3. Leseabschnitt: Kapitel 9 bis 11 (Seite 138 bis 209)

alasca

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13. Juni 2022
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Die Reaktion auf etwas, ist natürlich auch bedingt von dem, was man kennt. Ich weiß es wirklich nicht, aber meinst du nicht, dass Menschen, die sich in derselben Lage befinden, Unterschiedliches daraus machen?
Auf jeden Fall! Manche sind intelligenter als andere, haben mehr Selbstreflektion, klar. Aber wenn Menschen das nicht sind und nicht haben - kann man ihnen das vorwerfen?
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Dazu passt, dass die Brüder nach Roses Tod sich garnicht vorstellen konnten, dass es noch eine andere Rose gab, als die, die sie kannten. Sie kannten sie nicht als Menschen, nur in ihrer Funktion.
Ich finde die Trauer der Brüder sehr nachvollziehbar. Sie sind Menschen und noch dazu Männer ihrer Zeit. Sie kümmerten sich um sich selbst, Sorge und Pflege gehörten nicht zu ihren Aufgaben. Gemessen daran empfinde ich sie als sehr aktiv. Sie haben die Tragweite von Roses Krankheit erst spät realisiert. Allerdings trug Rose ihr Herz auch nicht auf der Zunge. Sie hat ihr sämtliches Leiden geheimgehalten, Haltung bewahrt. Bis zum Schluss, bis ins Krankenhaus hinein wollte sie aufrecht bleiben. Beide Seiten (Herr und Dienerin) stecken in ihren Rollen fest. Mir kommen die Brüder zudem reichlich hölzern vor.
Damit will ich nichts beschönigen oder verteidigen, aber ich bin der Ansicht, dass man Menschen aus ihrem Umfeld heraus beurteilen muss.
Ganz wichtig. Ihr habt Roses Schicksal weiter oben schon bestens zusammengetragen. Man kann kein Aufwallen von ihr erwarten. Sie ist zu oft gedemütigt und enttäuscht worden. Die Klassenschranken waren unglaublich stabil.
Und jetzt plötzlich, wo sie erkrankt ist, sind sie schmerzerfüllt und voller Angst, die einzig liebgewonnene Person zu verlieren? Wirkt irgendwie schon sehr heuchlerisch..
Nein. Das empfinde ich nicht so. Liegt es nicht in der Natur der Menschen, erst dann zu wissen, was man verloren hat, wenn es nicht mehr da ist (oder droht, nicht mehr da zu sein)? Ich empfinde die Brüder als hilflos und überfordert in der Situation. Sie bemühen sich. Stellt euch diese Brüder mal beim Schröpfen vor! Aber sie haben es gemacht. Sie haben auch reflektiert, dass Rose der Mensch ist, der ihnen am liebsten war. Auch traurig. Eigentlich sollte das die Mutter gewesen sein.
Die nächtliche Prostitution kommt doch sehr überraschend und ist befremdlich. Kann ich nicht einordnen.
Da habe ich allerdings auch meine Schwierigkeiten! Solange ich es nicht besser weiß, verbuche ich das unter "Männerphantasien". Rose muss da völlig von der Rolle gewesen sein, sämtliches Selbstvertrauen lag am Boden, sie wollte sich selbst noch degradieren. Allerdings entzückt sie ja das Begehren dieser Männer... Völlig abgefahren.
Mehr oder weniger übernimmt Sulzer diese Passagen. Das ist natürlich legitim, aber was ist denn eigentlich seine eigene schriftstellerische Leistung dabei, wenn die Frage, woher die Brüder ihr Wissen geschöpft haben, nicht gestellt wird?
Alasca erwähnte, dass wir über die Quellenlage noch etwas erfahren. Aber es sieht schon so aus, als hätte Sulzer diesen Roman aus den Tagebüchern und dem Roman "Germaine" (so ähnlich;)) zusammengeschrieben. Kann man ihm das vorwerfen? Ja, irgendwie schon. Allerdings sind mir beide Quellen nicht bekannt, weshalb meine Lesefreude nicht geschmälert wird.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Hinzu kommt natürlich auch Jules´Krankheit. Ich kann durchaus nachvollziehen, dass die Brüder die unheilbare Krankheit von Rose als Spiegelbild dessen sehen, was Jules (in Kürze?) erwarten wird. Wer selbst eine todbringende Krankheit in sich trägt, mag sich nicht mit den entsprechenden Leiden anderer Leute befassen. Ich empfinde das als menschlich, auch wenn es von außen als herzlos erscheinen mag. Man wird es verdrängen müssen, um nicht permanent depressiv zu sein. Jules ist ja noch in der Blüte seiner Jahre und keineswegs lebenssatt.

Mir gefällt noch immer der Stil des Buches sehr. Sulzer (oder die Goncourts - wir wissen es nicht) findet sehr schöne Bilder für bestimmte Situationen, die man erst einmal wirken lassen muss. Beispiele:
Sie trieb in der Mitte des Wassers und wurde immer schneller Richtung Meer geschwemmt, dessen Mündung ihre Leiche bald erreicht haben würde. Weder Alexandre noch Gott meinten es gut mit ihr. 169
In diesem Satz wird Roses ganze Tragik beschrieben, der unsägliche Strudel, in den sie geraten ist.
Die wunderbare Beschreibung des Wesens der Natur. S. 185/86
Wie sich Rose als Mensch auflöst und immer weniger wahrgenommen wird. Wie die Welt die Farbe in den Augen der Brüder verliert. Und vieles andere, manches von euch schon erwähnt. Das sind die Szenen, die mich sehr gefangen nehmen.
Das ganze Drama um Rose sehe ich tatsächlich ähnlich wie Wanda und die Häsin mit gemischten Gefühlen. Da erscheint mir manches sehr fiktional und in Folge überzogen. Insbesondere die Prostitution, das Geldleihen für einen Tunichtgut und das Stalking, das in den Tod führt. Wird da nicht auch die Blödheit einer Frau als Rollenbild auf die Spitze getrieben?

So schlecht kann es ihr bei den Brüdern auch nicht ergangen sein, wenn sie das Geld für eine komplette Werkstatt samt Inventar hat sparen können. Wie dumm muss man sein, das alles aus der Hand zu geben für ein Pflänzchen Hoffnung? Ihr habt es schon beantwortet: Tragische Figur!
 

Wandablue

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Wird da nicht auch die Blödheit einer Frau als Rollenbild auf die Spitze getrieben?
Ahhhhh. Geeenau. Der männliche Ausnutzer, die sich zur Ausbeutung selbst anbietende Frau - ... zu stereotyp. Wer weiß schon, was davon erfunden und was wahr ist. Die Brüder haben hier auch einen ROMAN geschrieben und nicht ihr Tagebuch, in dem sie sich der Wahrheit verpflichtet fühlten - annähernd. Und sie haben in den Roman nicht nur das Abbild einer armen Dienstmagd eingeschrieben, sondern sich auch dünkelhaft über sie erhoben, also ihre Meinung darüber hineingeschrieben. Diesen Standesdünkel hat schon jemand erwähnt, Lesehorizont vllt. (Danke). Von dem Standesdünkel können sie sich nicht verabschieden.
 
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Wandablue

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18. September 2019
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wiki schreibt: "Germinie Lacerteux (1865), die Geschichte eines Dienstmädchens, das quasi idealtypisch alles Gute und Böse erlebt, das einem Dienstmädchen widerfahren kann;"
Also sehe das nicht nur ich so, dass Rose mehr ein Typ ist als eine authentische Person. Das schmälert nicht den Verdienst der Brüder, dass sie sich literatisch mit dem Alltag und dem Leben der unteren Schichten beschäftigten.
 

Die Häsin

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wiki schreibt: "Germinie Lacerteux (1865), die Geschichte eines Dienstmädchens, das quasi idealtypisch alles Gute und Böse erlebt, das einem Dienstmädchen widerfahren kann;"
Also sehe das nicht nur ich so, dass Rose mehr ein Typ ist als eine authentische Person. Das schmälert nicht den Verdienst der Brüder, dass sie sich literatisch mit dem Alltag und dem Leben der unteren Schichten beschäftigten.
Aber gerade dann ist es doch ein wenig unfair, dass Sulzer nun so tut, als sei das alles tatsächlich einer einzigen Person passiert.
Auch wenn es ein historischer Roman ist. Wie gesagt, es wirft m.E. ein schiefes Licht auf den Schaffensprozess.
Ich wollte, ich hätte Zugang zu den Tagebüchern, aber das ist wohl schwierig, wenn man kein Französisch kann und auch nur an bestimmten Abschnitten interessiert ist - ich mag mir jedenfalls deshalb nicht den ganzen Klotz zulegen, selbst wenn man das alles irgendwoher auf Deutsch bekäme.
 

Wandablue

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Aber gerade dann ist es doch ein wenig unfair, dass Sulzer nun so tut, als sei das alles tatsächlich einer einzigen Person passiert.
Auch wenn es ein historischer Roman ist. Wie gesagt, es wirft m.E. ein schiefes Licht auf den Schaffensprozess.
Ich wollte, ich hätte Zugang zu den Tagebüchern, aber das ist wohl schwierig, wenn man kein Französisch kann und auch nur an bestimmten Abschnitten interessiert ist - ich mag mir jedenfalls deshalb nicht den ganzen Klotz zulegen, selbst wenn man das alles irgendwoher auf Deutsch bekäme.
Deswegen muss man doch nicht diese ollen Tagebücher lesen, die von Nichtsnutzen geschrieben wurden, die nix getan und geleistet haben. Na ja, fast nix. Schreiben ist nicht nichts.
Es ist legitim, Romane zu gestalten wie man will, es ist ja keine Biografie. Aber ein Hinweis darauf, wäre recht und billig gewesen. wenn wir dich nicht gehabt hätten, hätten wir nicht gewusst, dass quasi ganze Passagen (nur leicht verändert) übernommen wurden. Ich finde das ja ok, eine Erwähnung hätte sich aber gehört. Das gibt bei mir auf jeden Fall einen Stern Abzug.
 

RuLeka

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Da habe ich allerdings auch meine Schwierigkeiten! Solange ich es nicht besser weiß, verbuche ich das unter "Männerphantasien
Erscheint mir trotzdem glaubwürdig. Rose sehnt sich nach Nähe und anders bekommt sie keine. Sex ist für sie möglicherweise wie der Alkohol eine Möglichkeit, dem Alltag zu entfliehen.
Alasca erwähnte, dass wir über die Quellenlage noch etwas erfahren. Aber es sieht schon so aus, als hätte Sulzer diesen Roman aus den Tagebüchern und dem Roman "Germaine" (so ähnlich;)) zusammengeschrieben.
Die Tagebücher sind insgesamt 11 Bände, hier das Wesentliche herauszufiltern ist an sich schon eine Leistung. Den Roman „ Germaine“ kennt heute im Grunde niemand mehr ( außer einer ). Natürlich muss sich Sulzer auf diese Quellen stützen, aber ich glaube nicht, dass er ganze Passagen einfach abgeschrieben hat.
Wie viel von der Figur Rose fiktional ist, interessiert mich nur kaum. Für mich ist sie eine typische Vertreterin ihres Standes: einfach, ungebildet, kein Selbstbewusstsein, dazu nicht hübsch .Mir erscheint sie als Figur glaubhaft. Die Frauen damals waren ja nicht per se blöd, sondern wurden dumm und rechtlos gehalten.
 

RuLeka

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hätten wir nicht gewusst, dass quasi ganze Passagen (nur leicht verändert) übernommen wurden. Ich finde das ja ok, eine Erwähnung hätte sich aber gehört. Das gibt bei mir auf jeden Fall einen Stern Abzug.
Man weiß, spätestens wenn man die Brüder Goncourt googelt, dass die beiden exzessiv Tagebuch geführt haben. Da ist doch klar, dass sich jeder Biograph auf diese stützt.
 

Die Häsin

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Deswegen muss man doch nicht diese ollen Tagebücher lesen, die von Nichtsnutzen geschrieben wurden, die nix getan und geleistet haben. Na ja, fast nix. Schreiben ist nicht nichts.
Es ist legitim, Romane zu gestalten wie man will, es ist ja keine Biografie. Aber ein Hinweis darauf, wäre recht und billig gewesen. wenn wir dich nicht gehabt hätten, hätten wir nicht gewusst, dass quasi ganze Passagen (nur leicht verändert) übernommen wurden. Ich finde das ja ok, eine Erwähnung hätte sich aber gehört. Das gibt bei mir auf jeden Fall einen Stern Abzug.
"Nur leicht veärndert" kann man nicht sagen. Sulzer ist viel direkter in der Sprache, wo die Brüder, mit Rücksicht auf den damaligen Zeitgeist, sich verblümter ausdrücken mussten. Was Sulzer übernommen hat, sind die Inhalte, und zwar bis in die Einzelheiten hinein (zb Gautruches Fertigkeiten als Schildermaler ...).

Da man den Germinie-Roman nicht als bekannt voraussetzen kann, will ich gegen diese Nacherzählung nichts einwenden, aber hier wäre es Sulzers Aufgabe gewesen deutlich zu machen, was Rose zugestoßen ist und was die Brüder evtl. dazu erfunden haben. Ich finde das "irgendwie" ein bisschen windig, so zu verfahren, weiß aber noch nicht, ob und wie ich es in meine Bewertung einfließen lassen soll. Bin offen für Gegenargumente. :think
 
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"Nur leicht veärndert" kann man nicht sagen. Sulzer ist viel direkter in der Sprache, wo die Brüder, mit Rücksicht auf den damaligen Zeitgeist, sich verblümter ausdrücken mussten. Was Sulzer übernommen hat, sind die Inhalte, und zwar bis in die Einzelheiten hinein (zb Gautruches Fertigkeiten als Schildermaler ...).

Da man den Germinie-Roman nicht als bekannt voraussetzen kann, will ich gegen diese Nacherzählung nichts einwenden, aber hier wäre es Sulzers Aufgabe gewesen deutlich zu machen, was Rose zugestoßen ist und was die Brüder evtl. dazu erfunden haben. Ich finde das "irgendwie" ein bisschen windig, so zu verfahren, weiß aber noch nicht, ob und wie ich es in meine Bewertung einfließen lassen soll. Bin offen für Gegenargumente. :think
Die Sätze, die du zitiert hattest, waren extrem ähnlich.
 
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RuLeka

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Was Sulzer übernommen hat, sind die Inhalte, und zwar bis in die Einzelheiten hinein (zb Gautruches Fertigkeiten als Schildermaler ...).
Na also! Nicht wörtlich, außer in den kursiv gesetzten Zeilen, aber inhaltlich natürlich.
Außerdem ist „ Doppelleben“ ein Roman, keine wissenschaftliche Arbeit.
 

Die Häsin

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Ich habe mich für diese Runde angemeldet, weil ich Germinie kenne - und noch zwei andere Romane von Edmond, von denen ich einen noch hier vorstellen werde. Mich interessierte vor allem, wie man sich das gemeinsame Schaffen vorzustellen hat. Da ich Schreiben als einsame Tätigkeit kenne (das geht wohl den meisten so), finde ich es immer faszinierend, Einblick in eine Werkstatt zu bekommen, in denen zwei Leute gemeinsam erzählende Prosa schaffen.

Später mehr (ich werde im Fazit noch was dazu schreiben), muss gerade weg ...