3. Leseabschnitt: Kapitel SIEBEN bis ACHT (Seite 183 bis 255)

Emswashed

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9. Mai 2020
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Der Abgang des Fräuleins! Was für ein bemerkenswerter Dreh! Das Fräulein erschrickt sich vor ihrem eigenen Mantel, im Gedankenkarusell, jemand möge ihr Geld stehlen und dem unendlichen Geiz, Licht zu machen und zu erkennen, was da steht. Besser hätte ich mir ein konsequentes Ende nicht vorstellen können.

Da schweigt meine innere Stimme, die mir ständig einflüstern will, dass das Fräulein nur ein fast willenlos getriebenes Menschlein ist, im Gehorsam dem Vater, im Nachstreben der gewiefteren Geschäftsmänner mit ihren Handelstipps und der Verführung Ratkos unterworfen.

Und keiner dieser Männer wird zur Verantwortung gerufen, sie kommen alle mit einem blauen Auge davon. Jovanka ist die Schlange im Nest. Sie ist es, die unser Fräulein hinausgeführt und überredet hat und nun schlecht über sie redet. Ich habe Mitleid mit Jolanka, sie schägt um sich, weil auch sie betrogen wurde. Aber immerhin hat sie ihren Irrtum mit Ratko noch zugegeben. Da möcht ich einen bösen Blick dem Autor zuwerfen, ihr ein so zänkischen Charakterzug verliehen zu haben.
 

dracoma

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16. September 2022
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Mir kommt der Roman immer mehr wie eine Groteske vor. Das Fräulein ist überzeichnet, Jovanka auch, vielleicht auch die Mutter, die so widerspruchslos die Kürzung ihrer täglichen Brotration und anderes hinnimmt.

Und die Sache mit dem Schreckgespenst ihres eigenen Mantels, weil sie zu geizig ist, eine Kerze anzuzünden - wenn es nicht so traurig wäre, müsste man drüber lachen.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Mir kommt der Roman immer mehr wie eine Groteske vor. Das Fräulein ist überzeichnet, Jovanka auch, vielleicht auch die Mutter, die so widerspruchslos die Kürzung ihrer täglichen Brotration und anderes hinnimmt.

Und die Sache mit dem Schreckgespenst ihres eigenen Mantels, weil sie zu geizig ist, eine Kerze anzuzünden - wenn es nicht so traurig wäre, müsste man drüber lachen.
Naja, Groteske ... Das Fräulein ist psychisch krank. In meiner Ausgabe ist von "einer großen, herrlichen, todbringenden Wüste des Sparens" die Rede, "in der der Mensch sich wie ein Sandkorn verlor." Das ist eine Zwangsvorstellung.
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Schlimmer als Ratko fand ich aber in diesem Zusammenhang Jovanka. Nicht nur wegen ihres krankhaften Helfersyndroms, sonder vor allem wegen ihrer anschließenden Hinterhältigkeit.
Das geht mir auch so - allerdings zeugt es für mich noch dazu von einem ziemlich unglaublichen Defizit in Sachen Menschenkenntnis seitens des Fräuleins. Und das bringe ich ehrlich gesagt wieder nicht mit dem bisherigen Verlauf des Romans zusammen. Denn bis dato war sie doch sehr geschickt in der Auswahl ihrer "Kunden". Allein die Tatsache den Onkel in Ratio wieder zu erkennen reicht dafür aus, ihm auf den Leim zu gehen? Meines Erachtens leider nicht sehr glaubwürdig - zumal sie den Onkel aufgrund seiner spendablen Ader ja doch auch kritisch sieht und in einer "Schublade" hat. Die müsste sich eigentlich dann ebenfalls auf ihre Sicht auf Ratio übertragen.
Ich bin froh, dass der letzte LA neben aller Atmosphäre auch eine flotte Handlungsebene vorweisen kann.
Da fiel mir auch tatsächlich ein Stein vom Herzen. Auch wenn ich die Handlung insgesamt sehr "altbekannt" und vorhersehbar fand.
Mich hat das gestört, ich hätte das gerne selber entdeckt!
Mich auch. Da wurden alle Trümpfe schon aus der Hand gegeben.
Aber es hat mich gestört, dass er uns das sagt.
Genau. Insgesamt hat Andric eine starke Tendenz zum Ausformulieren. Mir bleibt da zu wenig Möglichkeit für eigene Interpretationen.
Das Cover ist ein Hingucker, mich hat es sofort angesprochen. Aber es entspricht überhaupt nicht dem Bild, das ich mir während des Lesens von dem Fräulein gemacht habe.
Soll das die 15-jährige Rajka sein, noch im behüteten Haus ihrer Eltern wohnend?
Ich habe beim Lesen gedacht, dass es sich beim Cover um eines der beiden hübschen Mädchen aus dem Varieté handelt!
Nun aber saßen zwischen ihnen zwei Mädchen aus dem Varieté, beide blond, schön und einander ähnlich wie zwei Schwestern, in gleichen Abendkleidern aus blassgrüner Seide. (S. 225)
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Tja, was soll ich sagen - selbst der schneidige Ratko konnte mich nur bedingt begeistern. Zwar hat mich das Ende deutlich mehr interessiert als der ganze Rest, aber ich habe schon 1000 mal von windigen Typen, die ältliche Frauen übertölpeln gelesen. Das ist einfach kein Twist für mich.

Mir bleibt der ganze Roman insgesamt zu blutleer, zu distanziert, zu wenig interessiert an seinen Figuren. Nur Geiz und Sparsamkeit als Charakterzug ist mir tatsächlich zu sparsam. Das Bild mit dem Herzen, an dem sie krankt und stirbt, ist gefällig, aber irgendwie dann auch wieder eine sehr offensichtliche Wahl.
Ich kann mir nicht helfen, aber ich empfinde den Roman als insgesamt sehr didaktisch, ein Lehrstück über den Geiz, der schlussendlich zu Einsamkeit führt.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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unglaublichen Defizit in Sachen Menschenkenntnis seitens des Fräuleins.
Ihre Menschenkenntnis bezog sich vor allem darauf, zu erkennen, wer seine Schulden zurückzahlen wird. Ansonsten würde ich ihr nicht viel Menschenkenntnis zugestehen.
Vielleicht hat das Fräulein doch ab und an auch menschliche Regungen und verfällt dem Charme und dem Aussehen eines Mannes? Bis auf ihren Onkel Vlado konnte kein Mann an ihr Herz rühren. Es gab anfangs ja tatsächlich Bewerber, die Interesse an ihr zeigten. Die hat sie alle vergrault.
Nach der Enttäuschung heißt es „ Kann das Tier von Mann denn nicht für einen einzigen Augenblick rein und ehrlich sein, wenigstens ausnahmsweise?“ Ihr Bild von Männern ist schon sehr verquer
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Ich habe beim Lesen gedacht, dass es sich beim Cover um eines der beiden hübschen Mädchen aus dem Varieté handelt!
Die Beschreibung würde passen, doch deren Rolle ist so gering, dass sie nicht aufs Cover müssen.
Ich denke, dass es rein verkaufstechnische Fragen waren, die für dieses Cover sprachen.
 

dracoma

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16. September 2022
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Ihr Bild von Männern ist schon sehr verquer
Das denke ich auch. Da ist einmal ihr Vater, der für sie wie ein Herrgott über allem steht und dessem Andenken sie dient wie eine Nonne. Dazu passt auch ihre Kleidung und ihr wöchentlicher "Gottesdienst" an seinem Grab.
Dieser Vater warnt sie aber gleichzeitig vor seinesgleichen. Er warnt sie davor, "inneren Edelmut, Großzügigkeit und Empfindsamkeit" (S. 25) zu zeigen, denn das seien die Gründe "für unseren völligen Ruin". Genau aus diesen Gründen ist der Vater in den Ruin gerutscht. Seine Geschäftskollegen, also alles Männer, haben sich ihm gegenüber unehrenhaft, egoistisch und mitleidlos verhalten. Und dieses Männerbild setzt sich in ihr fest.

Eine andere verquere Sache wird auch immer deutlicher, auch hier im 3. LA. Das Fräulein ist völlig unpolitisch, sie zeigt keinerlei (weitergehendes) Interesse an den gewaltigen Umbrüchen ihrer Zeit, aber zugleich lebt sie davon.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Eine andere verquere Sache wird auch immer deutlicher, auch hier im 3. LA. Das Fräulein ist völlig unpolitisch, sie zeigt keinerlei (weitergehendes) Interesse an den gewaltigen Umbrüchen ihrer Zeit, aber zugleich lebt sie davon.
Sie interessiert sich eh für kaum etwas. Die historischen Verhältnisse sind für sie nur in Bezug auf ihre Geschäfte relevant.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Sie interessiert sich eh für kaum etwas. Die historischen Verhältnisse sind für sie nur in Bezug auf ihre Geschäfte relevant.
Wie ich schon sagte, das ist nicht unbedingt realistisch. Wer auch in Krisenzeiten Gewinne machen will, muss mehr wissen als nur die aktuellen Börsenkurse.
Das hat mich aber nicht wirklich gestört. Das Fräulein ist dermaßen eigensinnig, dass man es ihr abnimmt.
 

RuLeka

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Wie ich schon sagte, das ist nicht unbedingt realistisch. Wer auch in Krisenzeiten Gewinne machen will, muss mehr wissen als nur die aktuellen Börsenkurse.
Das hat mich aber nicht wirklich gestört. Das Fräulein ist dermaßen eigensinnig, dass man es ihr abnimmt.
Im Grunde prangert Andric genau so ein Verhalten an. Er zeigt, was für ein armseliges Leben so jemand führt.
Er selbst hat sich sehr wohl politisch engagiert.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Das Fräulein kann es einfach nicht fassen, dass sie so töricht war ihr Geld an diesen Hallodri zu verleihen. Die Bekannte ist Schuld, am Ende sogar die Welt, sie tat mir fast ein wenig leid bei dem Zwiegespräch mit ihrem Vater……
Der Handlung hat diese Wendung gut getan, so langsam habe ich mich nämlich gelangweilt, es wäre sehr müßig gewesen wieder nur von ihren Sparmassnahmen zu lesen, doch so wurde es im letzten Abschnitt sogar spannend. Natürlich war einem direkt klar, dass sie ihr Geld abschreiben kann, aber ich war dennoch gespannt, wie der Autor dies alles am Ende zusammenfügt.
Ihr Tod kam zwar nicht überraschend, allerdings habe ich nicht damit gerechnet, dass sie einen Herzfehler hat. Makaber, dass sie mit ihrem Geld wahrscheinlich eine gute Behandlung hätte bezahlen können, und was hat sie nun gehabt? Ein karges, kurzes Leben mit Entbehrungen. Allerdings muss man einräumen, dass es selbst gewollt war und es sie auf ihre Art wahrscheinlich erfüllt hat.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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. Schlimmer als Ratko fand ich aber in diesem Zusammenhang Jovanka. Nicht nur wegen ihres krankhaften Helfersyndroms, sonder vor allem wegen ihrer anschließenden Hinterhältigkeit. Sie ist für mich neben dem Krieg das eigentliche Schreckgespenst des Romans.
Ganz so krass habe ich es nicht empfunden. Für mich sah es so aus, als ob sie ihn wirklich selbst falsch eingeschätzt hat. Daher wahrscheinlich auch ihr Bestreben dem Fräulein dann seine Schuld zu beweisen.
Nach dem Tod der einzigen Bezugsperson fühlt sich Rajka "frei und allein".
Sie konnte endlich die letzten Verschwendungen ausmerzen. Wenn es Freiheit bedeutet Zimmerpflanzen und das Haustier zu entfernen, bleibe ich lieber ein Verschwender. Hier zeigte sich ihr Wahn für mich sehr deutlich
Ich habe die Ausgabe in diesem Bild:
Das Fräulein

(Link führt zur HP des Antiquariats Mohr)

Das Buch enthält neben dem Roman noch drei Erzählungen.
Das passt viel besser! Mit dieser Darstellung könnte ich mich eher anfreunden
 

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29. März 2022
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Die größte Überraschung war für mich in diesem Abschnitt, dass Rajka Ratko tatsächlich Geld leiht. Eine Sensation quasi. Was Liebe oder Verliebtsein nicht alles bewirken kann. Doch Ratko entpuppt sich als Taugenichts und Gauner.
Das hat mich tatsächlich auch sehr überrascht. Aber gleich fällt das Fräulein damit ja auch auf die Nase. Am Ende bewahrt sie aber ihren Geiz, bis sie letztlich auch daran einsam stirbt.
Neben dem Herzfehler bringt sie letztlich die Angst um ihr Geld um.
Genau, wobei ersteres leichter zu "heilen" gewesen wäre als letzteres...
Für mich war diese Darstellung der Angst des Fräuleins ganz zum Schluss, mit der reinsten Ironie, wie sie letztlich ums Leben kommt, toll gemacht. Sie denkt ihr eigener, durchnässter Mantel sei ein Dieb, die Angst ums Geld ist größer als die Angst ums Leben und so kommt sie dann ums Leben. Dieser Coup mit dem Herzfehler ist gut eingefädelt und schließt schlüssig den Kreis der "Sklavin der eigenen Raffgier" (vgl. Nachwort).
Hier stimme ich Dir voll und ganz zu. Sie verfällt letztlich in eine Art Wahn. Ich musste schon früh auch an Moliéres Geizigen denken, der im Nachwort ja auch Erwähnung findet.
Nun wissen wir genau, woran das Fräulein starb. Eine Lungenentzündung aufgrund einer Verkühlung war es nicht. Nein, sie erschrickt zu Tode, weil sie ihren eigenen Wintermantel für einen Einbrecher hält. Das war zu viel für ihr schwaches Herz.
Dabei dachte man doch die ganze Zeit, sie habe keins.
Eigentlich eine tragische Geschichte. Sie durchbricht ihren Geiz infolge einer Liebelei, täuscht sich aber in dem, den sie wohlwollend unterstützt und fällt so schlimmer als zuvor in ihren Geiz zurück. Konsequenterweise treibt sie das letztendlich in einen einsamen Tod.
Das Cover passt einfach nicht. Da schaut mich eine gepflegte junge Frau an: ihre Nägel sind manikürt, die blonden Haare onduliert, die Augenbrauen schmal in Form gezupft, die Lippen geschminkt, und dazu ein farbiges Kleid - das passt nicht zu dem Bild, das Andric von Rajka malt.
Ich tue mich auch schwer, Geschichte und Cover zusammenzubringen.
Ich kann mir nicht helfen, aber ich empfinde den Roman als insgesamt sehr didaktisch, ein Lehrstück über den Geiz, der schlussendlich zu Einsamkeit führt.
So sehe ich das auch, sehe darin aber nichts Schlechtes. Ich fühlte mich gleich zu Beginn bereits an Molières Geizhals erinnert. Den habe ich in der Schule im Rahmen des französisch Leistungskurses gelesen. Ich mag solche Art der Charakterkritik.
 

Lesehorizont

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29. März 2022
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Ich bin nun leicht verspätet mit der Lektüre durch. Ich hatte das Buch ja vor vielen Jahren schon einmal gelesen. erschreckend, dass ich mich kaum noch an etwas erinnern konnte.
Tja, die Liebe macht vieles möglich. Aber in dem Fall wird ihr ihre Großzügigkeit zum Verhängnis und verstärkt ihren Geiz später nur noch. Konsequenterweise lässt Andric sie einsam sterben. Die Herzkrankheit habe ich als einen gelungenen Kunstgriff empfunden.
Insgesamt bin ich froh, das Werk nochmals gelesen zu haben. Ich denke, nun bleibt es mir eher im Gedächtnis. Ich wusste auch gar nicht, dass "Das Fräulein" Teil einer Trilogie ist. Zumindest "Die Brücke über die Drina" habe ich auch hier. Müsste ich auch endlich mal lesen...
 

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Ich denke, dass es rein verkaufstechnische Fragen waren, die für dieses Cover sprachen.

Und ich bin diesem Marketing auf den Leim gegangen. Jetzt nach der Lektüre empfinde ich das Cover als eine ärgerliche Irreführung. Ich hatte aufgrund der Darstellung eine andere Protagonistin erwartet.

Apropos Marketing: Ich finde, der Klappentext verrät zu viel. Mich hat die Wendung mit Ratko daher leider nicht mehr überrascht. Wobei ich zugeben muss, dass mir das letzte Drittel trotzdem noch am besten gefallen hat.
 
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Reaktionen: Emswashed und RuLeka

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
1.803
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Das Fräulein ist überzeichnet, Jovanka auch, vielleicht auch die Mutter, die so widerspruchslos die Kürzung ihrer täglichen Brotration und anderes hinnimmt.

Ja, definitiv wird hier sehr dick aufgetragen. Entspricht es dem damaligen Zeitgeist oder liegt das bloß am Autor? Ich muss gestehen, ich habe zum Ende hin über vieles hinweggelesen.
 
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Reaktionen: RuLeka