3. Leseabschnitt: Kapitel SIEBEN bis ACHT (Seite 183 bis 255)

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Die größte Überraschung war für mich in diesem Abschnitt, dass Rajka Ratko tatsächlich Geld leiht. Eine Sensation quasi. Was Liebe oder Verliebtsein nicht alles bewirken kann. Doch Ratko entpuppt sich als Taugenichts und Gauner. Er erinnerte mich in seinem Verhalten an aktuelle Scamming-Fällle. Nur ohne Chats und Mails.

Die intensivste Szene war wohl, wie die Mutter die erwachsene Rajka auf den Schoß nimmt, die ob des Betrugs wieder zum Kind wird. Erstmals hatte ich mit Rajka in diesem Abschnitt so etwas wie Mitleid. Schlimmer als Ratko fand ich aber in diesem Zusammenhang Jovanka. Nicht nur wegen ihres krankhaften Helfersyndroms, sonder vor allem wegen ihrer anschließenden Hinterhältigkeit. Sie ist für mich neben dem Krieg das eigentliche Schreckgespenst des Romans.

So endet der Roman also wie er begann. Mit Rajkas jahrelanger Einsamkeit und ihrem Tod. Neben dem Herzfehler bringt sie letztlich die Angst um ihr Geld um.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Dass das Fräulein überhaupt noch etwas Entwicklungspotential hatte, konnte nur durch starke Emotionen, das Verliebtsein, geweckt werden. Sie wird zur naiven Jugendlichen, was sie ja ab 15 Jahren nach dem Tod des Vaters nicht mehr hat sein können, und geht Ratko auf den Leim. Das war für mich tatsächlich gar nicht so eine große Überraschung, da ich irgendeine Art von Bewegung innerhalb der Figur noch erwartet habe. Wie katastrophal sich dieser Betrug aber für sie auswirkt, hatte ich nicht erwartet. Wie sie sogar ins Infantile zurückfällt und sich von der Mutter pflegen lässt/lassen muss.
Zuvor noch hat der Autor einen kurzen Blick in die Goldenen Zwanziger im Kabarett/Tanzlokal geworfen. Diese Szenen kennt man ja aus Darstellung der großen Metropolen wie Berlin etc. Für mich war hier interessant zu sehen, dass es auch in Belgrad diese Weltoffenheit und einfach ähnliche Vorgänge wie in anderen Städten der Zeit gab. Man (ich) hat ja immer so ein Bild vom Balkan, was etwas rückschrittlicher und nicht am Puls der Zeit wirkt. So habe ich mich belehren lassen und erkannt, wie modern Belgrad zu der Zeit gewesen ist. Vielleicht heute wieder ist? Man (ich) hört so wenig davon!

Für mich war diese Darstellung der Angst des Fräuleins ganz zum Schluss, mit der reinsten Ironie, wie sie letztlich ums Leben kommt, toll gemacht. Sie denkt ihr eigener, durchnässter Mantel sei ein Dieb, die Angst ums Geld ist größer als die Angst ums Leben und so kommt sie dann ums Leben. Dieser Coup mit dem Herzfehler ist gut eingefädelt und schließt schlüssig den Kreis der "Sklavin der eigenen Raffgier" (vgl. Nachwort).
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Nun wissen wir genau, woran das Fräulein starb. Eine Lungenentzündung aufgrund einer Verkühlung war es nicht. Nein, sie erschrickt zu Tode, weil sie ihren eigenen Wintermantel für einen Einbrecher hält. Das war zu viel für ihr schwaches Herz.
Dabei dachte man doch die ganze Zeit, sie habe keins.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Mit Jovanka hat Andric nich eine andere, höchst sonderbare Frauenfigur geschaffen. Sie muss sich permanent in die Angelegenheiten anderer einmischen, vordergründig nur um ihnen zu helfen. Doch es geht ihr nur um sich selber. Damit verschafft sie sich Aufmerksamkeit. Und im Nachhinein lässt sie die Leute wieder hängen oder, wie im Falle von Rajka, verleumdet sie. Eine furchtbare Frau!

Und dann mit Ratko taucht eine Figur auf, die beim Fräulein mehr als Interesse erweckt. Zuerst ist es die Ähnlichkeit mit ihrem Geliebten Vlado. Doch dann vergisst sie all ihre Prinzipien.
Und natürlich erweist sich dieser Mann als Betrüger.
Nach einem Zusammenbruch in den Armen ihrer Mutter schließt das Fräulein mit dem Ereignis ab.
Sie versteinert nun vollkommen.
“ Eigentlich war es kein Leben, sondern ein Sparen.“
Was für ein sinnloses Leben…
 

RuLeka

Bekanntes Mitglied
30. Januar 2018
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Die intensivste Szene war wohl, wie die Mutter die erwachsene Rajka auf den Schoß nimmt, die ob des Betrugs wieder zum Kind wird.
Eine der wenigen emotionalen Szenen im Roman.
Das war für mich tatsächlich gar nicht so eine große Überraschung, da ich irgendeine Art von Bewegung innerhalb der Figur noch erwartet habe.
Ich hoffte auch auf ein Ereignis, das das Fräulein von ihren Prinzipien abbringt. Etwas Dramatik musste noch in die Geschichte.

Das Ende fand ich sehr schlüssig. Wobei ich da keinerlei Trauer empfand. Für mich war sie schon lange nicht lebendig. Ihr dusteres Haus wie ein Sarg.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Hoppla! Jetzt hat mich der Autor doch nochmal richtig überrascht. Mit Jovanka und Ratko treten zwei neue, auf ihre Art interessante Figuren auf. Im Grunde hat es mich gewundert, dass das Fräulein seinen Reichtum so still, leise und unangefochten hat zusammenrotten können, denn in jenen Zeiten gab es viel Armut. Wo viel Armut herrscht, entwickeln sich meist auch kriminelle Energien... Ratko ist zwar nicht arm, aber verschlagen. Er nutzt seine Attraktivität und wickelt Rajka um den Finger. Das wird für uns nachvollziehbar durch seine Ähnlichkeit mit ihrem geliebten Onkel Vlado. Irgendeine Brücke musste der Autor hier bauen und ich finde, dass sie trägt. Zum ersten Mal empfindet Rajka positive Gefühle, weil sie jemandem hilft.

Was Jovanka betrifft, habe ich sie erst als Gegenentwurf zum Fräulein gesehen: Eine bescheidene, selbstlose Frau, deren Lebensinhalt es ist, anderen zu helfen... Was könnte Rajka alles Gutes mit ihrem Vermögen stiften?!
Schon schnell wird ihre schlangenhafte Art jedoch klar ausformuliert: Erstens nähert sie sich für gewöhnlich nur schwachen (erfolglosen, gescheiterten) Menschen. Wenn sich deren Lage bessert, verfolgt sie sie wie eine böse, beleidigte Fee. 186
Genau das können wir hier beobachten. Bezeichnend auch dieser Satz:
Aber bessere Aussicht auf Rettung hat ein Mensch, auf den im Gebirge eine Lawine niedergeht, als der, auf den sich die heftige Sympathie uns Beschützerwut Jovankas stürzt. 191
Jovanka setzt sich ebenso hartnäckig dafür ein, das Fräulein von der Schuld Ratkos zu überzeugen wie zuvor vom Gegenteil. Die Szenen, die die beiden aus dem Verborgenen beobachten, sprechen für sich und sind glaubwürdig für die Zeit. Tiefpunkt ist die Erwähnung der "alten Schachtel" selbst. Allerdings bekommt der (Heimat-)Dichter in dieser Gesellschaft keinen Applaus wie damals der Kollege im Hause ihrer Verwandten - bestimmt hat das eine Bedeutung.

Tief gedemütigt schleppt sich das Fräulein nach Hause. Schmach, Verrat und Schande dominieren ihre Gefühlswelt. In Stunden der Schwäche reagiert ihr Körper mit Blindheit. War es nicht das Augenlicht, das sie hergeben wollte, wenn sie nur die Million erreichte? Dass sie es als imaginären Einsatz anbot, weiß ich sicher, aber nicht mehr genau, wofür.
Berührend die Fürsorge ihrer alten Mutter. Mutter bleibt man ein ganzes Leben lang. Bitter, dass Rajka ihr diese Liebe in der Todesstunde nicht zurückgeben kann. Der Vergleich vom zweiten oder falschen Herz, das in ihrer Brust schlägt, ist natürlich unglaublich doppeldeutig. Der Herzfehler, hat das Fräulein verhärten lassen und die Seele angesteckt, könnte man meinen.

Nach dem Tod der einzigen Bezugsperson fühlt sich Rajka "frei und allein". Sie "räumt auf" und fokussiert sich erneut auf ihr Lebensziel. Zehn Jahre hat sie noch zu leben, am Ende inmitten ihrer zusammengeklaubten Reichtümer. Der Todeskampf wird wieder genial beschrieben.

Ich bin froh, dass der letzte LA neben aller Atmosphäre auch eine flotte Handlungsebene vorweisen kann. Dadurch klappe ich das Buch doch hochzufrieden zu und kann über manche empfundene Länge im Mittelteil hinwegsehen.
 

Literaturhexle

Moderator
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2. April 2017
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Nicht nur wegen ihres krankhaften Helfersyndroms, sonder vor allem wegen ihrer anschließenden Hinterhältigkeit.
Interessant fand ich in dem Zusammenhang, dass die Figur schon bei ihrer Einführung in dieser Bandbreite vorgestellt wurde. Man wusste immer, woran man mit Jovanka war. Ihre Hartnäckigkeit, Beweise für Ratkos Schuld zu finden, hat mir trotzdem imponiert. Sie hat sich über ihre eigene Naivität maßlos geärgert.
Zuvor noch hat der Autor einen kurzen Blick in die Goldenen Zwanziger im Kabarett/Tanzlokal geworfen.
Da sieht man den immensen Kontrast zwischen Rajkas Dasein und der normalen Gesellschaft, die sich nach dem Krieg wieder berappelt hat.
Dabei dachte man doch die ganze Zeit, sie habe keins.
Diese Doppeldeutigkeit liegt zwar sehr offensichtlich auf der Hand, hat mir aber auch sehr gut gefallen!
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Der Vergleich vom zweiten oder falschen Herz, das in ihrer Brust schlägt, ist natürlich unglaublich doppeldeutig. Der Herzfehler, hat das Fräulein verhärten lassen und die Seele angesteckt, könnte man meinen.
Ihr einen Herzfehler zuzuschreiben, ist sehr klug gewählt. Der Herzfehler ist das verhärtete Herz.
 

dracoma

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16. September 2022
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Interessant fand ich in dem Zusammenhang, dass die Figur schon bei ihrer Einführung in dieser Bandbreite vorgestellt wurde.

Mich hat das gestört, ich hätte das gerne selber entdeckt!
Jovanka geht es offensichtlich nur darum, Macht über andere Menschen auszuüben und ihre eigene Wichtigkeit zu steigern.

Allerdings bekommt der (Heimat-)Dichter in dieser Gesellschaft keinen Applaus wie damals der Kollege im Hause ihrer Verwandten
Gut, dass Du das sagst; ich hätte es übersehen.
Die ersten beiden Dichter im Haus des Onkels waren nationale Kämpfer, und das kam in der Zeit gut an. Auch wenn sie den ersehnten Nationalstaat mit einer sozialen Revolution verbinden.
Der aktuelle Dichter besingt das Wachstum der Stadt, und das interessiert keinen als Gedicht, das sehen sie ja selber und verdienen daran. Ich glaube, sie wollen nach den Kriegsjahren lieber trinken, lustig sein und das Leben genießen als schon wieder nationalstolz zu sein!

Übrigens ist da noch das "Gedicht" Carmencitas, dem alle gerne lauschen ;)!

Mutter bleibt man ein ganzes Leben lang.
Wie wahr.

Andric malt hier ein schönes Bild: das Bild einer Pieta. Aber es hat mich gestört, dass er uns das sagt.

Und da ich heute meinen nöligen Tag habe, nöle ich gleich weiter.
Das Cover passt einfach nicht. Da schaut mich eine gepflegte junge Frau an: ihre Nägel sind manikürt, die blonden Haare onduliert, die Augenbrauen schmal in Form gezupft, die Lippen geschminkt, und dazu ein farbiges Kleid - das passt nicht zu dem Bild, das Andric von Rajka malt.
 

dracoma

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16. September 2022
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konnte nur durch starke Emotionen, das Verliebtsein, geweckt werden. Sie wird zur naiven Jugendlichen,
Ich hatte den Eindruck, dass sie sich selber nicht mehr versteht und nicht erkennt, was mit ihr passiert.
Eine kurze Szene in dem Tanzlokal fand ich bezeichnend: Ratko übersät den Unterarm der Carmencita mit Küssen. Diese Konfrontation mit unverhüllter Erotik gibt dem Fräulein den Rest: "in diesem Augenbklick verschwamm ... der ganze Raum" (S. 224).
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Das Cover passt einfach nicht. Da schaut mich eine gepflegte junge Frau an: ihre Nägel sind manikürt, die blonden Haare onduliert, die Augenbrauen schmal in Form gezupft, die Lippen geschminkt, und dazu ein farbiges Kleid - das passt nicht zu dem Bild, das Andric von Rajka malt.
Das hat mich ebenfalls gestört. Das Cover ist ein Hingucker, mich hat es sofort angesprochen. Aber es entspricht überhaupt nicht dem Bild, das ich mir während des Lesens von dem Fräulein gemacht habe.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Was ist eine 'pieta'?
Die Pietà ist einfach eine Bezeichnung für die Darstellung von Maria Mutter Gottes mit dem nach unten, in ihren Armen hängenden Jesus als erwachsener Mann. Die berühmteste Pietà ist die Skulptur von Michelangelo, aber das Motiv kommt in veränderter Form immer, immer wieder in der Kunst vor. Tatsächlich bin ich da bei @dracoma, ich hätte die zusätzlich Benennung im Buch nicht benötigt, um das Motiv wiederzuerkennen allein aufgrund der Beschreibung der Szenerie, trotzdem hat es mich grundsätzlich erst einmal beim Lesen nicht gestört, dass Andric das extra erwähnt.
Ich habe ja ein anderes Cover, aus dem ein stark stilisierter Frauenkopf mit kohlschwarzem Haar herausschaut wie eine Ikone.
Hast du davon mal ein Foto? Es würde mich tatsächlich interessieren, wie unterschiedlich die Verlage das Fräulein darstellen auf ihrem Cover.
Mich hat das Cover angesprochen und danach habe ich mir aber keine weiteren Gedanken dazu gemacht, ob das Fräulein nun anders aussehen müsste oder nicht. Ich kann mir sie gut als 15jährige vorstellen und das ist okay für mich. Da gab es schon unpassendere Cover, ich sage nur:

(Mir wäre das damals gar nicht aufgefallen, dass es diese Vögel nur in Südamerika und nicht in Afrika gibt... zum Glück gibt es das Forum ;) Nach dem Hinweis stört es mich aber sehr, vor allem da es in der Reihe "afrika bewegt" erschienen ist und man damit eigentlich dem Verlag etwas mehr Sachverstand zuspechen möchte.)
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Hast du davon mal ein Foto? Es würde mich tatsächlich interessieren, wie unterschiedlich die Verlage das Fräulein darstellen auf ihrem Cover.
Ich habe die Ausgabe in diesem Bild:
Das Fräulein

(Link führt zur HP des Antiquariats Mohr)

Das Buch enthält neben dem Roman noch drei Erzählungen.
 

dracoma

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16. September 2022
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Die Pietà ist einfach eine Bezeichnung für die Darstellung von Maria Mutter Gottes mit dem nach unten, in ihren Armen hängenden Jesus als erwachsener Mann.
Darf ich das bisschen ergänzen - es ist der tote Jesus, der gerade vom Kreuz abgenommen wurde, den Maria in ihrem Schoß birgt (soll auch an die Geburt erinnern...), also es ist der gequälte, hingerichtete Jesus.
Ich will nicht besserwisserisch sein, aber das gibt dieser Szene meinem Eindruck nach noch eine zusätzliche Bedeutung: auch das Fräulein ist gequält und "hingerichtet".