3. Leseabschnitt: Frühling

RuLeka

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30. Januar 2018
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Sie machen uns die Eltern nicht zwingend sympathischer, aber zumindest sieht man, dass ein Mensch aufgrund seiner Lebenserfahrungen zu dem wird, was er dann als erwachsener Mensch darstellt.
Genau! All das sind keine Entschuldigungen für ihr Verhalten, aber man begreift, dass sie auch ein Produkt ihres Umfelds sind. Ein Umfeld, das einem Schwarzen Kind von vornherein die schlechteren Karten zuspielt.
Da gibt es verschiedene Darstellungen im Internet dazu, die einfach verdeutlichen was gemeint ist, dass nicht jedem mit einfach nur "alles gleich" geholfen ist:
Die Bilder sind großartig. So kann man wirklich jedem zeigen, worin der Unterschied liegt und der alte Spruch „ Jedem das Gleiche“ zu kurz greift.
Morrison zeigt sehr gut auf, dass es für jedes menschliche Verhalten einen Grund, einen Auslöser gibt. Nichts kommt aus dem Nichts. Aber absolut abscheulich bleibt es deshalb trotzdem
Ja.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Am Tag, als […] gepackt war, und die Streitigkeiten darum, wer was bekommen sollte, zu einem klebrigen Restchen Bratensaft auf jeder Zunge verkocht waren, […].“ S. 196

Folgende nicht ganz so krass, aber dennoch:

„… strotzender Männergeruch… S. 199

„…bis die Sonne sich achselzuckend außer Sicht begab.“ S. 199

„… harte Gewohnheiten und eine weiche Phantasie…“ S. 220

Trotz aller Sprachdisruption bin ich sehr gepackt und gespannt, wie es weiter geht.
Diese Sätze sind mir auch aufgefallen, sie wirken tatsächlich etwas sperrig, ich habe es eher auf die Übersetzung geschoben. Einiges fügt sich in der Originalsprache ja doch besser ein
Pecola erlebt ihre Mutter, wie sie sich liebevoll um das kleine, blonde Mädchen mit den blauen Augen kümmert, während sie ihre eigenen Kinder ammy und Pecola verprügelt und vernachlässigt, sich der Öffentlichkeit jedoch als tugendhafte Mutter präsentiert, die sich für die Familie aufopfert.
Ich empfand dies für beide schlimm. Pecola sieht was möglich ist, will auch so leben wie dieses Kind, will die selbe Aufmerksamkeit und Fürsorge, und fragt sich sicher, warum sie sie nicht bekommt.
Pauline beschreibt ja selbst in einer anderen Passage wie sehr ihr das Lob der Familie gut tut. Wobei ich glaube, dass sie mit dieser Familie großes Glück hatte, die meisten setzten dieses Können sicher voraus und lobten dies sicher nicht. Pauline reizt es nur zu noch größeren Leistungen, sie geht in dieser Bestätigung, die sie sonst nirgends bekommt, auf.
Und das ist Claudia auch bewusst.
Wir dürfen nicht vergessen, dass in dieser Zeit verbale und tatsächliche Gewalt gegenüber Kindern keine Ausnahmen waren.
Das stimmt, ich muss es mir beim lesen oft noch einmal bewusst machen. Hätten wir den Roman vor 30 Jahren gelesen, wären auch unsere Eindrücke sicher noch ein wenig anders ausgefallen
Das fand ich auch großartig dargestellt - wie diese Flucht in die Kinowelt sie noch mehr mit den weißen Standards konfrontiert - und wie sie aufgibt, dem nachzueifern, als ihr ein Schneidezahn abbricht. Ab dem Zeitpunkt sieht sie sich selbst als hoffnungslos häßlich an. Man stelle sich das vor ...
Ja, und in den Filmen wird ja auch immer nur der perfekte Weiße dargestellt, wenn Schwarze vorkamen, dann war es eher so, dass sie nicht gut dabei weggekommen sind. Wie soll man da ein gutes Selbstbildnis entwickeln. Ein Teufelskreis
Wobei seine Vergangenheit - bei allem Mitleid - keinerlei Rechtfertigung für seine Übergriffe auf Pecola sein dürfen.
Es ist auch nicht so, dass jeder vaterlos aufgewachsene Junge ein schlechter Vater wird. Man sieht ja nicht nur den eigenen Vater. Und die Tante scheint ein guter Mutterersatz gewesen zu sein, jedenfalls 13 Jahre lang.
Das sehe ich auch so, er hat schreckliches erlebt, das ist richtig, entschuldigt sein Verhalten aber nicht
Colorismus ist eine Folge von Rassismus. Die Normen und Werte der weißen Mehrheitsgesellschaft sind nicht nur durch die Lesefibel, sondern durch Kino, Werbung, Produkte (es gab lange kein Make-up für schwarze Frauen) allgegenwärtig. Das ist ja das Perfide: Weiße müssen gar nicht präsent sein, damit ihr System wirkt.
Und bei vielem wird es einem leider nicht mal bewusst….
Den Abschnitt fand ich einfach schrecklich, das er sich als Vater so wenig im Griff hat um zu wissen, das dies falsch ist. Ich war mir ehrlich gesagt nicht ganz sicher, ob er das wirklich getan oder geträumt hat.
Wurde am Anfang ja schon drauf eingegange, von daher war ich mir sicher, dass es kein Traum war
Es gibt nicht einmal hautfarbene Pflaster für Schwarze. Ich hatte nie darüber nachgedacht, bis mich meine senegalesische Kollegin darauf aufmerksam machte. Es ist allerdings 15 Jahre her, vielleicht hat es sich ja geändert.
Im Regal im Supermarkt gibt es sie bisher nicht, vielleicht kann man sie im Internet erwerben. Ich habe bisher gar nicht darüber nachgedacht, dass das für Schwarze unangenehm sein könnte, mag gar nicht darüber nachdenken bei wie vielen anderen Dingen es ähnlich ist….
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Mir gefällt, dass die Autorin uns viele verschiedene Ansichten zeigt. Auch wenn am Ende trotzdem nur deutlich wird, dass alle auf ihre Art zerbrochen sind durch dieses schändliche System ist es wichtig, um das gesamte Ausmaß erkennen zu können.
Die Geschichte um Whitecomb, den vermeintlichen Geistlichen mochte ich nicht, auch wenn sie Pecolas Not unterstreicht und ihren Wunsch blaue Augen zu bekommen hervorhebt. Ob er mit seiner selbstsüchtigen Tat in Pecola überhaupt etwas positives auslösen konnte?
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Die Polizisten, die durch ihre Intervention aus einem einvernehmlichen Akt eine Vergewaltigung machen, lösen das aus. Cholly lenkt den Hass, deren "richtiges" Ziel die Polizisten sein müssten, auf Darlene - wie wenn ein Fluss durch ein Hindernis umgelenkt wird.
Wieso "Polizisten"? Es ist "nur" von weißen Männern die Rede, die Gewehre haben. Wären es Polizisten, hätte der Akt eine andere, spezifiziertere Dimension, aber es sind einfach weisse Männer, die allein durch ihre Haufarbe und ihr Verhalten Autorität ausüben und nachhaltigen Einfluss auf Chollys Leben und dann auch auf das seiner Tochter haben. Es geht hier um weisse Maskulinität insgesamt, die negative, allumfassende Auswirkungen hat.
In einem Roman, der für Schwarze geschrieben wurde, und das ist die eigentliche Zielgruppe von Toni Morrison, darf das gerne so gehandhabt werden.
Ist er das? Ich meine, was die Zielgruppe anbelangt?

In diesem Kapitel ist eine Menge enthalten, dass in erster Linie schon sehr schmerzhaft auf den Leser einwirkt - obwohl doch eine eher nüchterne Sprache, auf den Punkt und emotional distanziert, verwendet wird.

Es ist ein Kapitel voller Enttäuschungen und Zurückweisungen, angefangen mit Paulines Entscheidung, sich mehr um das fremde, weiße Kind (das natürlich alle Schönheitsstandards erfüllt) zu kümmern, als um ihre eigene Tochter, die in der Situation nicht den Erwartungen an gutes Benehmen entspricht und Chaos verursacht.

Zu Pauline kommt die Enttäuschung als sie feststellt, dass das Leben und vor allem die Liebe nicht so sind wie das Hollywood-Kino es verspricht. Als Motiv ist ihre Flucht in die Kinowelt bezeichnend, weil es hier auch wieder um gesellschaftliche Standards von Schönheit und einem perfekten Leben geht.

Cholly - tja, das Kapitel ist schwer zu ertragen. Aunt Jimmy bereitet eigentlich einen guten Kindheitsbeginn, aber mit ihrem Tod und den Ereignissen mit Darlene am Tag der Beerdigung, bricht die positive Entwicklung ab und nimmt einen schrecklichen Verlauf. Cholly verstummt in gewisser Weise, bezeichnend fand ich auch seine Unfähigkeit, sich näher auf seinen Vater zu zubewegen, auch er wird hier zurückgewiesen, und das anschließende Malheur auf den Kisten. Cholly ist zwar ein Monster, aber zumindest in seiner ganz frühen Kindheit und Jugend auch immer wieder ein bedauernswertes.

Soaphead Church nutzt seine Zurückweisung durch Velma als Rechtfertigung für seine sexuellen Neigungen und auch sein sonstiges Verhalten. Berechtigung für sein Gefühl der Überlegenheit findet er in seiner helleren Hautfarbe (ähnlich wie auch Maureen), seinem britischen Akzent und seiner Bildung, die aber sehr selektiv ist (diese Einlassung fand ich äußerst amüsant). Auch wenn man dieser Figur nicht mit Sympathie begegnen kann, finde ich ihn gut und glaubwürdig konzipiert. Morrison gelingt es auf wenigen Seiten und vor allem auch durch den Brief von Church an Gott, für den er am liebsten Siegelwachs hätte - wie einer seiner britischen Vorfahren - seine Persönlichkeit schlüssig darzustellen.
 

RuLeka

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Ist er das? Ich meine, was die Zielgruppe anbelangt?
Ich habe mich vor Jahren mal intensiv mit Toni Morrison beschäftigt und erinnere mich an eine Aussage, dass es ihr nicht darum ginge, die Welt der Schwarzen den Weißen zu erklären, sondern dass sie die Schwarze Leserschaft im Blick habe. Zumindest habe ich das damals so verstanden. Auch in diesem Buch wird nicht viel von Übergriffen durch Weiße erzählt, sondern von den Verheerungen, die der von außen übernommene Selbsthass anrichtet. Natürlich ist das auch ein Buch für weiße Leser, doch für mich sind die eigentlichen Adressaten Schwarze.
 

Barbara62

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Baden-Württemberg
mit-büchern-um-die-welt.de
Ich habe mich vor Jahren mal intensiv mit Toni Morrison beschäftigt und erinnere mich an eine Aussage, dass es ihr nicht darum ginge, die Welt der Schwarzen den Weißen zu erklären, sondern dass sie die Schwarze Leserschaft im Blick habe. Zumindest habe ich das damals so verstanden. Auch in diesem Buch wird nicht viel von Übergriffen durch Weiße erzählt, sondern von den Verheerungen, die der von außen übernommene Selbsthass anrichtet. Natürlich ist das auch ein Buch für weiße Leser, doch für mich sind die eigentlichen Adressaten Schwarze.
Kann gut sein, dass sie es so gedacht hat - und bei Alice Hasters hat es ja auch viel bewirkt. Aber ich habe mich als weiße Leserin trotzdem sehr angesprochen gefühlt. Ich habe lange nicht mehr so viel bei einem Roman dazugelernt.
 

RuLeka

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Kann gut sein, dass sie es so gedacht hat - und bei Alice Hasters hat es ja auch viel bewirkt. Aber ich habe mich als weiße Leserin trotzdem sehr angesprochen gefühlt. Ich habe lange nicht mehr so viel bei einem Roman dazugelernt.
Das ist ja auch gut so. Aber Literatur, in der sich Weiße wiederfinden, gibt es unendlich viel, solche, in denen Schwarze die Hauptrolle spielen, nicht.
 

Julea56

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Und Mr. Henry, hab ich´s doch geahnt, vergreift sich an kleinen Mädchen.
Ja, man hatte ihn von Anfang an in Verdacht!

Treffendste Passagen erleiden eine sprachliche Disruption durch schiefe Metaphern oder abwegige Vergleiche.
Ich glaube, genau solche Auswüchse findet sie vielleicht inzwischen selbst zu pathetisch und daher das Vorwort.
Und so zieht sich das oft über Generation hinweg dahin.
Mir gefällt aber, dass Toni Morrison die Eltern nicht nur so darstellt, wie sie jetzt sind, sondern die Gründe offenlegt, warum sie so geworden sind.
Darüber habe ich auch nachgedacht und mich aber gefragt, ob das nicht zu viel des Verständnisses für die Täter ist. Natürlich möchte Morrison Schwarz-Weiß-Denken vermeiden, aber ich fand die Szene, obwohl solche Fürchterlichkeiten leider Realität sind, eine solche Zumutung, dass die ganze Vorgeschichte Chollys für mich einen äußerst schalen Beigeschmack bekommen hat. Ich weigere mich auf eine Art, für ihn Verständnis zu haben, denn auch wenn er keine direkte männliche Bezugsperson hatte, hat er ja dennoch von seiner Tante immerhin Liebe erfahren und könnte als Erwachsener mehr Verantwortung übernehmen.

Interessant fand ich hier auch wieder die Namen: Polly und Cholly, das klingt wie aus einem Kinderbuch, und steht iso krassem Kontrast zum Verhalten der beiden.
Sie flüchtet in Schönheitsträume, liebt die Kinowelt
Ich fand diesen Abschnitt wahnsinnig aktuell, denn heute sind wir ja noch viel mehr mit diesen Schönheitsidealen konfrontiert und schon als nicht von Rassismus betroffene Frau kann einen dies in extrem zerstörerischer Weise beeinflussen. Sicherlich wird das durch das Phänomen des Rassismus noch potenziert.
 
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Julea56

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Insgesamt ist dieses Kapitel auf jeden Fall für mich das emotional mitreißendste gewesen. Ich hatte stellenweise solches Mitleid, dass mir das Weiterlesen schwergefallen ist. Ich hoffe, dass das letzte Kapitel mich mehr schont.
 
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Julea56

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7. Juli 2023
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und durch den kursiv gedruckten Text bekommen wir die Innenperspektive von Pecolas Mutter.
Ich fand das auch sehr interessant, diese tagebuchartigen Passagen. Ich hab darüber nachgedacht, ob sie überhaupt dazu imstande ist, ihr eigenes Leben so reflektiert wiederzugeben und ob es wirklich authentisch dadurch ist. Es ist auf jeden Fall eine Möglichkeit, einfach mal nicht den auktorialen Erzähler zu bemühen, sondern die für den Leser notwendige Vorgeschichte anders zu präsentieren.
 
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