3. Leseabschnitt: Kapitel 22 bis 35 (Seite 145 bis 216)

Irisblatt

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15. April 2022
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So, ich habe den zweiten und dritten Abschnitt heute in einem Rutsch durchgelesen und bei der Lektüre immer gedacht: Ich mag es ja, aber irgendwie auch wieder nicht so richtig. Mir war hier zu viel Wiederholung der Message, manche Sachen (wie das mit den blinden Betrachtern des Bildes) waren mir zu klar ausformuliert (ich liebe ja bei Interpretation das Kryptische), anderes (Achtung kein Widerspruch) war mir hingegen viel zu vage.

Ich bin absolut davon überzeugt (ich habe das Nachwort noch nicht gelesen, daher weiß ich nicht, ob noch Aufklärung erfolgt), dass uns so einige Anspielungen und Interpretationsaufforderungen durch die Lappen gehen, einfach weil wir in der indischen Kultur nicht so bewandert sind, die Pflanzen und Feste uns nur recht oberflächlich etwas sagen usw.

Trotzdem würde ich vorschlagen, "Mai" aus einem postkolonialen Ansatz zu lesen (so wie bei Gurnah eben auch). "Mai" als Kommentar auf die Beziehung zwischen Indien und England zu lesen, bietet sich aufgrund zahlreicher Teilaspekte im Text an und ich glaube, dann wird auch der "Befreiungsdrang" der Kinder nachvollziehbarer. Ich schlage hier nur eine These vor, es gibt auch da viele mögliche Variationen, was wofür steht usw.

Bei so einer Lesart würde Mai für Indien stehen, der Befreiungsdrang der Kinder vielleicht eher zum vermeintlichen Zivilisationsdrang der Kolonisten und Bewohner der Diaspora werden, zur Absicht, das "rückständige" Land an westliche Werte anzupassen, es nach dem Wunsch der Kinder/Kolonialmacht zu formen, weil das besser für das Land/Mai ist, und der Zustand, in dem Indien/Mai sind, ist ja nicht erstrebenswert, weil aus englischer/westlicher Sicht absolut nicht nachvollziehbar.

Dabei übersehen die Kinder/Kolonisten, dass es Indien/Mai gar nicht schlecht geht, und nicht nur das: sie sehen Mai/Indien gar nicht, wie es ist, sondern nehmen es nur als "leere Hülle" dar, als eine Projektionsfläche von ihren eigenen Begierden, Zielen, Wünschen - da käme die Idealisierung ins Spiel, die auch in der Darstellung der Mai umgebenden Üppigkeit, tropischen Vegetation, Gerüche und Köstlichkeiten beinhaltet ist, die gleichzeitig aber auch die Fremdartigkeit unterstreichen sollen. Mai lebt in ihrem Haus wie im Garten Eden (irgendwo wird ja der Kiesweg beschrieben, auf dem man selbst eine Schlange erkennen kann) und es geht ihr gut dort, die Kinder/Kolonialmacht können sie aber nicht in diesem für sie paradiesischen und zufriedenen Zustand belassen, wollen sie dort hinausführen und sehen im Vater und den Großeltern, dem alten vorkolonialen System, eine Bedrohung und einen Rivalen für ihre Aufgabe, Mai/Indien in eine neue, in ihren Augen bessere, Zeit zu führen.

Für das Bild der Kinder als Kolonialmacht spricht übrigens für mich auch der sich gerade zum Ende hin immer wieder wiederholende Gegensatz vom Nehmen und Geben. Traditionell beutet die Kolonialmacht aus und nimmt, die Kolonie gibt.

Der Roman zeigt, dass Mai/Indien durchaus in der Lage ist, sich zu wandeln und zu entwickeln - aber auf ihre/seine Weise und nur ganz allmählich und auch nicht völlig losgelöst von der Vergangenheit. Der Vater schafft ja durchaus moderne Geräte an und fördert den Wandel, aber eben verzögert und schrittweise und behutsam. Mais gebückte Haltung steht sicherlich auch für die Last von Tradition der Vergangenheit und Erwartungshaltung der Moderne, sie beugt sich beiden Ansprüchen. Indien/Mai kann aber ohne die indische Kultur nicht bestehen - als der Vater stirbt, verabschiedet auch sie sich bald vom Leben.

Die Kinder stehen am Ende für die zwei Wege, die die junge Generation geht: die eine verlässt das Heimatland und wendet sich völlig von ihm ab, die andere sieht sich weiter in der Tradition.
Deine Lesart gefällt mir sehr und ist stimmig.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Das könnte so passen, Luisa. Ich wäre zwar nicht darauf gekommen, den Konflikt zwischen Tradition und Moderne auf den Postkolonialismus auszudehnen, aber die verzweigte Symbolik war mir schon aufgefallen. Dazu fehlen uns teilweise, wie du auch bestätigt hast, die Hintergründe zur Kultur, um alles konkret zu deuten.
Auf alle Fälle freue ich mich, dass dein Votum positiv ausfällt. In dem Buch steckt weit mehr, als man auf den ersten Blick sieht. Die Autorin wird den International Booker Prize nicht ohne Grund gewonnen haben;)