Heuchlerisch habe ich das nicht empfunden. Rose ist fester Bestandteil ihres Lebens. Ihr Essen ist furchtbar, ihr Verhalten manchmal sonderbar, aber sie ist da. Nun wird sie krank und plötzlich kümmern sie sich. Denn Rose soll nicht krank sein, auf keinen Fall sterben. Und dann ist sie tot und sie fehlt ihnen. Alles sehr menschlich, meiner Meinung nach.Hier finde ich das Verhalten der Brüder schon irgendwie sehr befremdlich. Bisher hatten sie doch kein Interesse an Rose gezeigt, nie ANteil genommen. Genau genommen, ist sie ihnen fremd geblieben. Und jetzt plötzlich, wo sie erkrankt ist, sind sie schmerzerfüllt und voller Angst, die einzig liebgewonnene Person zu verlieren? Wirkt irgendwie schon sehr heuchlerisch... Auch dann die Trauer um ighren Verlust später.
Ich glaube auch, dass die trauer echt ist, habe mich jedoch gefragt, wo sie plötzlich denn herkommt? Bisher hatten sie sich für Rose ja nicht besonders interessiert - auch wenn dies wohl den gesellschaftlichen Strukturen damals entspricht. Und jaa, zum Zeitpunkt von Roses Krankheit und Ableben idealisieren sie diese. Da wird sicher bald eine große Ernüchterung an die Stelle der Idealisierung treten...Ihre Trauer ist echt, beruht aber auf einer Idealisierung aufgrund von Unwissen.
Das finde ich sehr treffend formuliert. Und ich denke auch, es folgt eine große Ernüchterung, wenn sie im nachhinein mehr über Rose und ihr Leben erfahren.Dazu passt, dass die Brüder nach Roses Tod sich garnicht vorstellen konnten, dass es noch eine andere Rose gab, als die, die sie kannten. Sie kannten sie nicht als Menschen, nur in ihrer Funktion. ( Im nächsten LA werden sie bestimmt mit Roses Betrug konfrontiert und werden sehr enttäuscht sein. Werden sie Schuldgefühle haben, weil sie nichts von ihren Nöten mitbekommen haben? )
Prinzipiell hast Du natürlich Recht. Trotzdem hat mich ihre plötzliche Anteilnahme und Trauer sehr überrascht. Das hätte es dann eigentlich nicht gebraucht, oder. Wirkt auf mich dennoch sehr heuchlerisch.Bei der Beantwortung dieser Frage und der Beurteilung ihres Verhaltens muss man berücksichtigen, dass die Geschichte vor über 150 Jahren spielt. Die Klassenschranken waren damals festzementiert, nicht so durchlässig wie heute. Jeder lebte in seiner Blase. Damit will ich nichts beschönigen oder verteidigen, aber ich bin der Ansicht, dass man Menschen aus ihrem Umfeld heraus beurteilen muss.
Ja, das stimmt. Man sieht ja bereits schon bei der Betrachtung kürzerer Zeitspannen, die man selbst erlebt hat, wie gewaltig der medizinische Fortschritt ist. Uns geht es heute im historischen Vergleich wirklich sehr gut.Wie @alasca denke ich bei solchen Büchern auch, wie privilegiert unser Leben ist, was für ein Glück, in heutigen Zeiten auf unserem Kontinent geboren zu sein.
Mmh, auf mich wirkt es dennoch leider etwas heuchlerisch, denn zuvor gab es ihrerseits ja nicht das geringste Interesse an Rose. Erst jetzt, wo sie krank wird und ihr Ende naht, nehmen sie sie plötzlich erstmalig war und Keime der Wertschätzung entwickeln sich.Heuchlerisch habe ich das nicht empfunden. Rose ist fester Bestandteil ihres Lebens. Ihr Essen ist furchtbar, ihr Verhalten manchmal sonderbar, aber sie ist da. Nun wird sie krank und plötzlich kümmern sie sich. Denn Rose soll nicht krank sein, auf keinen Fall sterben. Und dann ist sie tot und sie fehlt ihnen. Alles sehr menschlich, meiner Meinung nach.
Ich finde, da sind die Brüder entschuldigt, es ist die menschliche Natur, nicht wahrhaben zu wollen, was vielleicht unangenehm ist oder das eigene Weltbild erschüttern könnte. Ich erlebe es persönlich immer wieder, dass Menschen sich mit der Fassade, die ihnen präsentiert wird, zufrieden geben, obwohl es Anzeichen für Anderes gibt.Ist es nur die Ignoranz der beiden besser gestellten Brüder oder ist es oft so, dass die Menschen um einem herum nicht spüren, wie es einem geht?
Das war es! Sie erlauben ihr so viel Ausgang, wie sie möchte, sie isst und trinkt in ihrem Haus, was sie möchte und braucht, sie respektieren sie durchaus als eigenständigen Menschen.Die Brüder kümmern sich, als Rose krank wird. Natürlich zu spät und zu wenig, aber war das nicht mehr, als viele in der gleichen Position getan hätten?
Es ist die Klassenkluft, die sie limitiert.Auch vorher bemerkten sie sehr wohl ihre Stimmungsschwankungen, gingen aber nicht darauf ein. War das noch Diskretion oder schon Desinteresse? Immerhin ist Rose Thema ihrer Gespräche.
Genau!Bei der Beantwortung dieser Frage und der Beurteilung ihres Verhaltens muss man berücksichtigen, dass die Geschichte vor über 150 Jahren spielt. Die Klassenschranken waren damals festzementiert, nicht so durchlässig wie heute. Jeder lebte in seiner Blase. Damit will ich nichts beschönigen oder verteidigen, aber ich bin der Ansicht, dass man Menschen aus ihrem Umfeld heraus beurteilen muss.
Ich glaube, sowas passiert andauernd. Ich würde das moralisch nicht verurteilen. Man verliert jemanden - und plötzlich verdeutlich die Lücke, dass der Mensch einem mehr bedeutet hat, als man vorher gewusst hat. Bei Todesfällen haben fast alle Hinterbliebenen mit Reue aufgrund von Unterlassenem zu kämpfen.Und jetzt plötzlich, wo sie erkrankt ist, sind sie schmerzerfüllt und voller Angst, die einzig liebgewonnene Person zu verlieren?
Nicht nur was den medizinischen Fortschritt betrifft. Es ging der Menschheit noch nie besser als heute in der westlichen Welt.wie gewaltig der medizinische Fortschritt ist. Uns geht es heute im historischen Vergleich wirklich sehr gut.
So sehe ich das auch. Lässt sich beobachten bei alten Ehepaaren, die permanent übereinander schimpfen und dann stirbt Einer und die Trauer ist groß und nicht geheuchelt.Ich glaube, sowas passiert andauernd. Ich würde das moralisch nicht verurteilen. Man verliert jemanden - und plötzlich verdeutlich die Lücke, dass der Mensch einem mehr bedeutet hat, als man vorher gewusst hat. Bei Todesfällen haben fast alle Hinterbliebenen mit Reue aufgrund von Unterlassenem zu kämpfen.
Das stimmt natürlich. In der Regel geht es aber dann eher um ein "Was hätte ich mehr tun können?" Was mir hier aufstößt ist, dass die Anteilnahme wie aus dem Nichts zu kommen scheint. Aber Ihr habt auch Recht, wenn Ihr darauf hinweist, dass man die Zeit, Standesdenken u.ä. mitbedenken muss.Ich glaube, sowas passiert andauernd. Ich würde das moralisch nicht verurteilen. Man verliert jemanden - und plötzlich verdeutlich die Lücke, dass der Mensch einem mehr bedeutet hat, als man vorher gewusst hat. Bei Todesfällen haben fast alle Hinterbliebenen mit Reue aufgrund von Unterlassenem zu kämpfen.
Fpr mich ist der Unterschied, dass - im Unterscheid zu den Brüdern - vorher eine Beziehung und Wertschätzung da war. Bei Jules und Edmont hat mich die plötzliche Anteilnahme und Besorgtheit völlig überrascht.So sehe ich das auch. Lässt sich beobachten bei alten Ehepaaren, die permanent übereinander schimpfen und dann stirbt Einer und die Trauer ist groß und nicht geheuchelt.
Der Prozentsatz stimmt wohl eher umgekehrt. Wieviel Prozent würdest du für den Umstand der Geburt in eine bestimmte Klasse, Familie, in eine bestimmte Zeit veranschlagen?Jemand hat mal gesagt, wir seien ungefähr 1o Prozent Umstände und 90 Prozent wie wir darauf reagieren; das ist, glaube ich, ein engl. Sprichwort. Der Prozentsatz ist zu extrem, finde ich, aber es ist was dran.
Dafür müsste man glauben, dass man das Recht hat, sich zu beklagen. Du forderst von Rose Dinge ein, für die sie die Ressourcen einfach nicht hat. Intelligenz, Reflektion, Selbstwertgefühl, Intellekt - hat sie alles nicht. Sie ist willensstark, ja. Aber dieser Wille ist völlig ungeformt und fehlgeleitet, wie ein Fluss, der eben nicht durch eine Turbine fließt und Strom erzeugt, sondern der wild daher fließt und alles mit sich reißt.Wer sich nie beklagt, kann nie was ändern.
Ich glaube, es ist nach Roses Tod.Die Brüder. Haben es auch nicht leicht. Ich kriege das chronologisch nicht auf die Reihe. Wann fliehen sie vor dem Lärm? Vor oder nach Roses Abbleben?
Kein Mitleid? Kein Verständnis für schwache Menschen?In diesem Abschnitt habe ich alle Sympathie für Rose verloren
Sehr schön, wie Du die Defizite von Rose beschreibst. Mit welchem Recht will man ihr dies alles vorwerfen. Ich sehe sie, genau wie Du, als eine tragische Figur.Dafür müsste man glauben, dass man das Recht hat, sich zu beklagen. Du forderst von Rose Dinge ein, für die sie die Ressourcen einfach nicht hat. Intelligenz, Reflektion, Selbstwertgefühl, Intellekt - hat sie alles nicht. Sie ist willensstark, ja. Aber dieser Wille ist völlig ungeformt und fehlgeleitet, wie ein Fluss, der eben nicht durch eine Turbine fließt und Strom erzeugt, sondern der wild daher fließt und alles mit sich reißt.
Bei Rose kommen wir nicht weit mit dem moralischen Ansatz. Für mich ist sie eine durch und durch tragische Figur.
Es ist toll, dass Du den Roman der Goncourts kennst. Das gibt Dir ganz andere Beurteilungskriterien für den Roman in die Hand.Ich bin sehr im Zwiespalt bei diesem LA, speziell bei der Schilderung von Roses Krankheit und Tod.
Wie soll ich das erklären? Der Ablauf entspricht ziemlich genau dem, was in "Germinie Lacerteux" steht. Auf S. 181 heißt es zum Beispiel: "Der beißende Qualm der Braunkohle, mit der sie den Herd unterhielt, bereitete ihr Kopfschmerzen und Brechreiz. (...) Flach zu atmen nützte wenig, sie glaube erwürgt zu werden und hustete fast zum Erbrechen."
In "Germinie Lacerteux", Kapitel 59: "Die Holzkohle, mit der sie Feuer machte, von der ein dünner Faden beißenden Rauches langsam aufstieg, erregte ihr Übelkeit, und der Geruch der Braunkohle (...) verursachte ihr Kopfschmerzen. (...) Halb betäubt wie die Wäscherinnen, die im Qualm der Kohlebecken plätten, stürzte sie ans Fenster und atmete die eisige Luft ein."
Es ist offensichtlich, dass Sulzer die äußeren Umstände von Roses Siechtum aus dem Germinie-Roman entnommen hat. Das gleiche gilt für Roses Gefühlswelt; jene Szenen zum Beispiel, in denen sie im nächtlichen Paris "auf Männerfang" geht und die wirklich nach Wahnsinn klingen. Man kann das, in etwas altertümlicher und betulicher Sprache, aber doch im Prinzip exakt genauso, in "Germinie" nachlesen. Und hier werde ich langsam ungeduldig mit Sulzer und erwarte dringend, dass er endlich dieser grundlegenden Diskrepanz nachforscht: woher wussten die Brüder das? Roses intime Gefühle haben die Goncourts zweifellos imaginiert; selbst wenn sie nach Roses Tod solche Einzelheiten erfahren haben, dann jedenfalls nicht in solcher Genauigkeit, was sie dabei gefühlt hat. Mehr oder weniger übernimmt Sulzer diese Passagen. Das ist natürlich legitim, aber was ist denn eigentlich seine eigene schriftstellerische Leistung dabei, wenn die Frage, woher die Brüder ihr Wissen geschöpft haben, nicht gestellt wird?
Dass Roses Arbeitsplatz eine Zumutung war, mit diesem Ofen, haben sie zweifellos gewusst. Auch, wie Roses Schlafzimmer aussah - mit diesem Zinkblechdach, das den Raum im Sommer zur Sauna machte. All das haben sie ja in "Germinie" beschrieben. Da drängt sich doch die Frage auf, warum haben sie nicht den geringsten Versuch gemacht, da etwas zu verbessern? Und selbst wenn man hier lapidar mit "die Zeiten und Klassenschranken waren eben so" antwortet, warum geht Sulzer dieser Frage in bezug auf die Psychologie der Brüder, dieses "Nicht-sehen-wollen" des Offensichtlichen, nicht nach?
Einfach nur eins zu eins herunterzubeten, was die Brüder später über dieses Elend geschrieben haben, das kann's doch nicht gewesen sein.
Ich will das Buch keineswegs vorverurteilen; nur kundtun, dass ich erwarte, dass da noch etwas kommt.
Anderes fand ich übrigens sehr bewegend, zum Beispiel, wie die Brüder den Sonnenuntergang betrachten und ein blindes Kind an ihrer Seite steht (S. 189): "Sie wussten so wenig, was es dachte, wie sie es von sich selbst wussten, weil das Schauen stärker war als der Gedanke an das, was sie sahen." Das ist die berühmte Achtsamkeit, das "being in the moment", das als Garant für ein geruhsames Glück gelten soll. Aber für jemanden wie die Brüder, die es seit Jahren gewohnt waren, alles, was sie sahen und erlebten, in ihr Tagebuch zu schreiben, ist ein solcher Moment wohl noch schwerer zu finden als für den Normalbürger.