3. Leseabschnitt: Kapitel 18 bis Ende (Seite 101 bis 157)

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Aber er war doch vorher schon - über Monate - fertig mit dem Sohn... Er hat sich unväterlich verhalten.
Ich halte ihn für einen total unemotionalen Menschen. Normal hätte ich erwartet, in einer solchen Situation zu lesen, dass er ans Grab geht und überlegt, was "die Mutti" von ihm erwartet hätte; was sie in so einer Lage getan hätte. Ich weiß nicht, ob Väter da soviel anders ticken als Mütter. Stellt euch mal umgekehrt vor, eine Mutter sei mit den Söhnen allein und dann passierte das alles so wie im Buch, da würde es überall heißen, wo bleiben denn die Muttergefühle?
Damit will ich nicht sagen, dass ich seine Reaktion unglaubwürdig finde. Sie zeigt nur, dass er ein verklemmter Mensch ist, der jede Spur von Warmherzigkeit unter dem Deckel hält, weil er glaubt, sich so verhalten zu müssen.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Merkwürdig finde ich übrigens, dass die Polizei mit angeschaltetem Blaulicht bei ihm vor der Tür stand, nur um diese Nachricht der stattgegebenen Berufung zu überbringen.)
Ja, das ist unrealistisch und scheint der höheren Dramatik geschuldet.
Er redet sich selbst ein, keine Bindung mehr zu empfinden, in harten, deutlichen Worten.
Das trifft es glaube ich gut, obwohl du ihn (oder den Roman?) dafür kritisierst: Er redet es sich eben nur ein, aber im Inneren ist die Bindung da - wie schwer Fus' Vergehen auch immer war.
Ich bin hier froh, dass ich keine Rezension schreiben muss.
Was? Skandal!
Dann noch die Abtreibung just eine Woche nach dem Totschlag.
Auf eine völlig nebenbei erzählte Tatsache ist glaube ich noch niemand hier eingegangen, oder mir ist es bei der Vielzahl der Beiträge entgangen: Krystyna hat ihn zur Rache angestiftet...
Das glaube, wer will, auf mich wirkt das konstruiert in dem Sinne: Wie bekomme ich jetzt die gefühlsmäßige Vater-Wende hin?
Das habe ich anders und durchaus glaubwürdig empfunden. Der Vati hat doch schon zuvor mit sich sehr gerungen, mit sich als Mensch und als Vater. Nur das Blaulicht war übertrieben.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Nun lag ich mit dem Mord also nicht falsch, aber dennoch lief das letzte Drittel anders ab, als ich es erwartet hätte.

Zunächst einmal: Ich habe das Finale als überhaupt nicht kitschig empfunden, nicht einmal annähernd. Was vor allem daran liegt, dass die Sprache so schnörkellos und unsentimental ist. Der Vati ist innerlich so zerrissen, wie ein Mensch es nur sein kann. Doch die Sätze sind kurz, die Gedanken lückenhaft. Nicht einmal vor den Leser:innen breitet er sie aus.

Selbst die traurigsten Details erfahren wir beiläufig. Krystyna hat Fus zur Rache angestachelt, falls wir dem Erzähler glauben dürfen. Aber warum sollten wir es nicht, er beschönigt ja nichts.

Von diesem kleinen unbedeutenden Nichts. Das es nun nicht mehr gab. 154
Für mich sind dies die traurigsten zwei kleinen Sätze des gesamten Romans. Nicht ganz zufällig beenden sie die Erzählung des Vatis.

Aus dem Abschiedsbrief kann ich ehrlich gesagt überhaupt nichts anderes herauslesen als einen angekündigten Suizid. Ich halte das für sehr deutlich.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Er redet es sich eben nur ein, aber im Inneren ist die Bindung da - wie schwer Fus' Vergehen auch immer war.
Du sagst, er redet es sich nur ein. Ich empfand sein Denken und Handeln während des ersten Prozesses herzlos. Er war noch nicht einmal in der Lage, dem Gericht die schwierige Lage seines Sohnes durch die frühe Mutterlosigkeit zu schildern, was eine Selbstverständlichkeit gewesen wäre. Ich habe seinen Gedanken geglaubt, weil sein Verhalten dazu passte. Er war völlig unsentimental. Hat sich einen Ersatzsohn genommen und den echten kalt gestellt, weil ihm sein Verhalten nicht passte.

Bis dann das Blaulicht und die Rolle rückwärts kam.

Nein, ich freue mich, dass es euch mehrheitlich gefällt. Mir hat es das Ende etwas verhagelt.
 
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Kristall86

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An der Nordseeküste
Der Brief hat mich auch schockiert und ich habe mir dieselbe Frage gestellt. Ich fürchte, es ist ein endgültiger Abschied.
So habe ich es auch gesehen - egal ob physisch oder psychisch - er will den kompletten Abbruch ohne wenn und aber. Er will keinem mehr Schaden zufügen, auch seiner Familie nicht, denn die hat schon Schaden genug davon getragen...
 

Kristall86

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22. März 2021
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An der Nordseeküste
Dieser Bruch in der Gefühlslage des Vaters wird überhaupt nicht begründet. Es passiert nichts, was diese Änderung hervorruft. "ich möchte ihn am liebsten vergessen und so tun, als ob es ihn nie gegeben hätte." Sagt er auf Seite 103 und verhält sich unglaublich gefühlsarm seinem Sohn gegenüber. Er adoptiert Jeremy als Ersatzsohn, bezeichnet ihn auch so. Er tut nichts, um die Berufung zu befördern.

Und dann, auf Seite 132/33 ist er auf einmal geläutert: "Mein Sohn war am Leben und plötzlich war ich darüber so glücklich wie seit Jahren nicht mehr." "Es war mein Sohn, mit dem ich mich in dieser Nacht aussöhnte." Aus dem Nichts. Einfach so, weil es mit der Berufung geklappt hat.

Ab diesem Zeitpunkt hat das Buch für mich seine Kraft verloren. Hier mutiert es zum Leichtgewicht. Auf einmal sieht der Vater eigene Fehler ein, kümmert sich. Dann noch die Abtreibung just eine Woche nach dem Totschlag. Dann der sentimentale (!) Brief, in dem wir auch erfahren, dass Gillou offenbar ein intaktes Leben führen kann. Ich finde diesen Brief fast kitschig. Würde so jemand aus dem Gefängnis schreiben? Ich weiß nicht. "Ich habe weder Mut noch Zeit..." - Letzteres ist gelogen.

Echt schade. Ende misslungen.
Blut ist dicker als Wasser - Ich konnte den Wandel des Vaters nachvollziehen und es bietet sich für jeden die Frage, wie man selbst damit umgehen würde. Niemand lässt sein Kind einfach allein - egal was es gemacht hat. Die Verbindung zueinander lässt sich nicht so leicht kappen.
 

Kristall86

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An der Nordseeküste
Es ist aber schon reichlich merkwürdig, dass die Polizei mit Blaulicht vorfährt, um so eine Mitteilung zu machen. Bei uns in Deutschland würde die Polizei da gar nicht tätig werden, das erfährt man ganz normal aus einem Brief an den Rechtsanwalt, wenn er es nicht vorher schon per Flurfunk am Gericht erfahren hat.
In Deutschland sicherlich nicht aber jedes Land ist da anders. Ich weiß nur das bei rechtsextremen Fällen in vielen Ländern höchste Alarmbereitschaft herrscht -auch mit Blaulicht ;)
 
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Literaturhexle

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Niemand lässt sein Kind einfach allein - egal was es gemacht hat. Die Verbindung zueinander lässt sich nicht so leicht kappen.
Genau so sehe ich das eben auch. Wir haben nur die Perspektive des Vaters. Ich habe ihm seine Gefühlskälte abgenommen. Im Grunde hat er sich über Monate/Jahre von seinem Ältesten distanziert. Gefühle konnte man bei der Krankenhausfahrt noch erahnen. Mit der Rache hat er versucht, mit dem Sohn abzuschließen. Das kann ich alles nachvollziehen. Aber nicht, dass allein das Blaulicht einen solch radikale Trendwende erreicht. Aber ich wiederhole mich und schweige nun;)
 

Die Häsin

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Rhönrand bei Fulda
Wie streng du bist. Das habe ich nicht so empfunden. Er ist innerlich zerrissen, und ich habe Verständnis dafür.
Ich habe mich vermutlich zu harsch ausgedrückt. Er ist nicht gefühllos, das zeigt sich ja, als der Wandel passiert. Ich hatte nur vorher das Gefühl, dass er sich selbst zur Emotionslosigkeit quasi anspornt. In ähnlicher Weise, wie ich es zum Beispiel mal gelesen habe über eine Frau, die Opfer eines Verbechens wurde. Als man sie zwei Jahre später, als der Fall neu verhandelt wurde, fragte, wie sie sich inzwischen fühle, antwortete sie: "Ich weiß nicht, ich habe seitdem ununterbrochen nur gearbeitet." Manchmal will man einfach nicht richtig nachdenken. Dann erscheint man nach außen hin gefühlsarm oder gefühllos; schlimmstenfalls denken die Leute, man habe ein so dickes Fell, dass einem alles egal sei.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Die Möglichkeit, seinen Sohn für immer verloren zu haben, nämlich nicht an das Gefängnis sondern an den Tod, hat ihn zurückgeholt und seine Sichtweise auf sein Verhalten dem "gestorben geblaubten" Sohn gegenüber geändert. Er ist wie "aufgewacht". Quasi "wachgerüttelt" worden. Das war für mich schon glaubwürdig, wenn auch recht zügig erzählt, wie aber eigentlich das gesamte Buch zügig erzählt ist.
Der Gesinnungswandel ist auch für mich nachvollziehbar. Der Vater spielt in Gedanken durch, ob er vielleicht erleichtert wäre, wenn sein Sohn tot wäre. Und dann wird ihm bewusst, wie sehr er noch an ihm hängt.
Das Zuvor erscheint mir wie ein Panzer, den er sich , schon über die Jahre hinweg und erst recht nach dem Mord, zugelegt hat, um die Enttäuschung nicht zu sehr an sich heranzulassen. „ Das ist nicht mehr mein Sohn“, deshalb kann er scheinbar distanziert den Prozess verfolgen. Und in dieser Nacht wird ihm bewusst, dass Fus immer sein Sohn bleiben wird, egal, was er getan hat. Für mich bleibt das eine der anrührendsten Szenen im Roman.
 

RuLeka

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Es ist aber schon reichlich merkwürdig, dass die Polizei mit Blaulicht vorfährt, um so eine Mitteilung zu machen. Bei uns in Deutschland würde die Polizei da gar nicht tätig werden, das erfährt man ganz normal aus einem Brief an den Rechtsanwalt, wenn er es nicht vorher schon per Flurfunk am Gericht erfahren hat.
Die Polizei in Frankreich macht manches anders.
 

Kristall86

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Genau so sehe ich das eben auch. Wir haben nur die Perspektive des Vaters. Ich habe ihm seine Gefühlskälte abgenommen. Im Grunde hat er sich über Monate/Jahre von seinem Ältesten distanziert. Gefühle konnte man bei der Krankenhausfahrt noch erahnen. Mit der Rache hat er versucht, mit dem Sohn abzuschließen. Das kann ich alles nachvollziehen. Aber nicht, dass allein das Blaulicht einen solch radikale Trendwende erreicht. Aber ich wiederhole mich und schweige nun;)
Bloß nicht schweigen! Wir brauchen Dich doch hier ;) Mal angenommen das Blaulicht ist eher eine Metapher...sehen wir es mal als Wendepunkt, Licht am Ende des Tunnels...vielleicht hilft Dir das ja? Aber wie ich der Häsin schrieb, ist da jedes Land anders gepolt. Ich weiß durch meine langjährige Arbeit im Ausland (weltweit) dass rechtsextreme Straftaten mit allem Tatütata und Blaulicht in vielen Ländern ganz oben angesetzt sind...
 

Barbara62

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19. März 2020
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Bei der ersten Gerichtsverhandlung steht er auch noch so unter Schock und ist noch so in seiner Wut und Enttäuschung über den Sohn gefangen.
Ein sehr starkes Gefühl, das immer wieder hervorgehoben wird, ist die Scham. Darunter leidet der Vater m.E. am meisten.

Es ist auch viel passiert seither. Vielleicht wurde ihm bewusst, dass mit Verschweigen und Abwarten nichts gewonnen ist.
Das hätte mich noch besonders interessiert: Haben die beiden in den vielen Jahren der Haft irgendwann über die Tat gesprochen? Vermutlich nicht, dabei sah es der Vater als unabdingbar für eine tiefere Verständigung an. Schade eigentlich.

Was für dramatische Wendungen!
Ehrlich gesagt hatte ich nach verschiedenen Andeutungen eine viel stärkere Wendung erwartet, à la "Am Tag davor" oder "Die Überlebenden".
Warum wurde Fus so lebensmüde? Hatte er gar Angst vor der Zeit nach seiner Entlassung, dass er nicht mehr würde fußfassen können?

Aus dieser bitteren Kälte heraus schaut er erst ungerührt zu, wie der Sohn zu 25 Jahren verknackt wird. Um dann seine Meinung in der Berufungsverhandlung KOMPLETT zu ändern! Nee, das kann ich nicht glauben, hier entwickelt sich die Figur abwegig, das geht mir zu schnell. Vom Saulus zum Paulus.
Da gebe ich dir recht, diese Wendung kam mir auch zu abrupt. Dass er zuerst nicht für ihn eintrat, schreibe ich der oft erwähnten Scham zu, ein übermächtiges Gefühl beim Vater.

Dass er im Knast politisch umdenkt, glaube ich eher nicht.
Ich bedauere sehr, dass es darüber nie zum Gespräch zwischen Vater und Sohn kam, es hätte mich interessiert. Ob er mit Gillou darüber gesprochen hat? Wir werden es nicht erfahren.

Echt schade. Ende misslungen.
So streng bin ich nicht, denn ich habe es insgesamt gerne gelesen. Aber ich verstehe gut, was du meinst.

Es gibt Hinweise, die für eine reine Verlegung sprechen und welche, die für einen Suizid sprechen. Für die inhaltliche Sentimentalität und Pathetik würde Letzteres sprechen. Es bleibt offen. Dennoch überzeugt mich das nicht, Ideal für unsere Diskussion allerdings;)
Ich gehe fest von einem geplanten Suizid aus. Da das Buch an dieser Stelle abbricht, denke ich, er glückt.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Mal eine Frage in die Runde, ich schaue mir gerade ein paar Stellen nochmal an, die ich beim Lesen markiert habe. Dabei stieß ich auf den Absatz über den Beisitzer ab S. 113, der Mann wird sehr eingehend beschrieben. Empfindet ihr diese Beschreibung als ironisch gemeint, als zynisch? "Schon lange hat mich niemand mehr so beeindruckt wie er." Oder: "Ob seine Eltern (...) manchmal kamen, um ihn im Gerichtssaal zu beobachten? Ich wünschte es ihnen, denn sie konnten stolz auf ihren Sohn sein."

Die Wortwahl ist so, dass ich normalerweise da tiefe Ironie herauslesen würde. Mit anderen Worten, der Erzähler verabscheut den Mann. Aber der hat ihm ja nichts getan. Sollen wir herauslesen, dass unser Erzähler den ganzen Justizapparat verachtet?
 
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Barbara62

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19. März 2020
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Mal eine Frage in die Runde, ich schaue mir gerade ein paar Stellen nochmal an, die ich beim Lesen markiert habe. Dabei stieß ich auf den Absatz über den Beisitzer ab S. 113, der Mann wird sehr eingehend beschrieben. Empfindet ihr diese Beschreibung als ironisch gemeint, als zynisch? "Schon lange hat mich niemand mehr so beeindruckt wie er." Oder: "Ob seine Eltern (...) manchmal kamen, um ihn im Gerichtssaal zu beobachten? Ich wünschte es ihnen, denn sie konnten stolz auf ihren Sohn sein."

Die Wortwahl ist so, dass ich normalerweise da tiefe Ironie herauslesen würde. Mit anderen Worten, der Erzähler verabscheut den Mann. Aber der hat ihm ja nichts getan. Sollen wir herauslesen, dass unser Erzähler den ganzen Justizapparat verachtet?
Ich hatte das als ernst gemeint gelesen, nicht als ironisch. Er bewundert dessen Selbstbewusstsein, sein tadelloses Äußeres und seine Geradlinigkeit. All das hätte er auch gern.
Ironie passt für mich nicht zum Ich-Erzähler.