3. Leseabschnitt: Kapitel 21 bis 29 (S. 148-231)

Mikka Liest

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Dieser letzte Quickie zwischen John und Genevieve bestärkt mich in der Vermutung, dass in ihrer Vergangenheit etwas vorgefallen sein muss.... Ich habe nicht den Eindruck, dass sie so handelt, weil sie einfach Spaß am Sex hat, ich habe eher das Gefühl, sie bestraft sich selbst oder fühlt sich zumindestens zum Sex verpflichtet.

Lyle spricht in seiner Predigt unter anderem von Menschen, die aus brennenden Türmen springen – das ist dann wohl 9/11, damit spielt das Buch deutlich später, als ich es erst eingeordnet hatte.

Es ist sehr interessant, wie sich hier zwei besonders in amerikanischen Kleinstädten prägnante Eigenschaften beißen. Einerseits ist man darauf getrimmt, dass man die Kirche und den Pfarrer ehrt, andererseits ist man darauf erpicht, das Vaterland und die eigene Lebensweise mit allen Mitteln zu verteidigen... Offensichtlich ist die Hälfte der Einwohner von Holt nicht gewillt, die Bergpredigt als tatsächliche Richtlinie fürs Leben anzusehen.

Was nicht verwundert, wenn man die Atmosphäre der Zeit bedenkt, und dass 9/11 immer noch ein großes amerikanisches Trauma ist.

Aber mein Respekt für Lyle ist deutlich gestiegen. Ich bin Atheistin, aber DAS ist ein Pfarrer, der meines Erachtens die christliche Botschaft auch wirklich praktiziert, und das respektiere ich.

Ich war überrascht, dass sein Sohn so heftig reagierte, ich hätte mir auch vorstellen können, dass er als junger Mensch da aufgeschlossener ist.

Ich verstehe es so, dass Lyle nicht nur deswegen versetzt wurde, weil er einen Homosexuellen verteidigt hat, sondern weil er tatsächlich eine Beziehung zu ihm hatte. Das hatte ich mir schon fast gedacht. Das wird sicher noch eine Brücke schlagen zwischen Dad und Franklin.

Ich fand das gemeinsame Nacktbaden herrlich. Wie schön, dass diese Frauen sich nicht verstecken oder schämen. Da ich das Buch auch im englischen Original besitze, werde ich es mal raussuchen und schauen, wie die "Lappen" da beschrieben wurden. Wobei ich das Wort auch nicht so schlimm finde, ich denke, es ist nur beschreibend und nicht wertend gemeint.

Dad zeigt auf dem Sterbebett wieder, dass in ihm ein echter Menschenfreund schlummert. Aber es ist nicht einfach "nur" späte Reue, denke ich, denn er hat ja schon früher der Witwe seines Angestellten geholfen, obwohl er das nicht hätte müssen.
 

ulrikerabe

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Mir ist noch aufgefallen, dass seine Tochter ihn aber darauf hinweist, dass Dad die beiden kaum zu Wort kommen lässt.
Dad: „Aber sie reden nicht viel, was? Mit mir jedenfalls nicht.“ „Du lässt es aber auch nicht zu, Daddy. Das hast du noch nie getan.“ (212)

Lorraine übt Kritik an Dads mangelnder Fähigkeit andere Meinungen gelten zu lassen, anderen zuzuhören? Ein Hinweis darauf, dass er sich deswegen auch von Frank entfernt hat.

Hier stimme ich dir voll und ganz zu. Dad ist in meinen Augen einer der rücksichtslos über alle hinweggeht. Ja er stirbt, ja, ich habe Mitgefühl mit einem Menschen, der Schmerzen leidet. Aber ich muss ihn deswegen nicht mögen.
 

ulrikerabe

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Ja, definitiv. Die Menschen, die aus den brennenden Türmen springen, und das wiederholte Auftauchen des Wortes „Terroristen“: Hier im dritten Abschnitt wird für mich ganz klar, dass es schon das Jahr 2001 oder später sein muss. Damit sprechen wir nicht mehr von Vietnam oder den ersten Golfkriegen, sondern den Einsätzen in Afghanistan und/oder später im Irak.
In einem der früheren Leseabschnitte schrieb jemand von euch, die vorherigen Bücher spielen in den 50er oder 60er Jahren. das habe ich nie so empfunden. Ich schätze, dass diese Ende der 80er, Anfang der 90er handeln. Sie wirken nur so als wäre die Zeit in Holt stehengeblieben.

Anhand von der kurzen Begegnung mit Rose Tyler, die ich in Kostbare Tage als etwa 80-jährig einschätzen würde, war etwa 60 als sie Raymond in Abendrot kennen lernt. Das geht sich mit den 60er Jahren niemals aus :)
 
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Reaktionen: Literaturhexle

ulrikerabe

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Dad zeigt auf dem Sterbebett wieder, dass in ihm ein echter Menschenfreund schlummert. Aber es ist nicht einfach "nur" späte Reue, denke ich, denn er hat ja schon früher der Witwe seines Angestellten geholfen, obwohl er das nicht hätte müssen.
Ich empfinde das seltsamerweise ganz anders. Er hat Geld, er kann es nicht mitnehmen. Also verteilt er es. Reichlich späte Menschenfreundlichkeit in meinen Augen.
Ich halte auch die Zahlungen an Tanya nicht für Herzensgüte, sondern (auch) Beruhigung eines schlechten Gewissens. Claytons Tod und Tanyas Schicksal ließ ihm keine Ruhe, er war erst beruhigt, als er für sie Schecks ausstellt.
 

ulrikerabe

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Willa scheint da sehr ihrer Zeit verhaftet zu sein. Verheiratet ist eben verheiratet und deshalb tabu.
Ich wäre allerdings auch nicht erfreut, wenn eins meiner Kinder mit einem verheiraten Menschen eine Beziehung (die über mehr als Sex hinausgeht) eingeht. Ich würde diese nicht verhindern (wollen oder können), aber ich würde mir sehr viele Gedanken machen, ob es das ist was er/sie will. Immer zweite zu sein, immer im Geheimen, keine Verbindlichkeit, kein Bekenntnis für einander.
 

ulrikerabe

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Die Predigt ist für mich das Vermächtnis von Kent Haruf. Hier beschreibt er seinen „ I have a Dream“.
Ja, das ist das Herzstück des Buches (bisher).

Hier prallen zwei Ideologien aufeinander: Christentum und Patriotismus Diese beiden werden gerne von rechten Politikern vermengt. Ich sehen noch unseren geifernden Ex-Vizekanzler mit dem Kreuz in der Hand vor mir...
Aber es ist doch genau umgekehrt. Die Lehre der christlichen Nächstenliebe hat nichts mit dem ausgrenzenden Patriotismus zu tun.

Lyle legt die Bibel wörtlich aus (was offensichtlich keinen gute Idee ist). Ich wäre die letzte, die beispielsweise einer geschlagenen Frau raten würde, lass dir noch das andere Auge blau schlagen und liebe ihn weiter. Aber ich verstehe, was Lyle meint, worauf er hinaus will.

Grundsätzlich finde ich es kurios, dass Kirchgänger (man sollte meinen, sie glauben an das was dort geboten wird), die Lehre ihres "Herrn" nicht für sich übernehmen können.
 

parden

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Jemand schrieb in einem der vorherigen Beiträge, dass Lyle mit seiner Predigt das ausgesprochen hätte, was Kent Harufs Meinung sei. Ich finde, dass dieses Gegenüberstellen von Patriotismus und Christentum zwei Dogmen aufeinanderprallen lässt, was die Bigotterie der gewohnheitsmäßigen Kirchgänger fast unerträglich werden lässt. Beide Ansätze helfen den Menschen, sich dem amerikanischen Volk und etwas Höherem zugehörig zu fühlen - aber sie lassen sich einfach nicht wirklich miteinander vereinbaren, auch wenn 'die Kirche' oftmals so tut (Kanonen segnen usw.). Haruf hat diese Absurdität einfach auf die Spitze getrieben...
 

parden

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Ich weiß nicht, ob Dad Lewis wirklich bewusst ist, weshalb er kurz vor seinem Tod noch versucht, Gutes zu tun. Ich bin mir auch nicht sicher, ob dies auf ein einziges Motiv zurückzuführen ist. Es mag eine Art Übersprungshandlung sein - weil er sich mit seinem Sohn womöglich nicht mehr aussöhnen kann, lässt er stattdessen jemand anderem etwas Gutes zukommen. Aber vielleicht will er auch, dass er als großzügiger und gutherziger Mensch in Erinnerung bleibt. Und womöglich glaubt er auch, dass die Angestellten Lorraine eher als ihre neue Chefin akzeptieren würden, wenn sie einen ordentlichen Bonus erhalten. Oder es ist einfach seine Art, Dankeschön zu sagen. Ich glaube eben einfach nicht immer an die 'einfache' Lösung. Dafür sind Menschen zu vielschichtig - und wer wüsste das besser als Kent Haruf? Ich bin gespannt, ob es darauf noch eine klare Antwort gibt...