zu entwickeln. Das zeigt sich darin, dass er aus den ihm aufgetragenen Kompositionen im Grunde Parodien der jeweiligen Musikformen macht (Kapitel 18).

In der Schlupfbude: AL charakterisiert sich ganz direkt als eine "weltscheue" Persönlichkeit, der es an Wärme, Sympathie und Liebe zu seiner Umwelt fehlen würde. Das ist auch der Tenor, den SZ einschlägt, der sehr oft die ironische Distanziertheit und intellektuelle Kälte seines Freundes anführt.

Besonders deutlich wird dies anhand eines Erlebnisses, das am Beginn seines Aufenthaltes in Leipzig steht (Kapitel 17) Von einem Fremdenführer wird AL in ein Bordell geführt, aus dem dieser, nachdem ihn eine Prostituierte berührt hat, Hals über Kopf flieht. Dies vertraut er SZ in einem Brief unter dem Siegel der Verschwiegenheit an. Der Brief wird zur Gänze wiedergegeben und ist in einem altertümlichen Stil verfasst worden, den der Erzähler als Reformationsdeutsch bezeichnet. Das verlangt vielen von uns LeserInnen ab, wiederholt zu Google zu greifen, um Begriffe wie Felleisen, Schlupfbude, Bossen, Klavizimbel oder Gautschen zu entziffern. Dieser Stilwechsel hat aber nach Aussage des Erzählers den ganz eigenen Zweck, die Szene in einen religiösen Ton zu tauchen und somit das dem Autor offenbar peinliche Erlebnis zu stilisieren und so zu "entpeinlichen". SZ ist empört über den Vorfall im Bordell, die seinen Freund mit lasziven Plumpheiten wie die Berührung durch eine Prostituierte konfrontiert hätte. Dies wäre ein Affront gegenüber der Reinheit, Keuschheit, dem intellektuellen Stolz und der kühlen Ironie, die seinen Freund immer umgeben habe. Und tatsächlich wird AL die Prostituierte wiedersehen und eine sehr kurze sexuelle Beziehung aufnehmen - sehr zum Entsetzen seines Freundes, dem diese fleischlichen Begierden generell zuwider sind.

Wir haben es erwartet, dass angesichts eines Genies die Opposition zwischen Geist und Sinnlichkeit, ja Tierischem aufgemacht wird. Und das geht natürlich einher mit einem gerüttelten Mass an Frauenfeindlichkeit, von dem sich der Erzähler kaum distanzieren kann, wie seine wiederholten Bemerkungen, etwa zu einer kurzen Liebesbeziehung oder der "neuerdings entdeckten" Frauenemanzipation beweisen.
 
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Ich weiß nicht mehr, ob vorher schon mal ein Anhaltspunkt gekommen ist, anhand dessen wir die Handlung in der Zeit genau verorten können. Vielleicht kam was und ich habe es vergessen. Mit der Uraufführung der Salome haben wir jedenfalls ein konkretes Datum. Die Uraufführung, die Adrian sich angesehen hat, war im Dezember 1905 in Dresden. Gustav Mahler wollte die Oper auch gleich in Wien aufführen (er war damals Hofoperndirektor), aber das klappte nicht wegen der äußerst schwülen Handlung.
Ich habe mir vor Jahren online zwei verschiedene Fassungen angeschaut und war damals ziemlich erschrocken ... Kann mir gut vorstellen, was für ein Skandal das zur Zeit der Jahrhundertwende gewesen sein muss.

Wie soll man sich dieses Zusammentreffen vorstellen? "Reinigend, rechtfertigend, emportragend muß es die Elende beglückt haben, daß der weither Gereiste auf jede Gefahr hin den Verzicht auf sie verweigerte; und es scheint, daß sie alle Süßigkeit ihres Weibtums aufbot, um ihn zu entschädigen für das, was er für sie wagte." Wer Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Untergrund im letzten Jahr mitgelesen hat, fühlt sich wohl sofort an eine ähnliche Szene erinnert. Dergleichen - sorry - weltfremdes Geschwurbel findet sich etwa auch bei Manns Zeitgenossen Jakob Wassermann, den ich normal sehr gerne lese, auch wenn ich bei solchen Szenen immer schamrot werde. Wassermann ist allerdings gerne etwas mystisch und lädt auch die einfachsten Szenen mit symbolischem Gehalt auf, so dass man ohnehin nie so richtig weiß, was eigentlich "wirklich" passiert. Thomas Mann ist definitiv kein mystischer Erzähler - aber vielleicht ist es Serenus Zeitblom? Vielleicht liegt es an seiner persönlichen Erzählhaltung, dass diese Szene so unangenehm rüberkommt, und nicht an Thomas Mann selbst.

Serenus' eigenes Liebesabenteuer ist ja um kein bisschen besser. Es gibt in Heimito van Doderers "Ein Mord den jeder begeht" eine ganz ähnliche Konstellation. Die "kleine" Geliebte, zu der der junge Student gerne geht, weil sie sauber ist und nichts kostet, aber er wird ihrer dann schnell wieder überdrüssig, weil sie ihm geistig nicht ebenbürtig ist. Tja. Dann hau doch ab, du Knallkopp.
 
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Thomas Mann ist definitiv kein mystischer Erzähler - aber vielleicht ist es Serenus Zeitblom? Vielleicht liegt es an seiner persönlichen Erzählhaltung, dass diese Szene so unangenehm rüberkommt, und nicht an Thomas Mann selbst.
Diesen Verdacht hab ich auch schon gehegt. Man könnte ja auch nicht sagen, dass der Erzähler insgesamt "sympathisch" mit seiner Haltung rüberkommt. Doch warum den Leser gegen den Erzähler bewusst aufbringen wollen? Nein, falsch: vielleicht gerade so seinen bürgerlich-verschrobenen Leser gewinnen zu können! Nun denn, nehmen wir es einfach als gegeben.
 
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Ein Zitat aus Wiki hierzu:
"Indem Thomas Mann den Chronisten Serenus die dämonische Fabel auf seine brave Humanisten- und Pädagogenart erzählen lässt, gibt er zu verstehen, daß der Gegenstand – und also die Zeit, der er angehört – dem überlieferten Geist der Erzählung über den Kopf gewachsen ist. Doktor Faustus ist die Abdankungsurkunde des Romaneschreibers und Serenus Zeitblom das Pseudonym des Schweigens."
(Der kursiv gesetzte Teil ist zitiert aus einem Werk von Erich Heller: "Thomas Mann: Der ironische Deutsche.")
Ich glaube, wir müssen Zeitblom als nicht ganz zuverlässigen Erzähler ansehen. Wenn wir Thomas Mann überhaupt mit einer Figur im Roman identifizieren wollen, dann, glaube ich, eher mit Leverkühn selbst als mit Zeitblom. Wobei, wenn TM sich Leverkühns Genialität "an-gedichtet" haben sollte, da wohl auch wieder ein guter Schuss Selbstironie im Spiel ist.


Dies nur zwischendurch, ich pendle wieder mal zwischen Zuhause und Zahnlabor ... :rolleyes:
 

tinderness

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Nachtrag zu meinen beginnenden Verständnisschwierigkeiten: Insbesondere sein Liebesabenteuer mit der Prostituierten Esmeralda inspiriert AL zu neuen Formen der Komposition, mit dem von ihm gewählten Wahlspruch "hetaera esmeralda" (= die gebildete Prostituierte Esmeralda). Diese Bezeichnung führt er in eine Notenabfolge über: h-e-a-e-es, die er in seinen Kompositionen variieren wird. Wir erinnern uns: Beethoven, "er schreibt Buchstaben und nicht Noten!". Ein abstruses, aber stereotyp männliches Bild: von der Prostituierten (vor ihrem Körper) gewarnt, geht er doch ein sexuelles Abenteuer ein und lässt sich durch diesen "Sündenfall" (Geschlechtskrankheit und Behandlung durch eigenartige Mediziner inbegriffen) musikalisch inspirieren. Soweit wieder zum Thema Thomas Mann und die Frauen. Ich werde dieses Thema aber in Zukunft zu vermeiden wissen.

Als Nichtmusiker bleiben mir allerdings viele der vom Erzähler eröffneten Entwicklungen in ALs Schaffen fremd. Ich muss gestehen, dass ich die musiktheoretisch unterlegten Passagen des Romans nur mehr oberflächlich lesen will und nicht mit einem musikwissenschaftlichen Lexikon. Ähnlich geht es mir mit so manchen geisteswissenschaftlichen Exkursen dieses Romans, die aus meiner Sicht die Präzision des Erzählens mit einem Nebel an intellektueller Verspieltheit, wenn nicht sogar Borniertheit und Arroganz verschleiern und dem Erzählfluss abträglich sind. Sprachlich brilliant ist das natürlich, aber Brillianz muss man nicht bei jeder Gelegenheit vorweisen müssen. Ich beschliesse, mich damit abzufinden: Take it or Leave it, heisst es doch, und ich bleibe aufmerksam beim Roman, wo mir dies möglich ist.
 
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Es gab vor Leverkühn schon Komponisten, die nach Buchstabenfolgen komponiert haben. Bach hat ein Stück auf der Grundlage seines eigenen Namens mit der Tonfolge b-a-c-h geschrieben; ich habe auch mal über ein Stück gelesen, das für eine vom Komponisten verehrte junge Frau bestimmt war und in ähnlicher Weise "um ihren Namen" geschrieben war - ich weiß nicht mehr von wem, könnte sogar Beethoven gewesen sein.

In Kapitel 22 haben wir sie bereits, die Zwölftonmusik. Und so, wie Leverkühn den theoretischen Ansatz entwickelt, ist es jedenfalls mehr als eine bloße intellektuelle Spielerei.

Später mehr, bin noch im Gebissmodus.
 

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So, Schleppfuss war/ist sein Name! So einträglich der Name, so vielfältig meine Assoziationen und schon schweifen meine Gedanken umher, lassen mein Gedächtnis schmählich zurück.;) War das etwa schon die erste Teufelsbegegnung? Die Beschreibung würde passen.

Und Schlupfbude! Warum ist dieses Wort nicht mehr gebräuchlich? Stattdessen gibt es Laufhäuser... na, wenn da mal nicht der Wandel der Zeit die Sitten und Gebräuche geändert hat. Nur der in anderen Sphären schwebende Adrian kann mit dem Angebot nichts anfangen und als es ihn dann doch piesakt, er sogar besondere Mühen für die Auserkorene aufnimmt, wird er sogleich mit einer Geschlechtskrankheit bestraft. Aber gleich ein zweifacher Schicksalsschlag bei seinen behandelnden Ärzten, das halte ich nun entweder für übertrieben, oder einen winkenden Zaunpfahl, der sogar mich unzuverlässigen Leser zur Aufmerksamkeit zwingt.

TM und die Frauen, das ist und bleibt wohl ein besonderer Drahtseilakt. Und obwohl mir das klar ist und ich eigentlich damit Frieden schließen sollte (schließlich kann der Arme sich höchstens noch im Grabe drehen), regt es mich innerlich zum Widerstand an.

Warum regt sich Severin so dermaßen darüber auf, dass Adrian zur Schlupfbude geführt wurde? Ist er etwa heimlich verliebt in ihn? Und wenn ihr hier biografische Tendenzen zu TM seht, welche der beiden Figuren wäre "schlimmer"? AL, als alles überstrahlendes, menschenscheues Genie, oder SZ, als stalkender, eifersüchtiger Beobachter?
 

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Bei Colm Tóibín steht, Thomas Mann habe sich mit Severin Zeitblom selbst porträtieren wollen. Das kann ich auch nicht so ganz glauben. Dieser Typ hat etwas Betuliches und Ehrpussliges und TMs Schilderung ist auch durchaus ironisch eingefärbt; vor allem immer dann, wenn Zeitblom von seiner eigenen Familie spricht.
 

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Bei Colm Tóibín steht, Thomas Mann habe sich mit Severin Zeitblom selbst porträtieren wollen.
Ich bin überaus skeptisch bei Aussagen, die den Autor eines Romans mit einer Romanfigur gkleichsetzen: das ist meines Erachtens eine Verkürzung, die literaturwissenschaftlich betrachtet, nie haltbar sein kann. Es mag schon sein, dass Thomas Mann mit der Haltung SZ sympathisiert, aber sich selbst porträtieren; das wird es wohl sicher nicht sein.
 

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Ich bin überaus skeptisch bei Aussagen, die den Autor eines Romans mit einer Romanfigur gkleichsetzen: das ist meines Erachtens eine Verkürzung, die literaturwissenschaftlich betrachtet, nie haltbar sein kann. Es mag schon sein, dass Thomas Mann mit der Haltung SZ sympathisiert, aber sich selbst porträtieren; das wird es wohl sicher nicht sein.
Ich habe mich wohl falsch ausgedrückt. Natürlich wollte sich Thomas Mann sich nicht in Zeitblom persönlich porträtieren, sondern als Typ. Ich zitiere, wie Tóibín sich Manns Gedanken vorstellt:
<<Zeitblom war zwar ein wahrheitsliebender und gewissenhafter Berichterstatter, aber sein geistiger Horizont war eng und seine analytischen Fähigkeiten hielten sich in Grenzen. (...) Er war Thomas' Doppelgänger - bescheidener und zaghafter als er, aber ein Augenzeuge derseben Jahrzehnte, der Weimarer Republik und der Hitler-Zeit, wie er, der dieselben Nachrichten hörte wie er. Beide, Autor und fiktiver Erzähler, blickten ängstlich-gespannt in die Zukunft (...) Tag für Tag hatte Thomas Hitlerdeutschlands Weg in den Untergang in den Nachrichten verfolgt und dabei Zeitbloms Anwesenheit gespürt. Er ließ Zeitblom in seiner fiktiven Biografie notieren: Unsere zerschmetterten und zermürbten Städte fallen wie reife Pflaumen. >>

Es geht also nicht um ein persönliches Selbstporträt. Thomas Mann war, als er den Faustus schrieb, in einer schwierigen Situation. Er wollte dieses Buch in deutscher Sprache und für deutsche Leser schreiben, befand sich aber im Exil in den USA und wusste nicht, ob das Buch je Aussichten haben würde, im deutschsprachigen Raum gedruckt und gelesen zu werden. Tóibín stellt dieses Dilemma sehr eindringlich dar.
Sollte es irgendwann zu einer Zweitlektüre kommen - vielleicht in zwei, drei Jahren? - werde ich mir die "Entstehung des Doktor Faustus" dazu besorgen. Vorher muss ich aber die Josephsromane lesen, und das wird ein Weilchen dauern ...