3. Leseabschnitt: Kapitel 3 (Seite 111 bis 154)

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Mir hat dieser Abschnitt im Vergleich zu den beiden anderen ein bisschen weniger gut gefallen. Vielleicht weil ich ihn als noch dialoglastiger empfunden habe als die ersten beiden oder weil sich beim Lesen eine gewisse Routine eingestellt hat.

Ich hatte das Gefühl, dass sich einzelne Szenen zu stark wiederholen (Gespräch mit Livia, schlafende Frau im dunklen Zimmer) und es hier weniger Atmosphäre als zuvor gab.

Überrascht hat mich dennoch die Entwicklung der Frau, die plötzlich neuen Lebensmut getankt hat und sogar selbst wieder schwanger werden möchte. Der größtmögliche Kontrast zwischen Leben und Tod.

Die Szene im Waisenhaus war wirklich schlimm. Das angebundene Baby, die furchtbare Umgebung und dann auch noch die lieblose Frau.

Mehrfach habe ich mich aber auch wieder königlich amüsiert. Zum Beispiel bei den sprachlichen Missverstanden im Kiosk und in der Bar, aber auch bei Livias Gespräch mit dem Mann über dessen vermeintliche Homosexualität. Ich bin gespannt, wohin diese Linie (auch mit Henk) führen wird bzw was diese Anspielungen überhaupt sollen.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Mir hat auch dieser Leseabschnitt mit all seinen Veränderungen gut gefallen. Das Dialoglastige ist mir auch aufgefallen, war aber fasziniert davon, wie offen die Ehepartner miteinander umgehen. Das muss ja, wie man gemerkt hat, nicht unbedingt dazu führen, dass sie sich harmonisch miteinander verstehen. Aber mir gefällt, dass endlich mal (scheinbar) alles ausgesprochen wird. Auch wenn selbst die Diskussionen der Eheleute mitunter merkwürdig verlaufen.
Die Frau schwankt in ihren Äußerungen und in ihrem Verhalten z.B. deutlich, wenn es um Livia geht. Erst findet sie sie toll (mal abgekürzt gesagt), dann unterhält sich der Mann mit Livia während beide denken die Frau schlafe, sagen eigentlich nach meiner Erinnerung keine verletzenden oder bösen Sachen, aber plötzlich spricht die Frau nur noch gegenüber ihrem Mann von "deine Freundin" Livia. Als ob sich die beiden nun gegen sie verschworen hätten.
Hängengeblieben (bzw. markiert) ist die Textstelle, in der Livia zu dem Mann sagt: "Das können sie [Heterosexuelle sich verloren und scheu fühlen], aber sie zeigen es anders. Und sich verloren oder fremd zu fühlen sind zwei verschiedene Dinge. Außer vielleicht für schwule Männer. Und natürlich für Frauen."
Auch die Aussage von Livia (mit Bezug auf @Christian1977 s Theorie, dass hier scheinbar alle Figuren außerhalb der Eheleute an einem "geheimen" Plan arbeiten, verkürzt gesagt) finde ich wichtig: "Sie haben Ihre Aufgabe, ich meine." Mann: "Was ist Ihre?" Livia: "Machen Sie sich darum mal keine Sorgen."

Im ersten Moment übertrieben dargestellt, aber dann doch nicht so abwegig ist die Darstellung, wie die Frau als Krebskranke so stark nun an ein Wunder glaubt, dass sie sich gleich noch eins (exponenziell wahrscheinlicher auftretend!) wünscht. Eine eigene Schwangerschaft. Obwohle eine Spontanheilung sehr, sehr, sehr selten vorkommen kann bei Krebs, so ist eine Spontanschwangerschaft nach einer Hysterektomie wohl weitgehend ausgeschlossen. Sie gleitet komplett aus der Realität mit diesem Wunsch nach dem goldenen Ei ab.
Aber in diesem Roman - oder vielmehr an diesem skurrilen Ort, in diesem merkwürdigen Hotel - könnte scheinbar alles passieren. Mit nun nicht einmal mehr die Hälfte des Buches vor mir, frage ich mich immer weiter zunehmend gespannt, wohin uns der Autor mit seiner Geschichte bringen wird.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Die Frau will das Kind nicht mehr! Ob sie es je wollte? Merkwürdig, wie sie sich von einer schwachen Kranken gerade in ein bockiges Kind, das an Wunder glaubt, verwandelt.
Und ihr Mann? Ihr Mann denkt zu langsam. Er möchte an den Plänen, ein Kind zu adoptieren, festhalten, er ist darauf eingestimmt, dass seine Frau sterben wird und bis dahin will er der treu sorgende Ehemann sein. (Wann hat er eigentlich seine Geldbörse wiederbekommen?)

Ich bin überzeugt davon, dass die Handlung im nördlichsten Finnland spielt, an der Grenze zu Russland und Norwegen, wo sich alle Kulturaneignungen und "Geschäftsideen" treffen. Zum einen gibt es die vielen finnischen Wörter, die in allen anderen Ländern, wegen ihrer Unverständlichkeit nicht auftauchen, dann gibts die russischen Samoware, die Ölbohrinsel, die verschneite Landschaft, das kurze Tageslicht...

Genauso wie @GAIA und @Christian1977 frage ich mich, wohin uns die Geschichte führen will. Die Adoptionsgeschichte und das Heilversprechen wird hier gerade von einer Menge Sex und seinen Spielarten überlagert.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Das Ehepaar verändert sich. Die Frau glaubt an eine Heilung, träumt sogar von einem eigenen Kind, und dem Mann wird klar, dass der Tod kommen wird.
Die Szene im Waisenhaus fand ich sehr ergreifend, sie zeigte mir, dass der Mann dieses Kind will. Er will nicht alleine sein nach dem Tod seiner Frau. Dass sie sich in die Idee verrannt hat, anstelle der Adoption ein eigenes zu bekommen, erschließt sich mir nicht so ganz.

Vieles wirkt nach wie vor surreal. Livia scheint tatsächlich mit dem Hotel verwachsen zu sein, denn irgendwie taucht sie immer passend auf. Sie kann sich gut in die anderen hineindenken, doch warum ist ihr an dem Paar so viel gelegen, dass sie hoch geht ins Zimmer, ein teueres Kleid verleiht usw. Dieses Verhalten erwarte ich nicht bei einer flüchtigen Bekanntschaft von der Hotelbar. Ihre Andeutung, der Mann könne homosexuelle Tendenzen haben, passt dazu, dass er so bereitwillig mit Henk mitgegangen ist. Wichtig empfinde ich es für die Handlung allerdings nicht
 

wal.li

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1. Mai 2014
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Dass sie sich in die Idee verrannt hat, anstelle der Adoption ein eigenes zu bekommen, erschließt sich mir nicht so ganz.
Ja, trotz Hysterektomie, das hat sich mir auch nicht erschlossen. Eine Spontanheilung bei Krebs, das soll es wohl in seltensten Fällen geben. Aber dass sich herausoperierte Organe neu formieren oder goldene Eier entstehen, da konnte ich nicht mehr folgen.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Es gibt viele Hinweise darauf, aber ich habe den Eindruck, der Autor ist sehr geschickt darin, das im Ungewissen zu halten. Der Heiler wohnt in einer Ulitza. Das ist eines der wenigen russischen Worte, die ich kenne, heißt Straße.

Ulitza in der Schreibweise ulica gibt's mit der Bedeutung "Straße" auch in Kroatisch und Polnisch. Ja, der Autor beherrscht das Chaos ... o_O
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ich bin gespannt, wohin diese Linie (auch mit Henk) führen wird bzw was diese Anspielungen überhaupt sollen.
Ich finde diesen Twist bislang auch sonderbar. Ist er wieder dem Trend in der zeitgenössischen Literatur geschuldet, dass irgendein Bezug zur Homo-/Transsexualität in einen Roman gehört, geschuldet? Ich empfinde das gerade als etwas nervig, weil zuviel und gewollt - und damit eben gerade nicht alltäglich und "normal", sondern aufgesetzt. Aber vielleicht macht es später auch alles Sinn. Wir werden sehen.
wie sie sich von einer schwachen Kranken gerade in ein bockiges Kind, das an Wunder glaubt, verwandelt.
Ich empfinde sie auch als sehr zickig, unstet und anstrengend. Sicher ist ihre Krankheit ursächlich dafür. Die Rollen schienen bislang klar definiert: sie die Hinfällige, dem Tod Geweihte, er der Kümmerer und Sorger. Das kehrt sich gerade in Windeseile um, so dass es mich nicht wundert, dass sich der Mann schwer damit tut. Auch seine Gefühle schwanken hin und her.
und dem Mann wird klar, dass der Tod kommen wird.
Nein. Bislang war er sich dessen sicher. Nun ist er verwirrt, weil die Frau aus unerfindlichen Gründen "neue Luft" bekommen hat. Ich denke, er fängt gegen alle Vernunft auch zu zweifeln an...
Ihr Glaube an ein Wunder verunsichert ihn. "Er begriff, dass er wünschte, sie wäre tot." (152) ist harter Tobak. Kurze Zeit später hat er Sex mit ihr. Da nimmt er wenig Rücksicht, sie tut es nur in dem Glauben schwanger werden zu können.
Mir gefällt hier der schnelle Perspektivenwechsel sehr gut.
Ihre Andeutung, der Mann könne homosexuelle Tendenzen haben, passt dazu, dass er so bereitwillig mit Henk mitgegangen ist. Wichtig empfinde ich es für die Handlung allerdings nicht
Das geht mir ähnlich (siehe oben).
Es gibt viele Hinweise darauf, aber ich habe den Eindruck, der Autor ist sehr geschickt darin, das im Ungewissen zu halten.
Das ganze Stück hat zahlreiche surreale Momente. Es würde nicht passen, dem Geschehen einen fest definierbaren Raum zu geben. Im Norden Europas reicht mir völlig aus: es ist einsam, unwirtlich und kalt. Darauf kommt es an. Das ist das passende Setting.
 

Literaturhexle

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Livia ist für mich die geheimnisvollste Figur. Ihre Tätigkeit im Zirkus war ja schon ein Hinweis auf ihre Wandelbarkeit, auf das Mysteriöse in ihrem Wesen. Sie spricht in Andeutungen, wechselt schnell ihre Rollen. Sie verleiht diesem Kleid magische Kräfte:
Es hält sie am Leben. Sie wird zunehmen, es ausfüllen und wie Romy Schneider darin aussehen.134
Auch der Mann zieht in Betracht, dass Livia die wahre Heilerin sein könnte. Sie behauptet auch, seine geheimen Neigungen (Homosexualität) zu kennen.
Einen ihrer Sätze habe ich mir dick markiert, er gefällt mir sehr:
Ehrlichkeit kann sehr grob sein. Und zerstörerisch. Und das noch im besten Fall. Sie müssen alles tun, um ihrer Frau den Weg zu erleichtern. Wohin immer er führt, und das muss sie entscheiden, und nicht Sie. Das ist jetzt ihre Aufgabe. 138
Ich finde, das trifft es genau. Ehrlichkeit ist nicht immer der richtige Weg. Sehr nachvollziehbar.

Der Mann ist offenbar auch psychisch labil. Den Hinweis auf den Analytiker (S.141) habe ich registriert. Den Begriff "Hysterektomie" finde ich ganz furchtbar. Ist er ein Überbleibsel aus der Zeit, in der man meinte, die Total-OP könnte psychische Leiden von Frauen heilen? Männer-Medizin!!!

Ansonsten habe ich auch diesen LA sehr interessiert verfolgt, es schleifen sich keine Ermüdungserscheinungen ein.
 

parden

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Hier scheint nichts mehr so zu sein, wie Mann/Frau es vor der Anreise sicher geglaubt zu haben scheint. Weder der Wunsch nach einem Kind noch die Beziehung der Ehepartner zueinander oder auch nur die sexuelle Präferenz. Was im einen Moment behauptet wird, hat im nächsten schon keinen Bestand mehr. Krebs im Endstadium scheint spontan geheilt werden zu können, soweit zumindest der plötzliche Glaube der Frau. Deren Ziel ganz offensichtlich ist, ihren Mann ständig vor den Kopf zu stoßen und damit die Distanz zwischen ihnen zu vergrößern. Warum? Weil ihr klar ist, dass sich ihre Wege trennen werden und sie ihn darauf einzustimmen versucht? Der Sex als letzte zärtliche Geste? Das waren so meine Gedanken beim Lesen. Ich bin ebenso wie alle hier sehr gespannt, worauf das alles hinaus läuft...
 

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Das muss ja, wie man gemerkt hat, nicht unbedingt dazu führen, dass sie sich harmonisch miteinander verstehen
Genau, denn jede Kommunikation birgt immer das Risiko in sich, zu scheitern...
Es würde nicht passen, dem Geschehen einen fest definierbaren Raum zu geben. Im Norden Europas reicht mir völlig aus: es ist einsam, unwirtlich und kalt. Darauf kommt es an. Das ist das passende Setting
Ich sehe das ähnlich. Die Geschichte könnte an vielen Orten so passieren, wo genau, empfinde ich als irrelevant.
 

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29. März 2022
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Nach wie vor, bin ich interessiert dabei, auch wenn ich den vorangegangenen Abschnitt fesselnder fand.
In diesem Abschnitt fand ich am interessantesten, wie sich die Kräfteverhältnisse umkehren: Die (sterbenskranke) Frau scheint plötzlich voller Leben und Energie, während der Mann erschöpft wirkt. Auch die Prioritäten drehen sich: Nun ist es der Mann, dem das adoptierte Baby immens wichtig ist. Die Frau ist hingegen auf ihre Heilung und eine mögliche neue Schwangerschaft fokussiert; plötzlich scheint ihr alles möglich. Ich bin gespannt, wie es mit ihr weiter geht. Man kennt ja von sterbenskranken Menschen dieses Phänomen, das sie sich kurz vor dem Tod noch einmal aufrappeln, aber ob dies bei ihr der Fall ist?
Spontanheilungen gibt es wirklich immer wieder mal. Es gibt in unserer Familie eine Großtante (?) meines Vaters, deren Tumor plötzlich "einfror"; sie wurde dann noch richtig alt.
Dieses im Hintergrund ablaufende "Kammerspiel" durchschaue ich noch nicht so richtig. Da bin ich sehr gespannt...
 

Literaturhexle

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In diesem Abschnitt fand ich am interessantesten, wie sich die Kräfteverhältnisse umkehren:
Jaaaa! Sehr gut ausformuliert. Man empfindet das irritierend, weil doch bisher alles klar schien. Der Autor vermag es geschickt, unsere vermeintlichen Sicherheiten ins Wanken zu bringen... Das tut er bis zum Ende. Ein richtiges Schauermärchen!
 

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Jaaaa! Sehr gut ausformuliert. Man empfindet das irritierend, weil doch bisher alles klar schien. Der Autor vermag es geschickt, unsere vermeintlichen Sicherheiten ins Wanken zu bringen... Das tut er bis zum Ende. Ein richtiges Schauermärchen!
Ich mag Bücher, die erfrischend anders sind. Und wenn es spannend weiter geht, kann ich mich ja auf die weitere Lektüre freuen. Mal sehen, was der Autor noch geschrieben hat :think
 
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ulrikerabe

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14. August 2017
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Ich halte bei dem Buch nichts für "wirklich". Die Grenzen zwischen dem Realen und dem Surrealen sind durchlässig. Sonst müsste ich vieles hinterfragen, nicht nur wie der Mann ohne Geldbörse. Wie wollten den die beiden das Baby nach Hause bringen. Sie haben keine Babykleidung, keine Windeln mit etc. Das Kind hat vier bis fünf Kilo und sitzt (angeleint) in einem Bettchten...???
Ich mag Bücher, die erfrischend anders sind. Und wenn es spannend weiter geht, kann ich mich ja auf die weitere Lektüre freuen

vor allem will ich überrascht werden, nicht von Anfang an wissen, wohin die Reise geht. Und bei diesem Buch habe ich noch keine Ahnung