3. Leseabschnitt: Kapitel 13 bis 19 (Seite 118 bis 181)

Emswashed

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9. Mai 2020
2.676
9.518
49
Sorry, wenn ich so vorpresche, aber der dritte Abschnitt hat mich jetzt unerwartet überrumpelt.
Erst Elisabeths Körper, der endlich auch mal berührt wird und das von einem Mann, der echtes Interesse an ihm hat (wow, was für ein post-mortem-happy-end), hat etwas, bei aller Nüchternheit, sehr Anrührendes.
Dann die van Hellingens, die ganz zwischenmenschlich miteinander reden - aber warum steht jeder Satz einzeln - ach so, das Smartphone hängt dazwischen - seufz.
Das WWW bringt uns Liesbeths Sorge und ihre Hilflosigkeit gegenüber ihrer Tochter näher - ganz ehrlich?, meine Suchen im Netz bringen mich auch immer öfter zum Verzweifeln.
Und Muriels Zweifel, die sie nur ihrem Anwalt anvertraut und dieser, ganz in seinem Berufsethos, rät, darüber zu schweigen.
Aber so richtig aus den Socken gehauen hat mich die Erzählung selbst. Sie ist unzufrieden mit der fehlenden Aufmerksamkeit der Autorin und warnt uns Leser schon vor, dass im Prinzip nichts Neues kommt.
Dabei kommt noch die Demenz, sehr eindrücklich und die Wollsocken, die, immer ganz nah am Körper, Unwahrheiten gleich mitbekommen.

All diese Dinge, Gefühle und auch Menschen sind so eigenständig. Keiner erzählt vom anderen, oder bezieht sie ein. Jeder, jedes kramt so vor sich hin und die Melodie, die für ihre Schwester da sein wollte, hats falsch gemacht. Hmm, welche Rückschlüsse soll man daraus ziehen?
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
2.556
12.500
49
47
Die Erzählung lügt auf jeden Fall, denn schon das nächste Kapitel der Demenz hat mich wiederum sehr aufgewühlt - von wegen nichts Neues mehr...

Ich war sehr bewegt vom Demenz-Kapitel, weil ich noch nie einen Text aus dieser Perspektive gelesen habe. Ich war familiär selbst von einer Demenz betroffen und habe tatsächlich das Gefühl, dass Gerda Blees sich außerordentlich gut in diese Perspektive hineinfühlen kann. Natürlich weiß niemand wirklich, welche Gedanken eine Demenzkranke wirklich hat, aber auf mich wirkt das so authentisch. Genau so könnte es sein! Das fand ich großartig.

Die Erzählung fand ich allerdings auch genial. Eine echte (abermalige) Überraschung, dass der Text sich plötzlich auf eine Meta-Ebene bewegt und sogar die Autorin kritisiert. Denke ich näher darüber nach, kann man der Erzählung in ihrer Kritik vielleicht sogar Recht geben. Auf Handlungsebene geht es in der Tat sehr langsam bis gar nicht voran. Und dennoch stört es mich überhaupt nicht. Vielmehr staune ich über jede Passage, jede neue Perspektive.

Auch der Geschwister-Chat gehört natürlich dazu, genauso wie Melodies Blog-Einträge.

Was mich außerdem überrascht: Um einen Roman richtig zu spüren und zu lieben, benötige ich in der Regel eigentlich eine Bezugsfigur. Die muss nicht zwingend sympathisch sein, aber sie muss etwas in mir bewegen. Wie Anton zuletzt in "Das Versprechen" zum Beispiel. In diesem Buch ist es aber gar nicht so, ich wüsste nicht, welche Figur mich richtig tangiert. Elisabeth tut mir natürlich leid, aber ich kenne sie ja kaum. Und trotzdem genieße ich jede Seite...
 

Christian1977

Bekanntes Mitglied
8. Oktober 2021
2.556
12.500
49
47
All diese Dinge, Gefühle und auch Menschen sind so eigenständig.
Das Gefühl habe ich nur teilweise. Petrus und Muriel stehen natürlich total unter Melodies Fuchtel, und selbst die Gegenstände oder andere Abstrakta sind häufig nicht subjektiv. Der Tatort zb wollte die Bewohner im Grunde eher verteidigen. Noch stärker spürt man das bei den Wollsocken, die Melodie aber eben auch noch viel näher sind.
Melodie, die für ihre Schwester da sein wollte, hats falsch gemacht.
Ist dem wirklich so? Oder will sie nicht vielmehr ihre eigene Weltanschauung ihrer Schwester und den anderen beiden überstülpen, um Anerkennung und Bestätigung zu bekommen? Geht sie in ihrer Anschauung sogar so weit, selbst den Hungertod zu sterben, nur um ihre Ideale nicht zu verraten?
 

wal.li

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1. Mai 2014
2.713
2.674
49
Die Fähigkeit der Autorin sich in Menschen, Dinge, Zustände und Wollsocken hineinzuversetzen ist wirklich erstaunlich. Ich kann mich nicht erinnern, dass mir so ein Buch schon mal begegnet ist.
Es ist schon krass, dass die Wohngruppe in ihrer fehlgeleiteten Besonderheit dazu kommt, ein Mitglied verhungern zu lassen. "Ich kann nicht mehr" heißt ja schließlich nicht "Ich will nicht mehr". In meinen Augen wollte Elisabeth nicht sterben. Wenn Melodie nicht so vernagelt wäre, hätte sie das merken müssen und handeln. Die beiden anderen, sind nicht aufgestanden. Es müssen wohl alle drei damit klarkommen, dass sie einen Menschen sterben ließen. Ein Tod, der nicht hätte sein müssen.
Aber ich genieße die außergewöhnliche Darstellungsweise und freue mich auf das, was die Autorin noch in petto hat.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
2.229
10.411
49
Thüringen
Ich beginne meinen Kommentar gleich mal mit einer (kleinen) Kritik, um dann wieder ins Staunen zu verfallen.
Tatsächlich fand ich es schade, dass die Autorin bei den "van Hellingens" auf den mittlerweile fast schon überstrapazierten Dreh gekommen ist, eine WhatsApp-Unterhaltung nachzuzeichnen. Ja, natürlich zeigt das wie Kommuniation durch moderne Medien verzerrt und unterbrochen wird... Aber ich hätte das Buch gern allein mit diesem riesigen Leuchtturm von Idee zu den Erzählperspektiven stehen lassen, ohne das Vehikel des Chatverlaufs. Und dafür, dass dies innerhalb des Romans eine Neuerung darstellt, hat uns der Verlauf jetzt auch nicht so viele neue Einsichten gegeben. Da haben das die "Dinge", die erzählen durften, meines Erachtens viel besser geschafft.

Nun wieder zur Lobhudelei:
Der "Körper" hat mich total umgehauen. Wie wichtig dieses konkrete Wahrnehmen eines Menschen und seines Körpers ist. Wie viele Probleme reduziert werden könnten, wenn sich Menschen wahrgenommen fühlen könnten und wir andere Menschen besser wahrnehmen würden. Ins Innere schauen, natürlich ohne das Skalpell zu zücken.
Im "WWW" Kapitel ist mir neben der Verhängnis des Mitziehenlassens von scheinbar gesunden/erhellenden Trends, die Verblendung in Melodies Blogeinträgen (aber Melodie scheint ja generell verblendet), vor allem die Videovorstellung von Elisabeth hängen geblieben. Sie kann sich gar nicht mehr anders definieren als "Melodies Schwester". Wenn von der Persönlichkeit nicht übrig bleibt... Bei dieser "Old MacDonald Had a Farm"-Persiflage war ich mir nicht so sicher, ob mir das gefällt im Roman. Das erschien mir für den Ernst der Lage schon von der Autorin stark ins Lächerliche gezogen. Ja, das zum Schmuzeln hatten wir zu Beginn häufiger im Buch bezüglich des Spirituellen, aber hier fand ich es etwas over-the-top.
Beim "Zweifel" wurde das Buch fast zum Thriller. So habe ich gehofft, dass Muriel all das ausspricht und dann kommt der kluge Anwalt, der alles wegwischt und in der Versenkung verschwinden lässt. Wie lange Muriel ihre eigenen Ansichten hat unterdrücken müssen, um dann hier einen Redeschwall ohne Punkt und Komma rauszulassen. Umsonst.
[Exkurs: Da musste ich mein Schreiben doch direkt unterbrechen, um Erbrochenes vom Hund vom Teppich zu entfernen. Nein, keine Bulimia nervosa, wie ihr vielleicht denkt. Vielmehr ein nervöser Magen nach dem übermäßigen Verzehr von Walnüssen mit Schalen plus Katzenkot im Garten.]
Wie schon oben erwähnt, finde ich auch den Kniff, die "Erzählung" zu Wort kommen zu lassen, wieder einmal toll. Dass diese Autorin es schafft, mich auch noch im späteren Verlauf des Buches zu überraschen.
Auch die "Demenz" ist fachlich grandios dargestellt. Ich möchte nur noch schwärmen.
Und natürlich die "Wollsocken", denn was brauchen runtergehungerte Menschen so wie Wärme? Nichts. Nagut, vielleicht noch etwas Nahrhaftes. Aber muss nicht erst erwähnt werden. ;)
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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49.196
49
Der Ideenreichtum dieser Autorin ist phänomenal! Wen sie hier alles zum Reden bringt, welche Bezüge sie herstellt, welches Potpourri sie uns an Perspektiven bietet, um einen möglichst genauen Einblick in die Geschehnisse rund um Elisabeths Tod zu geben. Große Klasse!

Melodie hat die anderen mit ihrer Welt- und Lebensanschauung dominiert. Sie tut es mit ausdauerndem Sanftmut, sie ist durchsetzungsstark, aber nicht aggressiv. Sie hat es geschafft, dass die anderen sich ihr, ihrem Guru, unterordnen, geschwächt, wie sie alle sind. Das gilt auch für Muriel, die noch von den meisten Zweifeln heimgesucht wurde.

Den Geschwistern zufolge war E. bis zu ihrem Burnout normal, erst danach wurde sie immer stiller und unscheinbarer. Bis jetzt wissen wir nicht, was konkret vorgefallen war.

Krönung der Erzählkunst ist der Abschnitt 17 "Wir sind die Erzählung". Da kann man doch echt mal lachen! Da fließen so viele Gedanken hinein, wie sie Schriftsteller wahrscheinlich im Schaffensprozess haben. Hier wird mit dem Leser und seinen Erwartungen gespielt. Super!

Die Demenz-Seiten habe ich tatsächlich laut gelesen. Fantastisch, wie die Autorin diesen Wortstrom gestaltet hat, der immer weniger Sinn ergibt und inhaltlich verschwimmt. Je mehr Personen an einer Unterhaltung teilnehmen, desto schneller klinkt sich der Demenzkranke aus, je weniger bekommt er mit, je eher gehen die eigenen Gedanken durch. Das wird sehr glaubwürdig eingefangen.

Die Wollsocken sind auch klasse. Skurril, aber großartig. Ich bin hin und weg!
 

Literaturhexle

Moderator
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2. April 2017
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Und dennoch stört es mich überhaupt nicht. Vielmehr staune ich über jede Passage, jede neue Perspektive.
So geht es mir wirklich auch. Es kommt nicht viel Neues (was uns die Erzählung ja auch verraten hat), dennoch ist die Art der Darlegung innovativ, kurzweilig und interessant zu lesen.
den mittlerweile fast schon überstrapazierten Dreh gekommen ist, eine WhatsApp-Unterhaltung nachzuzeichnen.
Haha! Ich glaube, ich habe so etwas noch gar nicht gelesen! Lesen wir etwa völlig unterschiedliche Bücher? Das gibt mir zu denken :p
(Kann mich nur an "Gut gegen Nordwind" erinnern, aber da waren es ja Mails...)
Abgesehen von deinen kleinen Kritikpunkten stimme ich dir vollumfänglich zu!
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Tatsächlich fand ich es schade, dass die Autorin bei den "van Hellingens" auf den mittlerweile fast schon überstrapazierten Dreh gekommen ist, eine WhatsApp-Unterhaltung nachzuzeichnen.
Ich habe das auch noch gar nicht so oft gelesen, aber im Vergleich zu den anderen Perspektiven ist es schon ein Stilbruch. Bei so vielen Kindern hätte Gerda allerdings sonst auch gleich drei Kapitel für die Leute opfern müssen...
Vielmehr ein nervöser Magen nach dem übermäßigen Verzehr von Walnüssen mit Schalen plus Katzenkot im Garten
What?? Der Arme, aber ich musste trotzdem so lachen...
Der Ideenreichtum dieser Autorin ist phänomenal!
Klasse oder? Und das als Debüt. Hoffentlich hat sie ihr kreatives Pulver nicht schon verschossen. Naja, vielleicht ist das etwas gemein. Aber sie wird sich immer daran messen lassen müssen.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Lesen wir etwa völlig unterschiedliche Bücher?
Ich glaube nicht sooo verschieden, aber wahrscheinlich diesbezüglich gerade genau unterschiedliche Bücher. ;)
Ja, tatsächlich ist mir das schon häufiger über den Weg gelaufen. Ist grundsätzlich okay, aber hier gefällt es mir nicht so gut. Außerdem hätte dann meines Erachtens das Kapitel mit "Wir sind das Smartphone" oder "Wir sind die Nachrichten-App" heißen sollen und nicht "Wir sind die van Hellings".
aber ich musste trotzdem so lachen...
Nur deshalb habe ich "diese Erfahrung mit euch geteilt". Und glaube mir, ich habe meine wahren Gefühle auf ganz verbindender, emotionaler Ebene in dem Moment gezielt nicht euch offenbaren wollen, um euch in eurem spirituellen Vibe nicht zu stören. Ansonsten alles knorke mit der Kotze. :cool:
Naja, vielleicht ist das etwas gemein. Aber sie wird sich immer daran messen lassen müssen.
Darüber hatte ich noch gar nicht anchgedacht. Aber das stimmt, da legt sie schon die Latte ganz schön hoch für spätere Veröffentlichungen.
 

Literaturhexle

Moderator
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2. April 2017
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Außerdem hätte dann meines Erachtens das Kapitel mit "Wir sind das Smartphone" oder "Wir sind die Nachrichten-App" heißen
Den Vorschlag lasse ich gelten. Aber dann hätte vermutlich das Ding auch erzählen müssen und es hätte diese netten Dialoge nicht gegeben. Ich kenne diese Überschneidungen tatsächlich nur aus der eigenen WhatsApp Praxis und fand sie sehr originell.

ich habe meine wahren Gefühle auf ganz verbindender, emotionaler Ebene in dem Moment gezielt nicht euch offenbaren wollen,
Aaaachsoooo. Ich habe dich so bewundert Angesichts der inneren Ruhe. So lecker war das gewiss nicht. In dem Moment war ich riesig froh, kein Haustier zu besitzen :p
 

ulrikerabe

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14. August 2017
3.050
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Ich war sehr bewegt vom Demenz-Kapitel, weil ich noch nie einen Text aus dieser Perspektive gelesen habe. Ich war familiär selbst von einer Demenz betroffen und habe tatsächlich das Gefühl, dass Gerda Blees sich außerordentlich gut in diese Perspektive hineinfühlen kann. Natürlich weiß niemand wirklich, welche Gedanken eine Demenzkranke wirklich hat, aber auf mich wirkt das so authentisch. Genau so könnte es sein! Das fand ich großartig
Ich gebe dir so recht. Dieses Kapitel hat sehr nach mir gegriffen. Vor allem da , wo sich mir eine Spirale im Kopf drehr: Wie trauern um einen Menschen, an den man sich nicht erinnern kann und gleichzeitig zu spüren, dass es dieses Gefühl der Traurigkeit geben muss, weil da etwas fehlt, woran man sich nicht erinnert.
 

ulrikerabe

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14. August 2017
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Tatsächlich fand ich es schade, dass die Autorin bei den "van Hellingens" auf den mittlerweile fast schon überstrapazierten Dreh gekommen ist, eine WhatsApp-Unterhaltung nachzuzeichnen. Ja, natürlich zeigt das wie Kommuniation durch moderne Medien verzerrt und unterbrochen wird...
Dieses Kapitel fand ich am wenigsten ansprechend und auch schwierig. Fast so wie in eine Leserunde zu spät einzusteigen und alle Kommentare durchackern zu müssen.

Hängen geblieben ist mir hier nur der Gedanke. Was soll man da schon sagen Und man wird ja noch was sagen dürfen.
 
Zuletzt bearbeitet:

ulrikerabe

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14. August 2017
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All diese Dinge, Gefühle und auch Menschen sind so eigenständig. Keiner erzählt vom anderen, oder bezieht sie ein. Jeder, jedes kramt so vor sich hin und die Melodie, die für ihre Schwester da sein wollte, hats falsch gemacht. Hmm, welche Rückschlüsse soll man daraus ziehen?
Genau das ist in Wirklichkeit die Schwierigkeit, die hier zum Beispiel die Ermittler, später vielleicht auch die Gerichte haben. Aber auch ganz allgmein. Wenn "wir" uns ein Urteil über etwas bilden, haben wir auch nie und nimmer alles am Tisch. Wir setzen die Bruchstücke zusammen, die leeren Flecken werden ergänzt durch Lebenserfahrung Klischees, Naturgesezte oder ganz simple Vermutungen.
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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44
Der Roman ist einfach grandios. In diesem Teil finden sich die für mich die absoluten Glanzstücke: "Wir sind die Erzählung" und "Wir sind die Zweifel" - auf die Idee muss man erst einmal kommen!

Aber so richtig aus den Socken gehauen hat mich die Erzählung selbst.

Mich auch!

Hier wird mit dem Leser und seinen Erwartungen gespielt. Super!

Die Erzählung finde ich großartig, sie ist ein echtes Juwel mit ihrer Aufforderung nach lautem, konzentrierten Lesen, ihrer direkten Ansprache an den Leser, mit ihrer Selbstsicherheit und ihrer Aufzählung von Lesererwartungen - absolut gelungen!

Eine echte (abermalige) Überraschung, dass der Text sich plötzlich auf eine Meta-Ebene bewegt und sogar die Autorin kritisiert. Denke ich näher darüber nach, kann man der Erzählung in ihrer Kritik vielleicht sogar Recht geben.

Die Meta-Ebene finde ich hier so klug genutzt - ich würde der Erzählung tatsächlich auch Recht geben, genau das sind die Kritikpunkte, die ich bisher gehabt hätte - und so wird dem Leser sehr geschickt der Wind aus den Segeln genommen, so à la: "Der Roman versteht mich, auch wenn die Autorin es nicht ganz hinbekommt; aber da kann die Erzählung ja nichts für." ;)

Die Zweifel spürt man förmlich, vor allem, wenn Muriel ihre Bedenken in Worte fasst und ihre Schilderung dem Anwalt gegenüber das Ausmaß eines unendlichen Schachtelsatzes erhält. Das war einfach fantastisch.

Tatsächlich fand ich es schade, dass die Autorin bei den "van Hellingens" auf den mittlerweile fast schon überstrapazierten Dreh gekommen ist, eine WhatsApp-Unterhaltung nachzuzeichnen.

Ich fand es eigentlich sehr abwechslungsreich und den Austausch zwischen den Geschwistern überzeugend und authentisch eingefangen, mit seinen Überschneidungen, seinen sehr typischen komprimierten Gefühlslagen. Es passt vielleicht stilistisch nicht wirklich zum Rest, aber es zeigt, wie gut die Autorin auch das beherrscht.

Ich lese ungern über Demenz, aber auch hat die Autorin die richtige Sprache gefunden.

Ich bin wirklich sehr beeindruckt von der Erzählkunst - das ist so neu, anders und mutig und vor allem abwechslungsreich.

Der Tatort zb wollte die Bewohner im Grunde eher verteidigen.
Ich habe den Eindruck, dass wir hier in jedem Kapitel mit einer ganz subjektiven Weltsicht, einer sehr eigenen Perspektive und vor allem einem eigenen Interesse konfrontiert werden. Jedes "Wir" will das Geschehen beeinflussen (das WhatsApp-Kapitel mal ausgenommen, das meiner Meinung nach auf die Oberflächlichkeit und Hast zwischenmenschlicher Beziehung abzielt) und in eine bestimmte Richtung lenken - ist letztlich aber (in unterschiedlich starker Ausprägung) vor allem an der eigenen Bedeutung und Wichtigkeit interessiert.

Hoffentlich hat sie ihr kreatives Pulver nicht schon verschossen.
Ja, das hoffe ich auch! Und tatsächlich habe ich auch darüber schon nachgedacht - was soll da noch kommen?
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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49
Ich freue mich riesig @luisa_loves-literature , das der Roman dich auch noch eingefangen hat, nach deinen ersten unentschlossenen Tönen!

ein echtes Juwel mit ihrer Aufforderung nach lautem, konzentrierten Lesen,
Ich mache das tatsächlich, wenn ich allein bin und der Text es wert ist. Ich empfinde die Sprache dann viel intensiver. Insofern kann ich der Erzählung auch da beipflichten.

Ich fand es eigentlich sehr abwechslungsreich und den Austausch zwischen den Geschwistern überzeugend und authentisch eingefangen, mit seinen Überschneidungen,
Ja, ging mir auch so. Ich fühlte mich wie in unserem Familienchat, wenn irgendetwas Aufregendes passiert ist...
Das muss man erstmal so lebensecht aufschreiben können.

Jedes "Wir" will das Geschehen beeinflussen
Dann ist es doch der Pluralis Majestatis. Der wird bei Wiki sehr ähnlich erklärt.Für mich passt auch das allumfassende WIR im Sinne von wir alle zusammen.
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Ich mache das tatsächlich, wenn ich allein bin und der Text es wert ist. Ich empfinde die Sprache dann viel intensiver. Insofern kann ich der Erzählung auch da beipflichten.
Ich auch! Es gibt viele Texte, bei denen mir durch das laute Lesen dann auch eine bestimmte Erzählmelodie, vielleicht auch mal etwas Poetisches auffällt. Die Zweifel habe ich mir zum Beispiel auch laut durchgelesen und so wurde die Endlossschleife von Muriels Bedenken viel intensiver. Ich kann mir tatsächlich auch den Inhalt besser merken, wenn ich laut lese - die Erzählung weiß wirklich gut Bescheid!

Ich fühlte mich wie in unserem Familienchat
Bei uns läuft es auch so - wie ein großes Durcheinanderreden: einer ist schon weiter, während der andere sich noch an irgendeinem Thema abarbeitet. Ich finde auch, dass es nicht so einfach ist, solch einen Austausch glaubwürdig nachzuahmen. Irgendwie habe ich das Kapitel als Zwischenentspannung empfunden. Es erzählt viel über die Beziehung der Geschwister untereinander und über deren Ansichten, liest sich aber schnell - vielleicht, weil wir alle schon an solche Austausche gewöhnt sind.
 

Literaturhexle

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Die Zweifel habe ich mir zum Beispiel auch laut durchgelesen und so wurde die Endlossschleife von Muriels Bedenken viel intensiver.
Das habe ich nicht gemacht und deshalb wohl auch weniger Intensität wahrgenommen. Dafür habe ich die Demenz laut gelesen: traurig, aber fantastisch!
Ich bin auf der Suche nach einem brauchbaren Hörbuch. Jetzt höre ich in dieses mal rein :p
 
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Reaktionen: Emswashed

Sassenach123

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2015
4.295
10.432
49
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Ich mache das tatsächlich, wenn ich allein bin und der Text es wert ist. Ich empfinde die Sprache dann viel intensiver. Insofern kann ich der Erzählung auch da beipflichten.
Ich habe es hier zum ersten Mal ausprobiert, und man ist tatsächlich gezwungen alles konzentrierter zu lesen, Überfliegen ist da nicht, folglich entgeht einem tatsächlich weniger. Mit dem Abschnitt hat die Autorin uns ganz schön gefordert, ich denke, die meisten haben sich die Seite 17 erneut angesehen:cool: