3. Leseabschnitt: Kapitel Acht bis Dreizehn (S. 117 bis 187)

Wandablue

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Sie ist völlig egozentriert. Zunehmend kreisen ihre Gedanken ausschließlich um den Alkohol, daneben nimmt sie nichts mehr wahr, geht völlig in der Sucht auf.
Ist das nicht gerade deshalb eine Krankheit? Man kann gar nicht mehr anders? Ich weiß es nicht, aber Süchte verhindern eben gerade alles andere. In Agnes Umgebung ist die Aussicht auf Hilfe von außen Zero.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Das Buch ist schon große Klasse.
Ich finde seine Qualität ist, dass es Brutalität so quasi nebenher und ganz selbstverständlich erzählt. Ich finde natürlich auch die Zustände fürchterlich, aber das Buch empfinde ich nicht als niederdrückend. Ich bin ein bisschen in der ShuggiePosition. ich gucke und ich nehme hin.

Leek schlägt den Wachmann krankenhausreif und mehr. Invalide. Die Nachbarn nehmen diese Tatsache hin wie man Tatsachen hinnimmt, unabänderlich und ziehen so viel Positives draus as possible. Das ist das Beste für seine Familie. Der Wachmann hätte bald seine Arbeit verloren, aber so bekommen sie weiterhin Geld und können überleben. Schräg. Schwarz. Aber lebensorientiert

Stark die Szene mit den roten Gummistiefeln, für deren Erhalt Leek sein Leben auf Spiel setzt und Shuggie seins um ein Haar verloren hätte. Denn wäre er aus den Schuhen ausgestiegen, hätte er sich aus eigener Kraft noch retten können, aber: die Schuhe sind noch nicht abbezahlt.

Gerade habe ich in der NYTrilogie eine Stelle gelesen, wo der Protagonist sagt, wie erstaunlich sich es anfühlt, wenn er sich zum ersten Mal in seinem Leben keine Gedanken mehr um Miete, Preissteigerungen, etc machen muss.
In Pithead machen sich schon die kleinen Kinder Sorgen ums Geld. Kann auch nicht ausbeiben.

In jedem Kapitel gibt es starke Szenen.
8: Shug verlässt Agnes und schlägt sie zum Abschied zusammen.
9: Agnes wird als Alkoholikerin enttarnt.
10: Shuggie wird (lebensgefährlich) gemobbt
11: Agnes Alkoholsucht wird riesengross, so dass sie bereit ist, ihre letzen Habseligkeiten zu versetzen. Wieder wird sie als Alkoholikerin enttarnt. Der Garagenbesitzer zeigt ihr zum ersten Mal einen Ausweg. Vllt wird sie ihn später ergreifen. Er sagt zu ihr, sie sei noch nicht so weit. Agnes ist noch immer stolz. Hat kein Krankheitsbewusstsein.
12. Catherine will nach Südafrika auswandern. In wenigen Sätzen wird Rassismus auf den Punkt gebracht. Shuggie lernt das neue Heim seines Vaters kennen und die Rollschuhszene ist auch eine Schlüsselszene, nix gibt es ohne Schmerz dazu.
13. Auf der Kohlehalde.
Diese Szene erinnert an die Kinder in ?Indien?, die auf Müllhalden nach Verwertbarem suchen.
Leek sitzt buchstäblich auf den Trümmern seines Lebens.

Einen Roman mit so vielen starken Szenen muss man erst einmal suchen! Man wird ihn nicht so leicht wiederfinden.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Raffiniert ist Agnes schon, sie hat sich eine Invalidenrente erschlichen, die ihr nicht zusteht.
Hat sie dem Zusammenhalt der Bewohner zu verdanken.
Auch das ist sehr modern. Einer der Flüchtlinge (ist leider so) sagt dem anderen, was es auf dem Amt zu holen gibt und wie man es anstellt, es zu bekommen. /Das war wahrscheinlich immer schon so.
Die Beschreibung von Pithead ist das Beste bisher. Kohlebergabbau. Kohlebergabbau-Stopp. Das eine ist Elend, das andere aber auch. Die Nachbarn, die ordinär sind und gemein, sie reden übereinander, aber sie bilden auch eine Gemeinschaft. Schade, dass Agnes sich nicht intergrieren will (Stolz, ich bin was Besseres) und kann (sie wurde demaskiert und damit kommt sie nicht zurecht).
 

Wandablue

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Brandenburg
Der Autor befleißigt sich einer recht metaphorischen Sprache. Ich denke, er will es so. Wie soll man es anders als wörtlich übersetzen? Es ist doch sonnenklar, was gemeint ist: Sie trotten gleichförmig wie jeden Tag nach Hause, mit Ale im Bauch und gekrümmtem Rücken.
Ich habe da nichts auszusetzen, bin allerdings auch nicht halb so fantasievoll wie du, was Alternativen angeht;)
Ich will da noch mal drauf rumhacken. Nicht deinetwegen, sondern allgemein. Das Problem dieser Stelle ist die Zusammensetzung. Eine Routine hat kein Gedächtnis, auch kein Muskelgedächtnis. Und eine Routine ist auch nicht tot, sondern höchstens totgelaufen. (Muskelgedächtnis der Routine). Ich bin einfach darauf getrimmt, so was zu bemerken, das ist wie ein Deutschlehrergen.
 

Literaturhexle

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Du kannst wegen mir da gerne drauf "rumhacken". Du hast ja genau genommen auch nicht Unrecht. Es scheint aber doch so zu sein, dass der Autor es genau so im Englischen formuliert hat. Und auch in England hat eine Routine kein Gedächtnis...
Es ist nicht die Aufgabe eines Übersetzers, unscharfe Sprachbilder geradezurichten. Da wird mir immer allzu leicht auf die Übersetzung geschimpft. Auch Autoren machen Fehler bzw drücken Singe so aus, dass sich die ein oder andere mit Deutschlehrergenen gestört fühlt;)
Ein Übersetzer soll den Text schon im Sinne des Autors übertragen. Finde ich wenigstens.
 

Wandablue

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Brandenburg
Du kannst wegen mir da gerne drauf "rumhacken". Du hast ja genau genommen auch nicht Unrecht. Es scheint aber doch so zu sein, dass der Autor es genau so im Englischen formuliert hat. Und auch in England hat eine Routine kein Gedächtnis...
Es ist nicht die Aufgabe eines Übersetzers, unscharfe Sprachbilder geradezurichten. Da wird mir immer allzu leicht auf die Übersetzung geschimpft. Auch Autoren machen Fehler bzw drücken Singe so aus, dass sich die ein oder andere mit Deutschlehrergenen gestört fühlt;)
Ein Übersetzer soll den Text schon im Sinne des Autors übertragen. Finde ich wenigstens.
das Letzte ist diskussionswürdig. Da scheiden sich die Geister. Fehler muss man nicht stehen lassen, mein ich. Und was in der Fremdsprache geht, geht nicht in der übersetzten Sprache.

Das erste müsste man nachschlagen. Ich habe die engl. Übersetzung leider nur ausgeliehen gehabt. Meine aber, ich müsste da auch im engl. drüber gestolpert sein. Vllt kriege ich sie noch mal oder es hat sie jemand, dann sehen wir nach.
 
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Literaturhexle

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aber das Buch empfinde ich nicht als niederdrückend. Ich bin ein bisschen in der ShuggiePosition. ich gucke und ich nehme hin.
Sehr schön gesagt. Das trifft es für mich gut. Große Literatur beschäftigt sich mit beschädigten Figuren;)
In jedem Kapitel gibt es starke Szenen
Stimmt auch.
Einen Roman mit so vielen starken Szenen muss man erst einmal suchen! Man wird ihn nicht so leicht wiederfinden.
Genau. Und dann auch noch wunderbar geschrieben!
 

Barbara62

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Ich finde es interessant, dass ihr euch alle so sehr auf Shuggie konzentriert. Ich bin viel mehr bei Leek, er ist für mich die interessantere Figur. Ich kann es nicht genau begründen, es ist ein Bauchgefühl. Vielleicht traue ich ihm den Ausstieg am ehesten zu. Aber natürlich ist Shuggie die Titelfigur. Ich spekuliere jetzt mal wild: Wenn der Autor Leek ist und er wirklich einen kleinen Bruder hatte, was ich nicht weiß - arbeitet er dann sein schlechtes Gewissen ab (das er natürlich nicht haben müsste)?

Obwohl ich alle eure Argumente verstehe und diese Fülle von starken Szenen ebenfalls sehe, leide ich doch unter der absoluten Perspektivlosigkeit des Buches. Ich erinnere mich, dass ich vor Jahrzehnten "Die Asche meiner Mutter" abgebrochen habe, von dem damals alle schwärmten. Ich habe das Ordinäre und Aussichtslose damals einfach nicht ertragen. Heute bin ich härter im Nehmen ;).

Wie wäre es mit einer Szene gewesen, wie Leek zu seinem geförderten Ausbildungsplatz kam? Wer hat sich da um ihn gekümmert? Es wäre ein Mini-Lichtblick gewesen. 99% Katastrophe und 1% Silberstreif am Horizont, dann würde ich mich leichter tun.
 
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Ich spekuliere jetzt mal wild: Wenn der Autor Leek ist und er wirklich einen kleinen Bruder hatte, was ich nicht weiß - arbeitet er dann sein schlechtes Gewissen ab (das er natürlich nicht haben müsste)?
Naja, vielleicht ist er beides. Shuggie wird wegen seiner femininen Art gedisst, und das könnte wohl eher eine persönliche Erfahrung des Autors sein, der ja mit einem Mann lebt. Wie der kleine Shuggie "männliches Gehen" übt, das fand ich wirklich zum Heulen .... wie so vieles in diesem Buch ...
 

Wandablue

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ich frage mich folgendes:
-- Ist es nicht besser nichts über die persönlichen Hintergründe eines Autors zu wissen und sein Buch neutral zu beurteilen, ich hätte das lieber nicht gewusst, dass der Autor schwul ist.
-- oder das krasse Gegenteil?
 

Literaturhexle

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Ich finde es interessant, dass ihr euch alle so sehr auf Shuggie konzentriert. Ich bin viel mehr bei Leek, er ist für mich die interessantere Figur.
Ich möchte da nicht werten. Ich finde bislang alle Figuren gut ausgeleuchtet. Leek ist eben der ruhigere, der, der nichts oder wenig sagt und seine eigenen Ziele verfolgt. Shuggie steht aufgrund seines Alters noch in enger Verbindung zu Agnes, der Figur, die bislang im Zentrum steht.
 

Literaturhexle

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Das liste ich mir unter Zitaten. Eins von Literaturhexle.
Nein. Ist nicht von mir. Hat die (studierte) Leiterin eines VHS Literaturkurses gesagt.
- Ist es nicht besser nichts über die persönlichen Hintergründe eines Autors zu
Hier war es kaum zu vermeiden, es zu wissen. Die Kampagne arbeitete damit. Im Allgemeinen möchte ich zunächst das Werk als solches rezipieren. Wenn ich im Nachgang feststelle, dass es biografische Anlehnungen gibt, ist das okay.

Was mich nervt, ist die ständige Spekulation während des Lesens, was nun "echt" und was erfunden ist (findet hier bei uns aber nie statt:D). Das spiegelt sich auch in (minderwertigeren) Rezensionen wider. So wichtig ist mir das nicht.

Meine Aussage gilt ausdrücklich nicht für dieses Buch! Hier wissen wir alle, dass große Teile autobiografisch sind. Das macht es inhaltlich umso bedrückender. Der Autor kennt diese Welt. Deshalb kann er sie so gut beschreiben. Es ist völlig logisch, dass man da eben auch mal über das vermeintlich Biografische spricht.
 
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Barbara62

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ich frage mich folgendes:
-- Ist es nicht besser nichts über die persönlichen Hintergründe eines Autors zu wissen und sein Buch neutral zu beurteilen, ich hätte das lieber nicht gewusst, dass der Autor schwul ist.
-- oder das krasse Gegenteil?
Ich bin gespalten. Bei diesem Buch bin ich froh, dass ich weiß, dass der Autor dieses Milieu aus eigener Anschauung kennt. Ich würde ihm sonst vieles schlicht nicht glauben. Mich interessiert also nicht so sehr, welche Teile genau biografisch sind, sondern ob der Hintergrund stimmt.
 

milkysilvermoon

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Dieser Roman beschäftigt sich wunderbar mit Fiktion/Autofiktion und der Gier der Leser, genau wissen zu wollen, was Biografie und was Fiktion ist.
Wie gesagt: für mich muss das Werk erstmal stimmig sein. Dass Autoren eigenes Erleben verarbeiten, ist völlig logisch.

Wobei Frau Schenk selbst in einem Interview sagt, sie kann die Neugier verstehen und beantwortet Fragen auch, wenn sie nicht zu persönlich oder übergriffig sind.
 
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milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Stimmt. Das scheint aber damals so üblich gewesen zu sein. Die Frauen sind alle zu Hause, kümmern sich um die Kinder und warten auf die von der Arbeit heimkehrenden Männer.

Das ist in einigen sozialen Schichten noch heute üblich. Die Frauen gehen nicht arbeiten, selbst wenn das Geld knapp ist. Ich beobachte das immer wieder, vor allem in Problemvierteln sind die Mütter nicht berufstätig. Frauen ohne höhere Bildung und teils ohne Ausbildung würden eh nicht so viel verdienen. Also bleiben sie oft lieber ganz zu Hause. Zudem wollen etliche Männer nicht, dass ihre Frau arbeiten geht.