3. Leseabschnitt: Kapitel Acht bis Dreizehn (S. 117 bis 187)

Die Häsin

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Ich habe noch nie ein Buch über ein prekäres Milieu gelesen, das die Zustände mit dieser Art freundlich-zugewandter Aufmerksamkeit beschreibt, wie dieses. Deshalb kann es wohl nicht anders sein, als dass der Autor sich genau auskennt. Emile Zola zum Beispiel war es bekanntlich ein Anliegen, Milieuromane zu schreiben, und er hat vorher jedes Mal umfangreiche Studien getrieben (ich habe einen Riesenband zu Hause, in dem es ausschließlich um seine Recherchen, Notizen usw. geht), aber man merkt sehr deutlich - soweit ich das aus der nicht nur räumlichen, sondern auch zeitlichen Entfernung beurteilen kann -, dass er quasi als Tourist unterwegs war. Das gleiche gilt für so gut wie alle Milieu-Literatur, die ich kenne. Mit Douglas Stuarts Präzision würde ich allenfalls Martin Andersen Nexö vergleichen ("Ditte Menschenkind"). Dabei geht es mir weniger um das "Was" - wie es wirklich dort zugeht, kann ich ja nicht wissen - sondern um das "Wie". Er schreibt weder gehässig, noch herablassend, noch distanzlos. Ich finde ehrlich gesagt nicht den richtigen Ausdruck, um es zu beschreiben ... möchte nicht von "Zärtlichkeit" sprechen, aber das trifft es tatsächlich am ehesten ...
 

Literaturhexle

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Ich habe noch nie ein Buch über ein prekäres Milieu gelesen, das die Zustände mit dieser Art freundlich-zugewandter Aufmerksamkeit beschreibt, wie dieses. Deshalb kann es wohl nicht anders sein, als dass der Autor sich genau auskennt. Emile Zola zum Beispiel war es bekanntlich ein Anliegen, Milieuromane zu schreiben, und er hat vorher jedes Mal umfangreiche Studien getrieben (ich habe einen Riesenband zu Hause, in dem es ausschließlich um seine Recherchen, Notizen usw. geht), aber man merkt sehr deutlich - soweit ich das aus der nicht nur räumlichen, sondern auch zeitlichen Entfernung beurteilen kann -, dass er quasi als Tourist unterwegs war. Das gleiche gilt für so gut wie alle Milieu-Literatur, die ich kenne. Mit Douglas Stuarts Präzision würde ich allenfalls Martin Andersen Nexö vergleichen ("Ditte Menschenkind"). Dabei geht es mir weniger um das "Was" - wie es wirklich dort zugeht, kann ich ja nicht wissen - sondern um das "Wie". Er schreibt weder gehässig, noch herablassend, noch distanzlos. Ich finde ehrlich gesagt nicht den richtigen Ausdruck, um es zu beschreiben ... möchte nicht von "Zärtlichkeit" sprechen, aber das trifft es tatsächlich am ehesten ...
Ein sehr zutreffendes Plädoyer.
Ich denke, es kommt genau heraus, was du meinst.
In letzter Zeit kamen ja einige Romane raus, die angeblich authentisch sein sollen. Spontan fallen mir ein:

Buchinformationen und Rezensionen zu Ein Mann seiner Klasse von Christian Baron
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Helmut Pöll

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Er kann ihr das alles sagen, weil er Ähnliches erlebt hat. Ich fand, das war eine der stärksten Stellen. Er hat recht: Wenn sie ihr Leben ohne Shug in Griff bekäme, wäre er der Verlierer.
Das stimmt. Er sagt ja, dass er auch mal in ihrer Situation war. Und Agnes Mantel hat ihn daran erinnert, dass er den Mantel seiner Mutter versetzt hat, um Alkhohol zu kaufen. Es muss gar nicht zwingend sein, dass ein anderer Agnes ähnlich wahrnimmt. Die kleinen Signale wie die Art und Weise, wie sie zittert, nehmen wohl nur Eingeweihte wahr.
 

Helmut Pöll

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In letzter Zeit kamen ja einige Romane raus, die angeblich authentisch sein sollen.
"Ein Mann seiner Klasse" ist tatsächlich ein harte Geschichte. Aber Shuggie legt nochmal eine Schippe drauf, weil es da gar keine Perspektive gibt. Bei Baron gibt es wenigstens eine Tante, die weiter hilft.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Die kleinen Signale wie die Art und Weise, wie sie zittert, nehmen wohl nur Eingeweihte wahr.
Ich kann mir hier folgende Anekdote nicht verkneifen: Ich habe eine Bekannte, die lange Zeit ehrenamtlich bei einer Beratungsstelle für Alkoholiker gearbeitet hat. Die ist überzeugt, Alkoholiker sicher erkennen zu können (auch, wenn sie aktuell nicht betrunken sind). Von einem sehr hochrangigen Politiker zum Beispiel sagt sie jedes Mal, wenn das Gespräch auf ihn kommt: "der trinkt jeden Tag mindestens eine Flasche Wein, das sehe ich."
(Ich habe dann immer Angst, dass sie mich anguckt und sagt: "Du etwa auch ...?")
 

RuLeka

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Aus Frankreich kenne ich

Buchinformationen und Rezensionen zu Das Ende von Eddy: Roman von Édouard Louis
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auch eine heftige Geschichte, die die authentische Geschichte des Autors erzählt. Auch hier haben wir einen schwulen, sensiblen Jungen aus dem französischen Prekariat.
 

ulrikerabe

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Sehr schön gesagt. Das trifft es für mich gut. Große Literatur beschäftigt sich mit beschädigten Figuren;)
Ich muss jetzt stark an Joey Goebels Vincent denken. Da ging es in der Diskussion darum, ob Künstler leiden müssen, um Künstler zu sein. Ob nur "beschädigte Figuren", wie du sie nennst, imstande sind, Kunst zu schaffen. Anders gefragt, könnte es diesen Roman geben, ohne der Lebensgeschichte des Autors?
 

Literaturhexle

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Anders gefragt, könnte es diesen Roman geben, ohne der Lebensgeschichte des Autors?
Gewiss nicht in dieser beschriebenen Form. Douglas lässt die ganze unangenehme, peinliche, diskriminierende und vor allen Dingen schmerzhafte Vergangenheit Revue passieren. Diese vielen kleinen Details, die Dialoge zwischen Mutter und Sohn, das kann man nicht erfinden (behaupte ich), das muss man in großen Teilen selbst erlebt haben, sonst würde es sich für den Leser nicht so ehrlich und glaubwürdig anfühlen.
 

Barbara62

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Ich muss jetzt stark an Joey Goebels Vincent denken. Da ging es in der Diskussion darum, ob Künstler leiden müssen, um Künstler zu sein. Ob nur "beschädigte Figuren", wie du sie nennst, imstande sind, Kunst zu schaffen. Anders gefragt, könnte es diesen Roman geben, ohne der Lebensgeschichte des Autors?
Nein. Das kann man sich nicht ausdenken.
 
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Xirxe

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Anders gefragt, könnte es diesen Roman geben, ohne der Lebensgeschichte des Autors?
Unterschätzt nicht die AutorInnen. Es gibt so viele sehr gute Romane, die nichts mit der Biographie der Schreibenden zu haben, aber dennoch völlig überzeugend sind. Beispielsweiseoder
Buchinformationen und Rezensionen zu Der goldene Handschuh von Heinz Strunk
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oder
Buchinformationen und Rezensionen zu Ich bin ein Schicksal von Rachel Kushner
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Ersteres handelt von einem jungen Mann aus der Hooligan-Szene, absolut glaubhaft und grauenvoll. Zweiteres vom Mörder Fritz Honka, Schwerstalkoholiker ebenso wie die Menschen um ihn herum. Und das dritte Buch von einer jungen Frau und Mutter im Gefängnis - alles zerstörte Existenzen ohne Bezug zu ihren 'SchöpferInnen', aber so überzeugend dargestellt, dass man nach dem Lesen glaubt, sie persönlich kennengelernt zu haben.
 

Helmut Pöll

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auch eine heftige Geschichte, die die authentische Geschichte des Autors erzählt. Auch hier haben wir einen schwulen, sensiblen Jungen aus dem französischen Prekariat.
Das Ende von Eddy ist auch ein tolles Buch @RuLeka . Wenn ich mich richtig erinnere hat ein Pariser Verleger die Geschichte zuerst abgelehnt mit dem Hinweis, das sei alles völlig übertrieben, so etwas könne es in Frankreich gar nicht geben.
 

Naibenak

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Schön, dass du auf diese Szenen nochmal hinweist! An ihnen sieht man sehr gut, wie armselig Agnes ihre Mutterrolle ausfüllt. Sie ist völlig egozentriert. Zunehmend kreisen ihre Gedanken ausschließlich um den Alkohol, daneben nimmt sie nichts mehr wahr, geht völlig in der Sucht auf.
Stimmt. Sie ist völlig süchtig und depressiv. Meine Meinung. Und da hast du nur noch Kraft für das eigene Problem. Alles kreist nur darum. Für anderes bleibt überhaupt kein Raum und keine Energie. Es gibt im ersten Abschnitt eine Szene, da heißt es sinngemäß: Agnes nimmt Shuggie auf den Arm, um das Leben zu spüren. Das hat schon so viel gesagt. Sie BRAUCHT Hilfe, "nutzt" ihre Kinder dafür aus schlimmerweise, anders schafft sie es nicht. Es ist einfach nur zum Heulen.
 

Naibenak

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2. August 2021
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ch finde es interessant, dass ihr euch alle so sehr auf Shuggie konzentriert. Ich bin viel mehr bei Leek, er ist für mich die interessantere Figur.
Witzig, mir erging es zu dem Zeitpunkt noch ganz anders. Ich war vollkommen vereinnahmt von Agnes. Sie war für mich die absolut zentrale Figur und hat mich in ihrer Tragik tierisch bewegt und gefesselt. Shuggie und Leek waren eher noch Randfiguren. Später erst gerät Shuggie für mich mehr in den Mittelpunkt.
 

Naibenak

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Er schreibt weder gehässig, noch herablassend, noch distanzlos. Ich finde ehrlich gesagt nicht den richtigen Ausdruck, um es zu beschreiben ... möchte nicht von "Zärtlichkeit" sprechen, aber das trifft es tatsächlich am ehesten ...
Liebe steckt überall zwischen den Zeilen. Und Respekt. Und das macht es für mich auch etwas erträglicher.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Liebe steckt überall zwischen den Zeilen. Und Respekt. Und das macht es für mich auch etwas erträglicher.
Was sehr schön zum Ausdruck kommt - ich stimme dir ausdrücklich zu!, liebe Bi - ist, dass auch Alkoholiker Menschen sind, die geliebt werden können. Die es uns natürlich schon manchmal schwer machen. Aber es sind Menschen, die von der Krankheit entstellt sind. Wer sie "von früher" kennt, der kann darunter den Menschen erkennen, der er einmal gewesen ist oder der er eigentlich sein sollte.
Ich bin mir nicht sicher, aber vllt ist die allgemeine Verachtung, die dem alkoholkranken Menschen entgegenschlägt, so verständlich sie ist, auch eine Sache, die es ihnen so schwer macht, Hilfe zu suchen und dann anzunehmen.