3. Leseabschnitt: Kapitel 26 bis Ende (Seite 159 bis 239)

GAIA

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27. Dezember 2021
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Mit dem 3. LA tue ich mich noch schwer. Das liegt nach erster Überlegung glaube ich daran, dass es mir nicht so gut gefällt, wenn ein Roman aus dem Realistischen ins Fantastische abgleitet, dann aber seinen Weg nicht mehr zurück ins Realistische findet. Mir hätte das letzte Drittel besser gefallen, wenn der Trauerprozess durchaus weiterhin mit fantastischen Bildern erzählt wird, aber wir auch noch einmal einen Abschluss mit der realen Familie und deren Befindlichkeiten bekommen hätten. Da muss ich wohl erst einmal noch ein paar Eindrücke von euch lesen.
Auch wenn es mir insgesamt in diesem Abschnitt "zu wild" wurde, so haben mir auch verschiedene Stellen gut gefallen. Alles voran die Szene, in der Herr Ginster die Polizei und anderen Leute an der Tür abwimmelt, als es in der nennen wir es mal "Gruppentherapiesitzung mit imaginativer Reise" ( ;) ) um die Familie Mohn ganz wichtig wird, zusammenzukommen: S.232 "Treppenstufe für Treppenstufe, denn da oben würden die Mohns, so verkündet er und bitte nicht stören, ein außergewöhnliches Stück Trauerarbeit vollbringen. Absolute Ruhe und Diskretion ist nun geboten." Das passt zum einen von der Art her zu ihm, zum anderen ist es aber auch wichtig und hilfreich für die Familie, dass ihr mal jemand Ruhe von "den Leuten da draußen" (der Gesellschaft und ihren aufgedrängten Normen) verschafft.
Viel weniger passt zu meinem inneren Bild von Herrn Ginster diese schrecklich zynische Notiz in seinem Vierten Bericht: S. 188 "Sind nicht alle zu hassen, die unbeschadet durch diese Welt kommen?" Ist er deshalb beim Traueramt? Weil er dann ausschließlich mit Menschen zu tun hat, die leiden und eben nicht unbeschadet sind? Überhaupt fand ich diesen Vierten bericht merkwürdig, auch wenn er das Verzehren der Tagebuchblätter später vorausgreift. Das gehört u.a. zu den Merkwürdigkeiten des Textes, mit denen ich zuletzt nur noch wenig anfangen konnte.

[Noch am Rande falls der Verlag mitliest: Ist das Folgende doch wahrscheinlich ein Fehler im Text, oder? Auf Seite 178 heißt es als es um die Geschichte mit der kleinen Bille und Johanne geht: "Bille beobachtete das alles und konnte sich keinen Raum darauf machen. Wo sie doch viel lieber bei Bille daheim war, bei der es mittags warmes Essen gab. ..." Dann kommen die ganzen schönen Sachen, die aber doch eher zu dem Heim von Johanne passen, also müsste im zweiten Satz auch "Johanne" stehen. Später heißt es dann nämlich auch wieder richtig: "Warum Johanne also umgekehrt unbedingt zu Bille wollte, verstand das Mädchen nicht. Billes Zuhause war karg und lieblos."]
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Alle, die sich der Familie angeschlossen haben, erzählen ihre fiktive Geschichte von Johanne. Bille, der Johanne geholfen hat, wenn sie von ihrem gewalttätigen Vater im Keller eingesperrt wurde. Auch hier kritisiert die Autorin die Gesellschaft, die wegschaut, wenn ein Kind offenkundig misshandelt wird. Erneut erweist sich Johanne als emphatisch und hilfsbereit.
Marlenes Geschichte ist am skurrilsten. Doch der Tenor der Hilfsbereitschaft ist auch in dieser Geschichte vorhanden. Schließlich Ginster, während das Haus selbst immer mehr aus der Realität driftet. Johanne, die die Reichen bestiehlt, eine schöne „Erinnerung“ und das Motiv des Meers, das Micha mit der Mutter assoziiert, tritt in den Vordergrund. Der letzte Teil ist, wie @GAIA treffend bemerkt, sehr fantastisch. Das Motiv der Schlange taucht wieder auf.
Einen Streifen trockener, lichtdurchlässiger Schuppen. Eine alte Schlangenhaut. (237)
Sie haben ihre Trauer abgestreift, zueinander gefunden, sind nicht mehr allein. Adam umfasst alle Kinder und bemerkt, der Sommer sei vorbei und damit die schlimmste Zeit der Trauer.
Wie haben sie die heiße Jahreszeit verfluchen gelernt. Als die Trauer mit den ersten hellen Tagen kam und jeder Schritt in Hitze gegangen werden musste. Wo Sonne ihr ganzes Elend erbarmungslos zur Schau stellte. (39)
Gemeinsam mit ihren neuen Freunden ist es ihnen gelungen wieder die schlimmste Zeit der Trauer hinter sich zu lassen.
 

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Stellen gut gefallen. Alles voran die Szene, in der Herr Ginster die Polizei und anderen Leute an der Tür abwimmelt, als es in der nennen wir es mal "Gruppentherapiesitzung mit imaginativer Reise"
Großartig, wie Herr Ginster sich in dieser Situation verhält, was auch zeigt, dass er einen Wandel durchlaufen hat.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Sie haben ihre Trauer abgestreift, zueinander gefunden, sind nicht mehr allein.
Gut, dass du das noch einmal aufgreifst. Somit bekommt die Schlange als Bild einen Sinn. Zuvor schlängelt sie sich noch durch die Leben der Familienmitglieder (mal mehr, mal weniger, mal gar nicht so sehr) und dann wird die zu enge Haut abgestreift und es kommt etwas Frisches, Neues darunter hervor.
Habt ihr schon einmal den Häutungsprozess einer Schlange beobachtet? Schon Tage oder eine Woche vorher wird sie ganz weiß-grau, selbst die Augen bekommen einen Schleier (weil auch darüber die Haut der Schlange sich zieht). Ein grauer Schleier aka die Trauer. Die Häutung ist sehr anstrengend für die Schlange und kann auch schiefgehen, wenn die Haut sich an einer Stelle nicht richtig löst, kann zum Beispiel der Schwanz nicht mehr richtig nachwachsen. Wenn sie aber gelingt, kommt ein seidig glatter neuer Körper hervor, der nicht mehr wie zuvor immer passiver dalag, sondern sich nun wieder frisch bewegen kann. Die Farben sind wieder intensiv, alles wird lebendiger. Welch ungewöhnliche aber auch passende Allegorie zum Trauerprozess. Langsam kommt das Leben und die Intensität des Lebens wieder zurück.
 

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29. März 2022
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Ich habe den Abschnitt gestern bereits beendet, da ich einfach wissen wollte, wie es weiter geht. Mir erging es ein wenig wie @GAIA. Mit dem Abdriften ins Fantastische hatte ich zunehmend Probleme. Ich lese halt normal auch gar kein fantasy. Auch mir fehlte da noch einmal der Rückbezug zur Realität.
Klar ist, dass die Familie neue Freunde gefunden hat, die ebenfalls eine Verbindung zu Johanne haben.
Stark fand ich die Symbolik der abgestreiften Schlangenhaut. Dazu habt Ihr ja bereits Einiges geschrieben und ich bin mit den Interpretarionen einverstanden.
Dennoch kam diese positive Wende zur Abstreifung der Trauer plötzlich. In den stark fantasylastigen Teilen machte sich bei mir eher Weltuntergangsstimmung breit...
 

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Mit dem 3. LA tue ich mich noch schwer. Das liegt nach erster Überlegung glaube ich daran, dass es mir nicht so gut gefällt, wenn ein Roman aus dem Realistischen ins Fantastische abgleitet, dann aber seinen Weg nicht mehr zurück ins Realistische findet. Mir hätte das letzte Drittel besser gefallen, wenn der Trauerprozess durchaus weiterhin mit fantastischen Bildern erzählt wird, aber wir auch noch einmal einen Abschluss mit der realen Familie und deren Befindlichkeiten bekommen hätten. Da muss ich wohl erst einmal noch ein paar Eindrücke von euch lesen.
Mir geht es ganz genauso. Auch ich hätte eine Rückbindung an das reale Geschehen sehr gut gefunden. Mit dem fantasy-Teil fühlte ich mich doch recht überfordert...
 

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Alle, die sich der Familie angeschlossen haben, erzählen ihre fiktive Geschichte von Johanne. Bille, der Johanne geholfen hat, wenn sie von ihrem gewalttätigen Vater im Keller eingesperrt wurde. Auch hier kritisiert die Autorin die Gesellschaft, die wegschaut, wenn ein Kind offenkundig misshandelt wird.
Als Gesellschaftskritik hat der Roman wie ich finde einige sehr starke Seiten :)
 

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Gut, dass du das noch einmal aufgreifst. Somit bekommt die Schlange als Bild einen Sinn. Zuvor schlängelt sie sich noch durch die Leben der Familienmitglieder (mal mehr, mal weniger, mal gar nicht so sehr) und dann wird die zu enge Haut abgestreift und es kommt etwas Frisches, Neues darunter hervor.
Habt ihr schon einmal den Häutungsprozess einer Schlange beobachtet? Schon Tage oder eine Woche vorher wird sie ganz weiß-grau, selbst die Augen bekommen einen Schleier (weil auch darüber die Haut der Schlange sich zieht). Ein grauer Schleier aka die Trauer. Die Häutung ist sehr anstrengend für die Schlange und kann auch schiefgehen, wenn die Haut sich an einer Stelle nicht richtig löst, kann zum Beispiel der Schwanz nicht mehr richtig nachwachsen. Wenn sie aber gelingt, kommt ein seidig glatter neuer Körper hervor, der nicht mehr wie zuvor immer passiver dalag, sondern sich nun wieder frisch bewegen kann. Die Farben sind wieder intensiv, alles wird lebendiger. Welch ungewöhnliche aber auch passende Allegorie zum Trauerprozess. Langsam kommt das Leben und die Intensität des Lebens wieder zurück.
Vielen Dank für diese wunderbare und kenntnisreiche Beschreibung. Ich habe mich mal eine Zeit lang intensiver mit Schlangen befasst und kann das so unterstreichen. So hat die Schlange in der Geschichte eine starke Symbolkraft. Das gefällt mir sehr gut :)
 

otegami

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17. Dezember 2021
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[Noch am Rande falls der Verlag mitliest: Ist das Folgende doch wahrscheinlich ein Fehler im Text, oder? Auf Seite 178 heißt es als es um die Geschichte mit der kleinen Bille und Johanne geht: "Bille beobachtete das alles und konnte sich keinen Raum darauf machen. Wo sie doch viel lieber bei Bille daheim war, bei der es mittags warmes Essen gab. ..." Dann kommen die ganzen schönen Sachen, die aber doch eher zu dem Heim von Johanne passen, also müsste im zweiten Satz auch "Johanne" stehen. Später heißt es dann nämlich auch wieder richtig: "Warum Johanne also umgekehrt unbedingt zu Bille wollte, verstand das Mädchen nicht. Billes Zuhause war karg und lieblos."]
Ufffff, da bin ich froh, dass Du das schreibst! Ich habe die Stelle jetzt bestimmt 5 x gelesen und schon vermutet, dass ich es vielleicht nicht kapiere, dass da irgendwo noch ein Wort steht, dass mir entgangen ist!
Also ich empfinde 'Wo sie doch viel lieber bei Bille daheim war,.......' als genauso unlogisch!!!!!
*Tief durchschnauf* und jetzt kann ich in Ruhe weiterlesen! ;)
 

otegami

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Im 3. LA sehe ich Licht am Ende des Tunnels bezüglich der Trauer - er stimmte mich auch von Anfang an positiver! ;)
Mit Linne konnte ich soooo gut empfinden, wie es ihr mit den diagnostizierten Nierensteinen ging. Die Schmerzen sind nämlich wirklich ekelhaft! :sad 'Extrakorporale Stoßwellenlithotripsie' kann ich heute noch ohne Nachschlagen aussprechen und schreiben! :rofl

Berührend war für mich auch ihr Besuch im Zimmer, wo ihre Mutter gestorben war. 'Wird ab und an das weiche weiße Haar berühren und daran denken, dass so der Abschied von der eigenen Mutter hätte sein sollen. Erst in vielen Jahren. Lebenssatt und friedlich'
Sooooo berührend, auch wie sie dann auf die Frage, wie es ihr inzwischen ginge, antwortet, es ginge ihr besser.

Der 'vierte Bericht' von Ginster ließ mich schmunzeln und zwar der vorletzte Satz: 'Sind nicht alle zu hassen, die unbeschadet durch diese Welt kommen? DAS kenne ich nämlich aus eigener Erfahrung, passiert mich immer wieder mal: ich habe den Leuten nichts getan, aber manche hassen einen regelrecht, einfach weil ich positiv und voller Zuversicht durch's Leben gehe. DAS vertragen manche nicht. Mit ihrer negativen Lebenseinstellung bin ich da ein Dorn im Auge! ;) (Aber das ist i h r Problem - ich meide sie halt! ;) )

Falsch eingeschätzt - muss ich gestehen - habe ich leider Marlene! Sie machte auf mich auf Grund ihres Geplappers im Bus einen oberflächlichen Eindruck. Weit gefehlt! Wie sie von ihrer Arbeit erzählt, vom Mann, der das neue Bein, das so viel jünger ist als er, nicht mag: Was soll ich denn mit so einem jungen Ding, schimpft er, das läuft ja ohne mich los, sagt er. Das hat ja noch gar nichts erlebt. Herrlich - ich mochte diesen Humor!
 

parden

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Berührend war für mich auch ihr Besuch im Zimmer, wo ihre Mutter gestorben war. 'Wird ab und an das weiche weiße Haar berühren und daran denken, dass so der Abschied von der eigenen Mutter hätte sein sollen. Erst in vielen Jahren. Lebenssatt und friedlich'
Sooooo berührend, auch wie sie dann auf die Frage, wie es ihr inzwischen ginge, antwortet, es ginge ihr besser.
Ja, der Abschnitt hat mich auch wieder sehr berührt.
 

parden

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Ich habe mit den surrealen Anteilen in der Erzählung kein Problem gehabt, hätte es am Ende aber wie einige andere hier auch lieber gesehen, wenn der Bogen zurück zur Realität klarer gezogen worden wäre. Das Sinnbild der Schlangenhaut als Zeichen der Erneuerung gefällt mir. Das Ende fand ich vollkommen abrupt, das hatte ich so nicht erwartet.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Das Abstreifen der Schlangenhaut hat auch mir gut gefallen. So bekommt die ständig präsente Schlange auch noch einmal eine ganz andere Bedeutung.

Ansonsten hatte ich leider das Gefühl, als entgleite die Geschichte der Autorin im letzten Abschnitt völlig. Sie verlässt sich fast ausschließlich auf die fiktiven Erzählungen der Nebenfiguren. Die Familie selbst bleibt nahezu vollkommen blass und im Vagen.

Neben dem von euch schon angemerkten Lektoratsfehler "bei Bille", den ich zwar schade, aber nicht so gravierend fand, haben mich andere Dinge mehr gestört.

S. 178: Johanne bringt Billes Vater Zigaretten und Bier mit. Zuvor haben wir erfahren, dass beide achte Jahre alt sind....

Die Blutegel-Geschichte ging an mir vorbei, ich habe sie nicht verstanden. Allerdings habe ich mir ehrlich gesagt auch keine große Mühe mehr gegeben.

Die Geschichte mit dem Beingrab hat mich regelrecht aggressiv gemacht.

Die "wachsweißen" Gesichter: Hätte ich das Word-Dokument vorliegen, hätte ich gern mal gezählt, wie häufig dieser Ausdruck verwendet wird...

Schließen möchte ich diesen Beitrag mit einem Zitat aus dem fünften Bericht Ginsters:

"Gezeichnet, von dem ganzen Mist hier gezeichnet".
 

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29. März 2022
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Mainz
Nein, das war natürlich übertrieben. Ich fand den Ausdruck von Ginster nur so lässig und fühlte mich ihm in gewisser Weise verbunden ;).
Ah okay.
Insgesamt fand ich das Buch schon sehr orginell. Der gesellschaftskritische Bezug bzgl. einer trauerunfähigen Gesellschaft hat mir selbst sehr gut gefallen. Ich wünschte nur, ich hätte im letzten stark fantasylastigen Abschnitt mehr verstanden...
 
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