3. Leseabschnitt: Kapitel 9 bis 11 (Seite 138 bis 209)

alasca

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13. Juni 2022
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Ein weiterer Besuch bei der Gräfin, die die Berufskrankheiten der frühen Industriearbeiter für Fiktion hält. Was für ein hohles Leben die beiden doch führen. Finanziell unabhängig, ja. Aber ansonsten würde ich ihr Leben nicht führen wollen. Völlig sinnentleert.

Jules´ weiterer Verfall.

Dann wieder Rose und der herzzerreißende Tod von Louisette. An einem Mückenstich!
Zu allem Überfluss rutscht Rose in den Alkoholismus.
Promiskes Verhalten in der Nacht, nur eine Phase, gottseidank.
Gautruche - toll gezeichnet, dieser Hallodri. Auch er wieder ein Ausbeuter; er versucht es zumindest, aber diesmal beendet Rose das Verhältnis.
Dann der Tod durch Lungenentzündung.

Mir gefällt die Art, wie Sulzer die Gefühle der Goncourts beschreibt, auch die, die unschön sind und die jeder hätte, aber nicht erwähnen würde. Ihre Trauer ist echt, beruht aber auf einer Idealisierung aufgrund von Unwissen.

Es lebe Robert Koch! Ich denke unter der Lektüre ständig, wie gut es doch ist, heute zu leben und zu keiner anderen Zeit. Trotz allem. Nebeneffekt von realistischen historischen Romanen. Qualitätsmerkmal, würde ich fast sagen.

Ich bin SO gespannt auf den nächsten LA!!!
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Das Schicksal von Rose geht mir sehr nahe. Beim Tod des Mädchens kamen mir fast die Tränen. Dieses Kind hätte die Rettung von Rose sein können. Endlich ein menschliches Wesen, auf das sie ihre ganze Liebe hätte richten können. Warum stand nie zur Debatte, dass sie ihr Kind im Haus der Goncourts hätte aufziehen können. Aber, wie es zuvor mal heißt, der Beruf eines Dienstmädchens bedeutete, auf ein eigenes Privatleben zu verzichten.
Dazu passt, dass die Brüder nach Roses Tod sich garnicht vorstellen konnten, dass es noch eine andere Rose gab, als die, die sie kannten. Sie kannten sie nicht als Menschen, nur in ihrer Funktion. ( Im nächsten LA werden sie bestimmt mit Roses Betrug konfrontiert und werden sehr enttäuscht sein. Werden sie Schuldgefühle haben, weil sie nichts von ihren Nöten mitbekommen haben? )
Danach wieder ihre unsägliche Besessenheit von Alexandre, kurz unterbrochen durch die Affäre mit Gautruche. Aber den liebt sie nicht, deshalb fällt es ihr hier leichter, seine Fehler zu sehen und ihre Konsequenzen daraus zu ziehen.
Für Alexandre betrügt und bestiehlt sie ihre Herrschaft, „ deren Desinteresse an allen Gelddingen kam ihr entgegen, sie waren ja Geistesmenschen, die in die Niederungen der Armut höchstens hinabstiegen, um sie zu beschreiben. Ihre Gutgläubigkeit war also eine Bank, auf die sie sich verlassen konnte.“ Wunderbar ausgedrückt!
Rose ist ein verlorenes Geschöpf. Wie traurig, dass sie alles in sich verschließen musste und dass ihre nächste Umgebung davon nichts merkte. Ist es nur die Ignoranz der beiden besser gestellten Brüder oder ist es oft so, dass die Menschen um einem herum nicht spüren, wie es einem geht?
Die Brüder kümmern sich, als Rose krank wird. Natürlich zu spät und zu wenig, aber war das nicht mehr, als viele in der gleichen Position getan hätten? Auch vorher bemerkten sie sehr wohl ihre Stimmungsschwankungen, gingen aber nicht darauf ein. War das noch Diskretion oder schon Desinteresse? Immerhin ist Rose Thema ihrer Gespräche.
Bei der Beantwortung dieser Frage und der Beurteilung ihres Verhaltens muss man berücksichtigen, dass die Geschichte vor über 150 Jahren spielt. Die Klassenschranken waren damals festzementiert, nicht so durchlässig wie heute. Jeder lebte in seiner Blase. Damit will ich nichts beschönigen oder verteidigen, aber ich bin der Ansicht, dass man Menschen aus ihrem Umfeld heraus beurteilen muss.

Bei diesem Kapitel wurde mir die Doppeldeutigkeit des Romantitels so richtig bewusst. Es geht hier nicht nur um das Doppelleben der zwillingsähnlichen Brüder, sondern auch oder mehr um das Doppelleben, das Rose führte und von dem die Brüder nichts ahnten.

Rose verkennt auch noch angesichts des Todes ihre Situation. Was für ein furchtbares Leben, aber bestimmt kein Einzelfall.
Wie @alasca denke ich bei solchen Büchern auch, wie privilegiert unser Leben ist, was für ein Glück, in heutigen Zeiten auf unserem Kontinent geboren zu sein.
 

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29. März 2022
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Mainz
Dieser Abschnitt ist von Tod und verfall dominiert. Mit Jules geht es weiterhin bergab, v.a. aber geht es um Roses trauriges Schicksal. Das hat mich sehr berührt. Erst verliert sie ihr Kind und muss dies verkraften. Immernoch ist sie Alexandre verfallen und verbiegt sich, um das Geld zusammen zu bekommen, dass es bedarf, dass er nicht einbezogen werden muss. Dieser aber nutzt sie nur aus. Rose gibt sich so ziemlich jedem hin, der sie haben will. Wie wertlos sie sich doch fühlen muss...
Dann wird Rose schwer krank. Die Medizin ist noch nicht so weit. Der Arzt trifft wohl eine falsche Diagnose und überhaupt ist es nun zu spät, ihr zu helfen. Sie selbst, will es bis zum Schluss nicht wahrhaben, doch ihr Ende naht.
Hier finde ich das Verhalten der Brüder schon irgendwie sehr befremdlich. Bisher hatten sie doch kein Interesse an Rose gezeigt, nie ANteil genommen. Genau genommen, ist sie ihnen fremd geblieben. Und jetzt plötzlich, wo sie erkrankt ist, sind sie schmerzerfüllt und voller Angst, die einzig liebgewonnene Person zu verlieren? Wirkt irgendwie schon sehr heuchlerisch... Auch dann die Trauer um ighren Verlust später.
Sulzers Stil gefällt mir aber nach wie vor und ich bin nun sehr auf den letzten LA gespannt. Ich nehme an, da geht es dann zum einen um Jules weiteren Verfall, aber auch um die Rose, die sie nie kennengelernt haben. Das dürfte für sie sehr überraschend kommen...
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Hier finde ich das Verhalten der Brüder schon irgendwie sehr befremdlich. Bisher hatten sie doch kein Interesse an Rose gezeigt, nie ANteil genommen. Genau genommen, ist sie ihnen fremd geblieben. Und jetzt plötzlich, wo sie erkrankt ist, sind sie schmerzerfüllt und voller Angst, die einzig liebgewonnene Person zu verlieren? Wirkt irgendwie schon sehr heuchlerisch... Auch dann die Trauer um ighren Verlust später.
Heuchlerisch habe ich das nicht empfunden. Rose ist fester Bestandteil ihres Lebens. Ihr Essen ist furchtbar, ihr Verhalten manchmal sonderbar, aber sie ist da. Nun wird sie krank und plötzlich kümmern sie sich. Denn Rose soll nicht krank sein, auf keinen Fall sterben. Und dann ist sie tot und sie fehlt ihnen. Alles sehr menschlich, meiner Meinung nach.
 

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29. März 2022
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Ihre Trauer ist echt, beruht aber auf einer Idealisierung aufgrund von Unwissen.
Ich glaube auch, dass die trauer echt ist, habe mich jedoch gefragt, wo sie plötzlich denn herkommt? Bisher hatten sie sich für Rose ja nicht besonders interessiert - auch wenn dies wohl den gesellschaftlichen Strukturen damals entspricht. Und jaa, zum Zeitpunkt von Roses Krankheit und Ableben idealisieren sie diese. Da wird sicher bald eine große Ernüchterung an die Stelle der Idealisierung treten...
Dazu passt, dass die Brüder nach Roses Tod sich garnicht vorstellen konnten, dass es noch eine andere Rose gab, als die, die sie kannten. Sie kannten sie nicht als Menschen, nur in ihrer Funktion. ( Im nächsten LA werden sie bestimmt mit Roses Betrug konfrontiert und werden sehr enttäuscht sein. Werden sie Schuldgefühle haben, weil sie nichts von ihren Nöten mitbekommen haben? )
Das finde ich sehr treffend formuliert. Und ich denke auch, es folgt eine große Ernüchterung, wenn sie im nachhinein mehr über Rose und ihr Leben erfahren.
Bei der Beantwortung dieser Frage und der Beurteilung ihres Verhaltens muss man berücksichtigen, dass die Geschichte vor über 150 Jahren spielt. Die Klassenschranken waren damals festzementiert, nicht so durchlässig wie heute. Jeder lebte in seiner Blase. Damit will ich nichts beschönigen oder verteidigen, aber ich bin der Ansicht, dass man Menschen aus ihrem Umfeld heraus beurteilen muss.
Prinzipiell hast Du natürlich Recht. Trotzdem hat mich ihre plötzliche Anteilnahme und Trauer sehr überrascht. Das hätte es dann eigentlich nicht gebraucht, oder. Wirkt auf mich dennoch sehr heuchlerisch.
Wie @alasca denke ich bei solchen Büchern auch, wie privilegiert unser Leben ist, was für ein Glück, in heutigen Zeiten auf unserem Kontinent geboren zu sein.
Ja, das stimmt. Man sieht ja bereits schon bei der Betrachtung kürzerer Zeitspannen, die man selbst erlebt hat, wie gewaltig der medizinische Fortschritt ist. Uns geht es heute im historischen Vergleich wirklich sehr gut.
 

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29. März 2022
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Heuchlerisch habe ich das nicht empfunden. Rose ist fester Bestandteil ihres Lebens. Ihr Essen ist furchtbar, ihr Verhalten manchmal sonderbar, aber sie ist da. Nun wird sie krank und plötzlich kümmern sie sich. Denn Rose soll nicht krank sein, auf keinen Fall sterben. Und dann ist sie tot und sie fehlt ihnen. Alles sehr menschlich, meiner Meinung nach.
Mmh, auf mich wirkt es dennoch leider etwas heuchlerisch, denn zuvor gab es ihrerseits ja nicht das geringste Interesse an Rose. Erst jetzt, wo sie krank wird und ihr Ende naht, nehmen sie sie plötzlich erstmalig war und Keime der Wertschätzung entwickeln sich.
 
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alasca

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13. Juni 2022
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Ist es nur die Ignoranz der beiden besser gestellten Brüder oder ist es oft so, dass die Menschen um einem herum nicht spüren, wie es einem geht?
Ich finde, da sind die Brüder entschuldigt, es ist die menschliche Natur, nicht wahrhaben zu wollen, was vielleicht unangenehm ist oder das eigene Weltbild erschüttern könnte. Ich erlebe es persönlich immer wieder, dass Menschen sich mit der Fassade, die ihnen präsentiert wird, zufrieden geben, obwohl es Anzeichen für Anderes gibt.
Die Brüder kümmern sich, als Rose krank wird. Natürlich zu spät und zu wenig, aber war das nicht mehr, als viele in der gleichen Position getan hätten?
Das war es! Sie erlauben ihr so viel Ausgang, wie sie möchte, sie isst und trinkt in ihrem Haus, was sie möchte und braucht, sie respektieren sie durchaus als eigenständigen Menschen.
Auch vorher bemerkten sie sehr wohl ihre Stimmungsschwankungen, gingen aber nicht darauf ein. War das noch Diskretion oder schon Desinteresse? Immerhin ist Rose Thema ihrer Gespräche.
Es ist die Klassenkluft, die sie limitiert.
Bei der Beantwortung dieser Frage und der Beurteilung ihres Verhaltens muss man berücksichtigen, dass die Geschichte vor über 150 Jahren spielt. Die Klassenschranken waren damals festzementiert, nicht so durchlässig wie heute. Jeder lebte in seiner Blase. Damit will ich nichts beschönigen oder verteidigen, aber ich bin der Ansicht, dass man Menschen aus ihrem Umfeld heraus beurteilen muss.
Genau!
 

alasca

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13. Juni 2022
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Und jetzt plötzlich, wo sie erkrankt ist, sind sie schmerzerfüllt und voller Angst, die einzig liebgewonnene Person zu verlieren?
Ich glaube, sowas passiert andauernd. Ich würde das moralisch nicht verurteilen. Man verliert jemanden - und plötzlich verdeutlich die Lücke, dass der Mensch einem mehr bedeutet hat, als man vorher gewusst hat. Bei Todesfällen haben fast alle Hinterbliebenen mit Reue aufgrund von Unterlassenem zu kämpfen.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Ich glaube, sowas passiert andauernd. Ich würde das moralisch nicht verurteilen. Man verliert jemanden - und plötzlich verdeutlich die Lücke, dass der Mensch einem mehr bedeutet hat, als man vorher gewusst hat. Bei Todesfällen haben fast alle Hinterbliebenen mit Reue aufgrund von Unterlassenem zu kämpfen.
So sehe ich das auch. Lässt sich beobachten bei alten Ehepaaren, die permanent übereinander schimpfen und dann stirbt Einer und die Trauer ist groß und nicht geheuchelt.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
In diesem Abschnitt habe ich alle Sympathie für Rose verloren, die sowie so nicht besonders groß war. Ich frage mich, wo ihr Überlebenstrieb geblieben ist, warum hatte sie keinen? Dieses Stalking geht so weit, dass es sie die Gesundheit kostet. Für das Stalking habe ich Verständnis. Sie will einfach wissen, was Alexandre treibt. Aber bei ihr geht es bis zur Selbstzerstörung.
Die nächtliche Prostitution kommt doch sehr überraschend und ist befremdlich. Kann ich nicht einordnen. Rose hat für mich einen selbstzerstörerischen Drang. Dazu passt, dass sie sich nicht schont als sie krank wird. Dann ist sie auch noch Alkoholikerin.
Ruth hat gefragt, ob es nicht in Frage gekommen wäre, Louisette im Hause Goncourt aufzuziehen, vllt wäre es in Frage gekommen. Es hätte aber vorausgesetzt, dass Rose sich mehr für ihr Kind als für ihren Liebhaber interessiert und es hätte Eigeninitiative verlangt. So wie ich auch fest davon ausgehe, dass es im Haus einen besseren Schlafplatz für sie gegeben hätte.
Bedrückend die lebensfeindlichen Umstände, Russ im Schlafzimmer, Russ in der Küche, Hitze vom Zinndach, etc. etc. Wer sich nie beklagt, kann nie was ändern.
Völlig den Atem verschlägt es mir, als sie Unsummen auftreibt, um den Kerl vom Heeresdienst freizustellen. Hätte sie doch einmal Rückgrat bewiesen und Nein gesagt. Jemand hat mal gesagt, wir seien ungefähr 1o Prozent Umstände und 90 Prozent wie wir darauf reagieren; das ist, glaube ich, ein engl. Sprichwort. Der Prozentsatz ist zu extrem, finde ich, aber es ist was dran.
Rose hatte eine Menge Willenskraft. Hätte sie sie eingesetzt, um etwas für sich zu erreichen, stünde sie anders da.
Der Rest ist dann leider folgerichtig.

Die Brüder. Haben es auch nicht leicht. Ich kriege das chronologisch nicht auf die Reihe. Wann fliehen sie vor dem Lärm? Vor oder nach Roses Abbleben? Jedenfalls gehts auf das Land zu dieser grauenhaften Prinzessin. Sie drängen ihren Besuch geradezu auf. Die Prinzessin ist schlimm, aber andererseits gewährt sie tatsächlich Gastfreundschaft. Die Brüder haben so ein Pech. Als sie das Prinzessinengrundstück nutzen wollen, werden sie quasi vom Glockengeläut "erschlagen". Da würde jeder zur Bestie. Bei ihrem Cousin behagt es ihnen aber auch nicht.
Sie vermissen Rose, weil sie das Bindeglied zu ihrer Mutter ist und weil sie immer da war. Wie ein geräumiger Schrank, den man immer besessen hat, wie ein alter Socken. Sie gehörte eben dazu. Basta.
 

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29. März 2022
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Ich glaube, sowas passiert andauernd. Ich würde das moralisch nicht verurteilen. Man verliert jemanden - und plötzlich verdeutlich die Lücke, dass der Mensch einem mehr bedeutet hat, als man vorher gewusst hat. Bei Todesfällen haben fast alle Hinterbliebenen mit Reue aufgrund von Unterlassenem zu kämpfen.
Das stimmt natürlich. In der Regel geht es aber dann eher um ein "Was hätte ich mehr tun können?" Was mir hier aufstößt ist, dass die Anteilnahme wie aus dem Nichts zu kommen scheint. Aber Ihr habt auch Recht, wenn Ihr darauf hinweist, dass man die Zeit, Standesdenken u.ä. mitbedenken muss.
 
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29. März 2022
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So sehe ich das auch. Lässt sich beobachten bei alten Ehepaaren, die permanent übereinander schimpfen und dann stirbt Einer und die Trauer ist groß und nicht geheuchelt.
Fpr mich ist der Unterschied, dass - im Unterscheid zu den Brüdern - vorher eine Beziehung und Wertschätzung da war. Bei Jules und Edmont hat mich die plötzliche Anteilnahme und Besorgtheit völlig überrascht.
 
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alasca

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13. Juni 2022
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Jemand hat mal gesagt, wir seien ungefähr 1o Prozent Umstände und 90 Prozent wie wir darauf reagieren; das ist, glaube ich, ein engl. Sprichwort. Der Prozentsatz ist zu extrem, finde ich, aber es ist was dran.
Der Prozentsatz stimmt wohl eher umgekehrt. Wieviel Prozent würdest du für den Umstand der Geburt in eine bestimmte Klasse, Familie, in eine bestimmte Zeit veranschlagen?
 
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Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ich bin sehr im Zwiespalt bei diesem LA, speziell bei der Schilderung von Roses Krankheit und Tod.
Wie soll ich das erklären? Der Ablauf entspricht ziemlich genau dem, was in "Germinie Lacerteux" steht. Auf S. 181 heißt es zum Beispiel: "Der beißende Qualm der Braunkohle, mit der sie den Herd unterhielt, bereitete ihr Kopfschmerzen und Brechreiz. (...) Flach zu atmen nützte wenig, sie glaube erwürgt zu werden und hustete fast zum Erbrechen."


In "Germinie Lacerteux", Kapitel 59: "Die Holzkohle, mit der sie Feuer machte, von der ein dünner Faden beißenden Rauches langsam aufstieg, erregte ihr Übelkeit, und der Geruch der Braunkohle (...) verursachte ihr Kopfschmerzen. (...) Halb betäubt wie die Wäscherinnen, die im Qualm der Kohlebecken plätten, stürzte sie ans Fenster und atmete die eisige Luft ein."


Es ist offensichtlich, dass Sulzer die äußeren Umstände von Roses Siechtum aus dem Germinie-Roman entnommen hat. Das gleiche gilt für Roses Gefühlswelt; jene Szenen zum Beispiel, in denen sie im nächtlichen Paris "auf Männerfang" geht und die wirklich nach Wahnsinn klingen. Man kann das, in etwas altertümlicher und betulicher Sprache, aber doch im Prinzip exakt genauso, in "Germinie" nachlesen. Und hier werde ich langsam ungeduldig mit Sulzer und erwarte dringend, dass er endlich dieser grundlegenden Diskrepanz nachforscht: woher wussten die Brüder das? Roses intime Gefühle haben die Goncourts zweifellos imaginiert; selbst wenn sie nach Roses Tod solche Einzelheiten erfahren haben, dann jedenfalls nicht in solcher Genauigkeit, was sie dabei gefühlt hat. Mehr oder weniger übernimmt Sulzer diese Passagen. Das ist natürlich legitim, aber was ist denn eigentlich seine eigene schriftstellerische Leistung dabei, wenn die Frage, woher die Brüder ihr Wissen geschöpft haben, nicht gestellt wird?


Dass Roses Arbeitsplatz eine Zumutung war, mit diesem Ofen, haben sie zweifellos gewusst. Auch, wie Roses Schlafzimmer aussah - mit diesem Zinkblechdach, das den Raum im Sommer zur Sauna machte. All das haben sie ja in "Germinie" beschrieben. Da drängt sich doch die Frage auf, warum haben sie nicht den geringsten Versuch gemacht, da etwas zu verbessern? Und selbst wenn man hier lapidar mit "die Zeiten und Klassenschranken waren eben so" antwortet, warum geht Sulzer dieser Frage in bezug auf die Psychologie der Brüder, dieses "Nicht-sehen-wollen" des Offensichtlichen, nicht nach?
Einfach nur eins zu eins herunterzubeten, was die Brüder später über dieses Elend geschrieben haben, das kann's doch nicht gewesen sein.


Ich will das Buch keineswegs vorverurteilen; nur kundtun, dass ich erwarte, dass da noch etwas kommt.
Anderes fand ich übrigens sehr bewegend, zum Beispiel, wie die Brüder den Sonnenuntergang betrachten und ein blindes Kind an ihrer Seite steht (S. 189): "Sie wussten so wenig, was es dachte, wie sie es von sich selbst wussten, weil das Schauen stärker war als der Gedanke an das, was sie sahen." Das ist die berühmte Achtsamkeit, das "being in the moment", das als Garant für ein geruhsames Glück gelten soll. Aber für jemanden wie die Brüder, die es seit Jahren gewohnt waren, alles, was sie sahen und erlebten, in ihr Tagebuch zu schreiben, ist ein solcher Moment wohl noch schwerer zu finden als für den Normalbürger.
 

alasca

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13. Juni 2022
3.056
9.738
49
Wer sich nie beklagt, kann nie was ändern.
Dafür müsste man glauben, dass man das Recht hat, sich zu beklagen. Du forderst von Rose Dinge ein, für die sie die Ressourcen einfach nicht hat. Intelligenz, Reflektion, Selbstwertgefühl, Intellekt - hat sie alles nicht. Sie ist willensstark, ja. Aber dieser Wille ist völlig ungeformt und fehlgeleitet, wie ein Fluss, der eben nicht durch eine Turbine fließt und Strom erzeugt, sondern der wild daher fließt und alles mit sich reißt.

Bei Rose kommen wir nicht weit mit dem moralischen Ansatz. Für mich ist sie eine durch und durch tragische Figur.
 

alasca

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13. Juni 2022
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Die Brüder. Haben es auch nicht leicht. Ich kriege das chronologisch nicht auf die Reihe. Wann fliehen sie vor dem Lärm? Vor oder nach Roses Abbleben?
Ich glaube, es ist nach Roses Tod.

Bei den Brüdern sehe ich es so, dass sie ihr Leiden hätten beenden können, sie hatten den Intellekt und die Mittel dafür. Warum nicht das Haus verkaufen oder vermieten und woanders hinziehen, wo ihr Ruhebedürfnis gestillt wird?
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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In diesem Abschnitt habe ich alle Sympathie für Rose verloren
Kein Mitleid? Kein Verständnis für schwache Menschen?
Dafür müsste man glauben, dass man das Recht hat, sich zu beklagen. Du forderst von Rose Dinge ein, für die sie die Ressourcen einfach nicht hat. Intelligenz, Reflektion, Selbstwertgefühl, Intellekt - hat sie alles nicht. Sie ist willensstark, ja. Aber dieser Wille ist völlig ungeformt und fehlgeleitet, wie ein Fluss, der eben nicht durch eine Turbine fließt und Strom erzeugt, sondern der wild daher fließt und alles mit sich reißt.

Bei Rose kommen wir nicht weit mit dem moralischen Ansatz. Für mich ist sie eine durch und durch tragische Figur.
Sehr schön, wie Du die Defizite von Rose beschreibst. Mit welchem Recht will man ihr dies alles vorwerfen. Ich sehe sie, genau wie Du, als eine tragische Figur.
 
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RuLeka

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30. Januar 2018
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Ich bin sehr im Zwiespalt bei diesem LA, speziell bei der Schilderung von Roses Krankheit und Tod.
Wie soll ich das erklären? Der Ablauf entspricht ziemlich genau dem, was in "Germinie Lacerteux" steht. Auf S. 181 heißt es zum Beispiel: "Der beißende Qualm der Braunkohle, mit der sie den Herd unterhielt, bereitete ihr Kopfschmerzen und Brechreiz. (...) Flach zu atmen nützte wenig, sie glaube erwürgt zu werden und hustete fast zum Erbrechen."


In "Germinie Lacerteux", Kapitel 59: "Die Holzkohle, mit der sie Feuer machte, von der ein dünner Faden beißenden Rauches langsam aufstieg, erregte ihr Übelkeit, und der Geruch der Braunkohle (...) verursachte ihr Kopfschmerzen. (...) Halb betäubt wie die Wäscherinnen, die im Qualm der Kohlebecken plätten, stürzte sie ans Fenster und atmete die eisige Luft ein."


Es ist offensichtlich, dass Sulzer die äußeren Umstände von Roses Siechtum aus dem Germinie-Roman entnommen hat. Das gleiche gilt für Roses Gefühlswelt; jene Szenen zum Beispiel, in denen sie im nächtlichen Paris "auf Männerfang" geht und die wirklich nach Wahnsinn klingen. Man kann das, in etwas altertümlicher und betulicher Sprache, aber doch im Prinzip exakt genauso, in "Germinie" nachlesen. Und hier werde ich langsam ungeduldig mit Sulzer und erwarte dringend, dass er endlich dieser grundlegenden Diskrepanz nachforscht: woher wussten die Brüder das? Roses intime Gefühle haben die Goncourts zweifellos imaginiert; selbst wenn sie nach Roses Tod solche Einzelheiten erfahren haben, dann jedenfalls nicht in solcher Genauigkeit, was sie dabei gefühlt hat. Mehr oder weniger übernimmt Sulzer diese Passagen. Das ist natürlich legitim, aber was ist denn eigentlich seine eigene schriftstellerische Leistung dabei, wenn die Frage, woher die Brüder ihr Wissen geschöpft haben, nicht gestellt wird?


Dass Roses Arbeitsplatz eine Zumutung war, mit diesem Ofen, haben sie zweifellos gewusst. Auch, wie Roses Schlafzimmer aussah - mit diesem Zinkblechdach, das den Raum im Sommer zur Sauna machte. All das haben sie ja in "Germinie" beschrieben. Da drängt sich doch die Frage auf, warum haben sie nicht den geringsten Versuch gemacht, da etwas zu verbessern? Und selbst wenn man hier lapidar mit "die Zeiten und Klassenschranken waren eben so" antwortet, warum geht Sulzer dieser Frage in bezug auf die Psychologie der Brüder, dieses "Nicht-sehen-wollen" des Offensichtlichen, nicht nach?
Einfach nur eins zu eins herunterzubeten, was die Brüder später über dieses Elend geschrieben haben, das kann's doch nicht gewesen sein.


Ich will das Buch keineswegs vorverurteilen; nur kundtun, dass ich erwarte, dass da noch etwas kommt.
Anderes fand ich übrigens sehr bewegend, zum Beispiel, wie die Brüder den Sonnenuntergang betrachten und ein blindes Kind an ihrer Seite steht (S. 189): "Sie wussten so wenig, was es dachte, wie sie es von sich selbst wussten, weil das Schauen stärker war als der Gedanke an das, was sie sahen." Das ist die berühmte Achtsamkeit, das "being in the moment", das als Garant für ein geruhsames Glück gelten soll. Aber für jemanden wie die Brüder, die es seit Jahren gewohnt waren, alles, was sie sahen und erlebten, in ihr Tagebuch zu schreiben, ist ein solcher Moment wohl noch schwerer zu finden als für den Normalbürger.
Es ist toll, dass Du den Roman der Goncourts kennst. Das gibt Dir ganz andere Beurteilungskriterien für den Roman in die Hand.
Allerdings musste sich Sulzer auf den Roman stützen. Von Rose weiß man ja sonst nichts. Hätte er da was imaginiert, wäre ihm das möglicherweise nur vorgeworfen worden.