3. Leseabschnitt: Kapitel 18 bis Ende (Seite 101 bis 157)

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Das sind jetzt ja mal ein paar Wendungen. Das mit der Anklage hatte ich auf der ersten Seite des LA noch dem vorherigen Ereignis um Fus zugeschrieben. Also, dass er in einer Prügelei den anderen umgebracht hat und er selbst ist "nur" mit schweren Verletzungen aus der Sache rausgekommen. Dass er allerdings so einen Rachefeldzug durchgezogen hat, hatte ich nicht erwartet. Im Nachhinein erscheint es jedoch vollkommen schlüssig, dass er die Sache nicht auf sich beruhen lassen konnte.

Mich hat der Sinneswandel des Vaters nach dem Urteil und vor der Berufung überrascht. Aber gleichzeitig schafft es der Autor auch hier den Hintergrund des Sinneswandels vollkommen logisch herzuleiten. Durch den Schock des Vaters, sein Sohn könne im Gefängnis getötet wurden sein und die Erleichterung, dass es doch nicht so gekommen ist, wird ihm bewusst, dass er mehr an seinem abtrünnigen Sohn liegt, als er zunächst in sich selbst vermutet hat. (Merkwürdig finde ich übrigens, dass die Polizei mit angeschaltetem Blaulicht bei ihm vor der Tür stand, nur um diese Nachricht der stattgegebenen Berufung zu überbringen.)

Gelungen finde ich all die Darstellungen, wie radikalisierte Menschen ticken, die nicht nur auf verschiedene Gruppen generalisiert werden können, sondern eben auch auf verschiedene Länder. Was Petitmangin hier beschreibt, kann genauso in Deutschland und anderswo stattfinden.
z.B. auf Seite 119, die Familie von Krystyna und ihre Entwicklung selbst.
Schon faszinierend, wie schnell Menschen dich als Teil der Geschichte fühlten, französischer wurden als die Franzosen, Menschen, die immer noch voll der Frömmelei und der Traditionen ihrer alten Heimat waren, und wie sie mit derselben Inbrunst und Hartnäckigkeit all denen, die nach ihnen kamen, ein solches Recht verweigerten.
Da muss ich an die türkische Community in Deutschland denken, die es den ab 2015 gekommenen Geflüchteten besonders schwer machen anzukommen und ihre eigenen Standards an diese neuen Zuwanderer anlegen.

Krass finde ich, wie seelenruhig Krystyna das Prinzip der ausufernden Schlägereien als vollkommen nochmal darstellt. In diesen Kreisen der gewaltbereiten Extremisten fehlt wirklich der Kontakt zur Realität des Umgangs von Menschen untereinander.

Als auf Seite 129 oben der Anwalt von Fus meint, dass er sich weiterhin für Fus einsetzen werde, sei "eine Frage der Gerechtigkeit", hat sich meine Vermutung verfestigt, dass auch er aus dem rechten Spektrum kommt. Dass der Vater dann im Rahmen der Berufungsverhandlung sich so stark für Fus verbiegt, die Sache mit dem angespitzten Rohr verschweigt und damit eine Deutung der schwere der Tat vor dem Gericht verheimlicht, er vorab mit den Antifa-Leuten spricht und ihnen ein schlechtes Gewissen macht, um von dieser Seite eine Aussage herauszukitzeln und und und finde ich absolut krass. Aber wieder: Meines Erachtens schafft es auch hier der Autor deutlich zu machen, woher die Entwicklung des Vaters kommt. Das passier nicht von heute auf morgen. Fus sitzt da schon ein Jahr in Haft. Hier hätte ich mir aber trotzdem etwas mehr Raum gewünscht, diesen Sinneswandel noch ausführlicher zu beleuchten. Denn zu dem sozialdemokratischen Vater, den wir zu Beginn kennengelernt haben, der lieber nichts sagt, als zu viel und das Falsche, ist hier doch ein ganz schöner Wandel drin.

Gerade ab Seite 139, wenn der Vater mit dem Vater von Krystyna redet, finde ich, dass sich der Titel "Was es braucht in der Nacht" erklärt. Da wird viel über etwas Höheres, Schicksalhaftes gesprochen, was nicht nur erklärt, was den Eltern mit dem Verfall der Region usw. widerfahren ist, sondern auch wie es dazu kommen konnte, das eben eins zum anderen gekommen ist und am Ende ein Junge tot und der andere im Gefängnis wegen Mordes gelandet ist. Hier bewegt sich etwas gesamtgesellschaftlich in eine radikale Richtung, weil viele Mosaikteile sich zu Ungunsten verschoben haben.

So und nun dieser Brief. Ich muss fragen. Aber es ist ja eindeutig ein Abschiedsbrief. Ist es aber der Abschiedsbrief eines Selbstmörders? Es klingt fast so. Fus will nicht weiter das Leben seiner Familie belasten, indem sie zu dem noch weiter entfernten Gefängnis fahren müssen. Erst dachte ich, er habe ein "Besuchsverbot" seinerseits durchgesetzt, und damit den Kontakt zur Familie gekappt. Aber gerade die letzte Passage, in welcher er das Leben rekapituliert. Er spricht von seinem Leben schon in der Vergangenheitsform, er hat scheinbar nicht mehr viel Zeit, um vor der Verlegung noch sich umzubringen. So verstehe ich diesen Brief. Und ihr?
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Mich hat der Sinneswandel des Vaters nach dem Urteil und vor der Berufung überrascht. Aber gleichzeitig schafft es der Autor auch hier den Hintergrund des Sinneswandels vollkommen logisch herzuleiten. Durch den Schock des Vaters, sein Sohn könne im Gefängnis getötet wurden sein und die Erleichterung, dass es doch nicht so gekommen ist, wird ihm bewusst, dass er mehr an seinem abtrünnigen Sohn liegt, als er zunächst in sich selbst vermutet hat.
Auch ich finde, dass der Autor den Wandel des Vaters gut dargestellt hat. Als der Sohn schwer verletzt daliegt, funktioniert er erstmal nur. Möglicherweise sieht er den Überfall als “ gerechte Strafe“ an. Bei der ersten Gerichtsverhandlung steht er auch noch so unter Schock und ist noch so in seiner Wut und Enttäuschung über den Sohn gefangen. Erst später kommen die Bilder von früher und er sieht in Fus wieder den guten Jungen, der er einmal war. Deshalb ist er bereit, über das angespitzte Rohr zu schweigen. Für sich beschönigt er die Tat ja nicht, aber er versucht zu verstehen, wie aus seinem Jungen ein Mörder werden konnte. Fragt sich auch nach seinen eigenen Fehlern.
Die Szene, wie sich der Vater in das Bett von Fus legt, treibt mir auch im Nachhinein die Tränen in die Augen.
Denn zu dem sozialdemokratischen Vater, den wir zu Beginn kennengelernt haben, der lieber nichts sagt, als zu viel und das Falsche, ist hier doch ein ganz schöner Wandel drin.
Es ist auch viel passiert seither. Vielleicht wurde ihm bewusst, dass mit Verschweigen und Abwarten nichts gewonnen ist.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Was für dramatische Wendungen! Aber auch etwas verwirrend und mit ziemlichen Sprüngen. Ich habe fast ein wenig das Gefühl, als ob der Autor das Ende extra so umgestellt hat, dass man erst einmal in die falsche Richtung denkt (es war nicht sofort klar, wieviel Zeit zwischen Krankenhaus und Gefängnis vergangen ist), dann aber ein wenig aus der Puste gerät und mit der Berufung der Sache ein positives Ende bescheren will, um sich dann mit dem Abschiedsbrief vielleicht einem Lektoratswillen unterwirft. Hmmm!
Das ging mir jetzt etwas zu schnell und wie mir die beiden letzten ersten Abschnitte schon geziegt haben, steckt wahrscheinlich der Teufel im Detail.

Will der Vater dem Sohn wirklich nur helfen, möglichst schnell wieder ein normales Leben führen zu können, oder aber dient er jetzt auch "der Sache", sprich der Front National?

Der Zusammenhang zwischen Titel und Geschichte erschließt sich mir eigentlich noch nicht so richtig.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Will der Vater dem Sohn wirklich nur helfen, möglichst schnell wieder ein normales Leben führen zu können, oder aber dient er jetzt auch "der Sache", sprich der Front National?
Es geht ihm um den Sohn und keinesfalls um die FN.
Der Zusammenhang zwischen Titel und Geschichte erschließt sich mir eigentlich noch nicht so richtig.
Was braucht man, wenn man ganz unten ist? Zuwendung, Liebe
Was es braucht…. Dazu hat Luisa ganz zu Anfang was geschrieben, was uns hier weiterhelfen könnte:

Dass die Übersetzer sich jetzt für "was es braucht" entschieden haben, wird vermutlich/hoffentlich auch eine im Text begründete Ursache haben (evtl. z.B. die Passivität/Inaktivität des Protagonisten oder seine Erkenntnis, dass irgendetwas außerhalb seiner Fähigkeiten liegt), denn ich stimme @GAIA zu, dass man hier einen Bedeutungsunterschied interpretieren kann/muss.

Beides haben wir hier : die Passivität des Protagonisten und die Erkenntnis, dass manches außerhalb unseres Einwirkungsbereichs liegt.
Darüber können wir weiter diskutieren.

Anfangs irritiert der dritte LA, weil wir nicht wissen, wo wir zeitlich sind. Das wird aber schnell klar. Fus hat sich gerächt, auf die denkbar brutalste Art. Wie geht man damit um? Vor allem als Vater? Der Bruder, der Nachbar scheinen zu wissen wie. Der Vater kann es nicht.
Das Buch wirft viele Fragen auf? Warum beginnen ganz normale Jugendliche sich zu radikalisieren? Welchen Anteil trägt daran die Gesellschaft, die Politik, welchen die Eltern, welchen das Umfeld? Wie gehen Eltern damit um? Was können sie tun? Was haben sie versäumt? Wo war die Wegkreuzung?
Wie würde ich damit umgehen? Wie verkrafte ich es als Elternteil, wenn mein Kind nicht die gewünschte Entwicklung nimmt? ( Es muss ja nicht so eine radikale Entscheidung sein wie hier im Buch. Es kann sein, dass mein Kind die „ falschen Freunde“ hat, die Schule abbricht, Drogen nimmt usw.)
Ein Roman, der viel Diskussionsstoff birgt. Ein Kandidat für meinen Lesekreis.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
er vorab mit den Antifa-Leuten spricht und ihnen ein schlechtes Gewissen macht, um von dieser Seite eine Aussage herauszukitzeln und und und finde ich absolut krass.
Das wiederum sehe ich überhaupt nicht so. Fus' Verletzungen waren schwer und dafür gibt es keine Entschuldigung - genausowenig wie es für Fus' Rachefeldzug eine Entschuldigung gibt. Ich finde es schon richtig, wenn der Vater in der Berufungsverhandlung klar zum Ausdruck bringen möchte, dass Fus' Tat nicht aus heiterem Himmel gekommen ist - oder andersrum gesagt: dass die andere Gruppe zur Antifa gehört und Fus zu den Nazis, führt für mich persönlich nicht dazu, dass ich solche Gewalttaten von vornherein unterschiedlich bewerte. Es ist eins wie das andere einfach eine unglaubliche Schweinerei, wenn man an die Folgen denkt.

Ich bin eben erst fertig geworden und muss alles nochmal sacken lassen. Mir macht es einiges Kopfzerbrechen und ich finde es sehr gut dargestellt, in welchem Loyalitätskonflikt der Erzähler ist. Ich habe ein Buch mit dem Titel "Mein lieber Sohn", erzählt aus der Sicht einer Familie, deren Sohn ein Mädchen umgebracht hat (wie es dazu kam, weiß ich jetzt nicht mehr). Da bemühen sich die Eltern vor dem Prozess, alles zusammenzutragen, was nur irgendwie für ihren Sohn sprechen könnte. Als sie die Tochter, also die Schwester des Täters, zu einer entlastenden Aussage zu überreden versuchen, schlägt ihnen das Mädchen das ab - ihr Bruder habe gemordet, jetzt solle er auch dafür büßen. Ich wüsste nicht, was ich in so einer Situation tun würde. Muss übrigens auch gerade an "Wir müssen über Kevin reden" denken, wo dieser Konflikt auf die Spitze getrieben wird.

Was anderes: Wie alt ist Fus eigentlich, als das Urteil gesprochen wird? Weiß das jemand? Ich finde nämlich 25 Jahre für einen so jungen Kerl unglaublich viel, in Deutschland wäre das Urteil sicher sehr viel milder ausgefallen ...

Ich werde mich nochmal dazu melden. Muss die eine oder andere Seite nochmal lesen.

An einen geplanten Selbstmord von Fus glaube ich nicht. Der Brief klingt überhaupt nicht danach. Ich vermute, er will einfach nur zum Ausdruck bringen, dass er keine weiteren Besuche mehr will.
 

wal.li

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1. Mai 2014
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Der Brief hat mich auch schockiert und ich habe mir dieselbe Frage gestellt. Ich fürchte, es ist ein endgültiger Abschied.
Das glaube ich auch. Gut fand ich, dass Fus es als gut empfand, was er mit Eltern und Bruder erlebt hat. Allerdings habe ich nicht den Eindruck, dass er seine politische Einstellung nochmal überdacht hat.
Welchen Gedanken ich noch hatte: Vielleicht geht er zur Fremdenlegion. Konnten sie dort nicht Strafen verkürzen? So ähnlich wie in Amerika?
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Also das ist ja ein Buch über das man trefflich diskutieren kann! Ich habe es gerne gelesen. Aber....

Ich kann mich eurer Meinung nicht anschließen. Kann ein Vater seinen Sohn mit so wenig Liebe und Empathie in den Gerichtssaal folgen? Er redet sich selbst ein, keine Bindung mehr zu empfinden, in harten, deutlichen Worten. Klar, der Vater ist politisch links, der Junge rechtsextrem. Aber ihm wurde zuvor die Gesundheit ruiniert - wegen ein paar Flyern! Würde man das als Vater innerlich nicht wenigstens als Entschuldigung vorbringen Oder Partei ergreifen? Mir ist das viel zu kalt dargestellt. Kind bleibt immer Kind, es sei denn, man wurde belogen und betrogen. Fus hatte immer auch gute Seiten, kümmerte sich liebevoll um seinen Bruder. Im täglichen Leben war er kein Fascho (ob das glaubwürdig ist, sei dahingestellt).

Aus dieser bitteren Kälte heraus schaut er erst ungerührt zu, wie der Sohn zu 25 Jahren verknackt wird. Um dann seine Meinung in der Berufungsverhandlung KOMPLETT zu ändern! Nee, das kann ich nicht glauben, hier entwickelt sich die Figur abwegig, das geht mir zu schnell. Vom Saulus zum Paulus. Zum Ende hin kommt der kleine Roman mächtig ins Schlingern. Auch die Abtreibung von Krystyna: warum? Um die Tränendrüsen zu strapazieren? Damit Vater sich seinen Enkel immer wieder vorstellen kann? Gewollt wirkt das auf mich.

Der Brief am Ende lässt Fragen offen. Er klingt für meine Ohren aber sehr selbstlos und pathetisch. Er passt nicht zu einem, der brutalst jemanden totgeschlagen hat. Allerdings ist Fus ja die gespaltenste Figur des Buches, so passt der Brief zum Familien-Fus.

Ich bin hier froh, dass ich keine Rezension schreiben muss. Fiele mir schwer. Der Wandel des Vaters ist für mich in diesem Tempo ohne äußerlich nennenswerte Einflüsse nicht vorstellbar.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Also das ist ja ein Buch über das man trefflich diskutieren kann! Ich habe es gerne gelesen. Aber....

Er redet sich selbst ein, keine Bindung mehr zu empfinden, in harten, deutlichen Worten. Klar, der Vater ist politisch links, der Junge rechtsextrem. Aber ihm wurde zuvor die Gesundheit ruiniert - wegen ein paar Flyern!
Genauso sehe ich das auch und kann mich des leisen Gefühls nicht erwehren, dass der Vater in einer unbewussten Ecke seines Moralgerüsts den Gedanken hegte, dass sein Sohn bekommen hat, was er verdient. Die Schwere von Fus' eigenen Verletzungen ins Feld zu führen, fällt ihm jedenfalls erst viel später ein.
Ich hätte übrigens gerne gewusst, ob Fus seine Gesundheit wieder zurückerlangt, bzw. ob er im Knast physiotherapeutische Hilfe bekommt. Davon ist gar nicht mehr die Rede.
Ich werde ein paar Stellen nochmal lesen, ehe ich die Rezi schreibe.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Der Brief am Ende lässt Fragen offen. Er klingt für meine Ohren aber sehr selbstlos und pathetisch. Er passt nicht zu einem, der brutalst jemanden totgeschlagen hat. Allerdings ist Fus ja die gespaltenste Figur des Buches, so passt der Brief zum Familien-Fus.
Ich kann mir vorstellen, dass Fus sich selbst als Opfer sieht.
Er musste sehr schnell erwachsen werden und z.T. an Gillou Vaterstelle vertreten. Das hat er bereitwillig auf sich genommen. Da nimmt er sich quasi als Ausgleich das Recht heraus, politisch zu denken, was er will. Vielleicht sogar als Opposition zum Vater, der - könne ich mir vorstellen - in seinen Augen auf weite Strecken versagt hat? Ein Schlappschwanz ist?
Dann wird er verletzt, erschlägt in einem Rachefeldzug den Täter und nimmt die Strafe "mannhaft" auf sich. Ja, es könnte durchaus sein, dass er sich als einsamen Held sieht. Dass er im Knast politisch umdenkt, glaube ich eher nicht.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Für sich beschönigt er die Tat ja nicht, aber er versucht zu verstehen, wie aus seinem Jungen ein Mörder werden konnte. Fragt sich auch nach seinen eigenen Fehlern.
Wobei es irgendwo die Stelle gibt, an der er sinngemäß sagt: „Ich hatte schon ganz vergessen, dass es hier um Mord geht.“ Also verdrängt er schon ganz schön zeitweise.

oder aber dient er jetzt auch "der Sache", sprich der Front National?
Das glaube ich tatsächlich nicht. Sondern eher dient er seinem Sohn.
Es ist eins wie das andere einfach eine unglaubliche Schweinerei, wenn man an die Folgen denkt.
Das ist vollkommen richtig. Und trotzdem ist Fus ja nicht zur Polizei gegangen und hat die Leute angezeigt, sondern hat sich einen Racheplan ausgedacht. Ich weiß nicht, ob der Punkt im Buch, wo gesagt wird einer der Antifas hat ausgesagt und die anderen damit schwer belastet auch dazu geführt hat, dass diese aufgrund der Körperverletzung an Fus auch noch belangt worden sind. Das würde ich rechtlich richtig finden. Mir geht es aber tatsächlich um den Vater, weil mir alle seine Aktionen für das wiederaufgerollte Verfahren so überkompensiert wirken. Er will gefühlt alles nachholen/wieder gut machen, was er in den Jahren zuvor hat schleifen lassen.
Welchen Gedanken ich noch hatte: Vielleicht geht er zur Fremdenlegion. Konnten sie dort nicht Strafen verkürzen? So ähnlich wie in Amerika?
Ein interessanter Gedanke, an sowas hatte ich noch gar nicht gedacht.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Dieser Bruch in der Gefühlslage des Vaters wird überhaupt nicht begründet. Es passiert nichts, was diese Änderung hervorruft. "ich möchte ihn am liebsten vergessen und so tun, als ob es ihn nie gegeben hätte." Sagt er auf Seite 103 und verhält sich unglaublich gefühlsarm seinem Sohn gegenüber. Er adoptiert Jeremy als Ersatzsohn, bezeichnet ihn auch so. Er tut nichts, um die Berufung zu befördern.

Und dann, auf Seite 132/33 ist er auf einmal geläutert: "Mein Sohn war am Leben und plötzlich war ich darüber so glücklich wie seit Jahren nicht mehr." "Es war mein Sohn, mit dem ich mich in dieser Nacht aussöhnte." Aus dem Nichts. Einfach so, weil es mit der Berufung geklappt hat.

Ab diesem Zeitpunkt hat das Buch für mich seine Kraft verloren. Hier mutiert es zum Leichtgewicht. Auf einmal sieht der Vater eigene Fehler ein, kümmert sich. Dann noch die Abtreibung just eine Woche nach dem Totschlag. Dann der sentimentale (!) Brief, in dem wir auch erfahren, dass Gillou offenbar ein intaktes Leben führen kann. Ich finde diesen Brief fast kitschig. Würde so jemand aus dem Gefängnis schreiben? Ich weiß nicht. "Ich habe weder Mut noch Zeit..." - Letzteres ist gelogen.

Echt schade. Ende misslungen.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Dieser Bruch in der Gefühlslage des Vaters wird überhaupt nicht begründet. Es passiert nichts, was diese Änderung hervorruft.
Aus dem Nichts. Einfach so, weil es mit der Berufung geklappt hat.
Da muss ich widersprechen. Es ging bei der Szene nicht darum, dass die Berufung geklappt hat, sondern darum, dass der Vater zunächst der festen Überzeugung war, dass sein Sohn tot sei, nämlich im Gefängnis umgebracht. Und dann kam mit der Erleichterung, dass die Polizisten wegen der Berufung da sind auch das Erwachsen der väterlichen Gefühle. Ich vergleiche das mit einem Selbstmörder, der doch nicht erfolgreich war und im Krankenhaus aufwacht und froh ist, dass er noch lebt und ab diesem Zeitpunkt sein Leben anders gestaltet. (Das ist bei einer Vielzahl von Menschen nach Suizisversuch übrigens so. Nur die wenigsten ärgern sich, dass es nicht geklappt hat.) Die Möglichkeit, seinen Sohn für immer verloren zu haben, nämlich nicht an das Gefängnis sondern an den Tod, hat ihn zurückgeholt und seine Sichtweise auf sein Verhalten dem "gestorben geblaubten" Sohn gegenüber geändert. Er ist wie "aufgewacht". Quasi "wachgerüttelt" worden. Das war für mich schon glaubwürdig, wenn auch recht zügig erzählt, wie aber eigentlich das gesamte Buch zügig erzählt ist.
"Ich habe weder Mut noch Zeit..." - Letzteres ist gelogen.
Ich habe das so gedeutet, dass er vorhat sich umzubringen bevor er verlegt wird in ein anderes Gefängnis. Da muss er seine Möglichkeiten nutzen und hat eventuell tatsächlich keine Zeit mehr. Es gibt im Gefängnis nur kleine Zeitfenster, in denen ein Selbstmord versucht werden kann, bevor derjenige "zu früh" entdeckt und ggf. noch gerettet wird.
Dann noch die Abtreibung just eine Woche nach dem Totschlag
Ich glaube dabei ging es auch darum die Sache mit dem Schicksal zu unterstreichen. Was wäre geschehen, wenn Krystyna Fus von der Schwangerschaft erzählt hätte, als sie ihn nach dem Krankenhausaufenthalt zuhause besucht hat? Vielleicht wäre er nicht den Schritt gegangen und hätte einen anderen Menschen getötet. So sentimental und kitschig habe ich das alles wirklich gar nicht gelesen. Aber so unterschiedlich lesen wir alle eben.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Müssen wir daraus schließen, dass der Erzähler das erst aus dem Brief erfahren hat?
Das bleibt offen. Und auch Fus weiß es ja nicht. Scheinbar hat Gillou dies seinem Bruder als erstes erzählt noch vor dem Vater (was zur engen Beziehung der beiden passen würde). Da Fus nur selten Besuch bekommt vom Vater, da sich alle abwechseln, kann es sein, dass er nicht weiß, ob Gillou die Nachricht schon an den Vater mitgeteilt hat.
Für mich war diese Info eher eine Nebensache, die zeigen sollte, dass jetzt wieder einiges an Zeit vergangen ist und Gillou irgendwie seinen Weg gefunden hat.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Da muss ich widersprechen. Es ging bei der Szene nicht darum, dass die Berufung geklappt hat, sondern darum, dass der Vater zunächst der festen Überzeugung war, dass sein Sohn tot sei, nämlich im Gefängnis umgebracht. Und dann kam mit der Erleichterung, dass die Polizisten wegen der Berufung da sind auch das Erwachsen der väterlichen Gefühle.
Es ist aber schon reichlich merkwürdig, dass die Polizei mit Blaulicht vorfährt, um so eine Mitteilung zu machen. Bei uns in Deutschland würde die Polizei da gar nicht tätig werden, das erfährt man ganz normal aus einem Brief an den Rechtsanwalt, wenn er es nicht vorher schon per Flurfunk am Gericht erfahren hat.
 

Literaturhexle

Moderator
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2. April 2017
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Und dann kam mit der Erleichterung, dass die Polizisten wegen der Berufung da sind auch das Erwachsen der väterlichen Gefühle.
Aber er war doch vorher schon - über Monate - fertig mit dem Sohn... Er hat sich unväterlich verhalten. Und da bringt ein bisschen Blaulicht und ein Schreck in der Abendstunde eine solche Wende? Das glaube, wer will, auf mich wirkt das konstruiert in dem Sinne: Wie bekomme ich jetzt die gefühlsmäßige Vater-Wende hin?
Ich habe das so gedeutet, dass er vorhat sich umzubringen bevor er verlegt wird in ein anderes Gefängnis.
Es gibt Hinweise, die für eine reine Verlegung sprechen und welche, die für einen Suizid sprechen. Für die inhaltliche Sentimentalität und Pathetik würde Letzteres sprechen. Es bleibt offen. Dennoch überzeugt mich das nicht, Ideal für unsere Diskussion allerdings;)
Ich glaube dabei ging es auch darum die Sache mit dem Schicksal zu unterstreichen.
Ja, das könnte eine plausible Lesart sein. Ich empfand sie anders.