3. Leseabschnitt: Die Vorlesung (S. 121 bis 159)

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.442
49.882
49
Zu dieser Erzählung findet man an sich schnell einen Zugang. Erneut steht der Maler Johannes Grützke im Mittelpunkt. Um die Geschichte besser einordnen zu können, sollte man sich im Internet ein paar seiner Bilder anschauen. Er malt gerne Gruppen, die Figuren wirken verzerrt. Mit Vorliebe baute er auch real existente oder historische Persönlichkeiten ein. Beeindruckt hat mich das Werk "Einzug der Parlamentarier", das in der Paulskirche in Ffm hängt und das ich tatsächlich schon besichtigt habe. Das Werk wirkt sehr befremdlich. Grützke hat Fantasiewesen, Gnome und allerlei skurriles Zeug eingearbeitet. Sämtliche Gesichter ähneln sich und gleichen Fratzen.

So, lange Vorrede. Nur mit diesem Hintergrund wage ich mich an eine Interpretation der vorliegenden Erzählung heran. Die ganze Situation, der Menschenauflauf im Hospizzimmer, der zeichnende Todkranke, Spaß, Kuchen und Musik, dazu der Autor, der sich einen ernsthaften Arbeitstermin wünscht - das Ganze wirkte zunächst völlig surreal auf mich (eben wie Grützkes Bilder). Auf den Schriftsteller ebenfalls. Er hatte sich vor dem Aufenthalt im Hospizzimmer mächtig gefürchtet und nicht einen glücklich-zufriedenen Grützke erwartet von einer fröhlich-bunten Entourage umgeben.

Die Geschichte heißt "Die Vorlesung". Dabei liest gar keiner. Aber ist nicht Maler Grützke derjenige, der "liest"? Er zeichnet Skizzen, reicht sie weiter, hat teils verschiedene Adressaten, alle rätseln, wen er damit meint oder was er sagen will. Die Gäste fühlen sich gut unterhalten - wie es ein Autor im Idealfall bei einer Lesung zu erreichen versucht. Dieses komische Potpourri an Menschen wirkt auf mich wie einem Grützke-Werk entsprungen. Der Autor Schulze wirkt dabei zunächst entsetzlich normal und deplatziert. Allmählich gewöhnt er sich daran, gewinnt die Einsicht, dass dieses seltsame Treffen gewollt ist und ihm etwas für die geplante Bildbesprechung mitgeben soll, quasi den Arbeitstermin darstellt. Es geht ja um ein "Gedankenspiel". Die kleine Hospizgesellschaft spielt ja geradezu mit Gedanken, wirft sie sich gegenseitig zu. "Der Maler bestimmte, was Wirklichkeit war und als angemessen gilt." (153)
(Das Bild "Die Vorlesung" wird auch beschrieben, ich habe aber im www kein Foto davon gefunden)
Erlaubte sich Maler Grützke durch die Auswahl gerade dieses Bildes einen Scherz mit mir, weil ich ihm bei unserer ersten Begegnung gestanden hatte, als herumreisender Vorleser mein Geld zu verdienen... vgl. 141

Schulze hat auch einige kolportierte Bonmots des Malers in die Dialoge einfließen lassen:
- Der Zukunftslose ist der Vergangenheitsreiche
- Wir sind keine modernen Künstler, wir sind Klassiker
- Das Bild ist immer klüger als der Maler
- Die wahre Kunst hat mit der Kunst nichts zu tun
und einige mehr

Am Ende bekommt Schulze das Bild der kleinen Gesellschaft: "Das sind wir! Ein Drache mit 6 Köpfen!" wird ausgerufen. "Schreiben Sie darüber!" 157
Ein klarer Arbeitsauftrag, der zu diesem Maler und seinem Werk passen will. Schaut euch mal die kleinen im Netz verfügbaren Filmchen zu Grützke an. Er muss ein bunter, skurriler Vogel gewesen sein - seine Bilder passen zu ihm.

Interessant finde ich, dass der Ich-Erzähler zwar in allen Erzählungen Ingo Schulze heißt, er aber real weder 3 Söhne hat (sondern 2 Töchter) noch mit einer Zahnärztin verheiratet ist. In seinem letzten Roman lässt er ja auch einen Schriftsteller namens Ingo Schultze (mit tz) auflaufen - muss ein kleiner Tick sein;)
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.442
49.882
49
So richtig warm geworden bin ich allerdings auch mit dieser Erzählung nicht. Ich würde das Buch wirklich nur Menschen empfehlen wollen, die sich im Kunstbetrieb auskennen und sich dafür interessieren.
Ich mag Schulzes bedächtigen Stil, die Einlassungen über die Kunst wecken jedoch mein Interesse nur am Rande. In diesem letzten Text kann man m.E. auch wenig Allgemeingültiges über die Kunst hinaus finden. Aber vielleicht entdeckt ihr mehr? Ich bin gespannt auf eure Gedanken!
 

RuLeka

Bekanntes Mitglied
30. Januar 2018
6.526
24.548
49
66
Auf mich wirkte das Ganze wie eine Inszenierung, ein absurdes Theaterstück . Aber, wie @Literaturhexle schreibt, scheint das zu dem Maler Grützke zu passen. Seine Bilder sind eigenwillig, das Realistische verzerrt, verfremdet.
Ingo Schulze macht es anscheinend Spaß in seinen Büchern einen Schriftsteller auftreten zu lassen, der Ähnlichkeiten mit ihm selbst aufweist. „ Schulze, Ingo, er arbeitet in Prosa.“ Das hat schon Witz.
Der Maler Grützke verwehrt sich hier gegen Bildbeschreibungen. „… das Bild existiert doch.“
Aber er duldet jede Deutung. „ Man kann nicht verlangen, verstanden zu werden.“
Spricht hier auch der Schriftsteller Schulze? Der sich wehrt gegen jegliche Interpretation seiner Werke? Manche Rezension nur eine Wiedergabe des Inhalts ( Bildbeschreibung?) .
 

Xirxe

Bekanntes Mitglied
19. Februar 2017
1.629
3.496
49
Vielleicht fehlte mir gestern die richtige Muse zum Lesen - ich war vom ziellosen Hin- und Hergerede recht schnell einfach nur genervt. Die 'einzigen Vernünftigen' (Herr Schulze und Herr Grützke) hielten sich eher zurück und die Anderen salbaderten so vor sich hin.
Wie @Literaturhexle machte ich mich auf die Suche nach dem Gemälde - leider ohne Erfolg, was das Weiterlesen zusätzlich noch erschwerte. Bildbeschreibungen ohne Kenntnis des Bildes empfinde ich als ausgesprochen ermüdend.
Auch wenn Herr Ingo Schulze wirklich gut und schön schreiben kann, hat es mir nicht über den für mich zähen und ausufernden Inhalt hinweggeholfen.
 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.604
21.865
49
Brandenburg
Die dritte Story/Beschreibung eines Kunstwerks lässt mich wieder sehr kalt. Dabei mag ich die gegoogelten Bilder vom Maler Johannes Grützke, - wieder was gelernt, er war mir unbekannt - es gibt ein hübsches Museum in Chemnitz, das allein ihm gewidmet ist, bzw. seinen Werken, recht gern. Vor allem seine Porträts gefallen mir. Ich mag die Mischung von Realismus und Verzerrung. Verzerrter Realismus? Verfremdeter Realismus? (Mein Lieblingsmaler ist Picasso, dem Meister der Verzerrung).

Mir gefällt auch das Szenario Hospiz. Ich war schon ein paarmal in einem Hospiz, und es kommt drauf an wie weit das Leiden fortgeschritten bzw. sichtbar ist. Völlig abgezehrte Menschen sind schwer auszuhalten. Aber ein Hospiz ist ein Ort, wo würdevolles Sterben möglich ist. Und so weit man schmerzfrei sein kann wie unser Maler, muss es nicht ein dunkler finsterer Ort sein, wo kein Lachen ist. Ganz im Gegenteil. Jede kleine Sache ist doch der Freude wert, der Sonnenstrahl, der durchs Fenster fällt, die Schwester, die dein Lieblingsgericht kocht und dich liebevoll füttert, es kann so viel Besuch da sein, wie du verträgst, gar kein bis ganz viel, Vögelzwischtschern, die Räume sind im Sommer angenehm kühl, das Leinen wird oft gewechselt, die Türen sind offen ...

Insofern mag ich die Geschichte. Aber der Rest! Den Rest mag ich nicht. Die Leute, die so abgehoben über Kunst sprechen und zum banalen Schluss kommen, Kunst ist alles und Kunst ist die Schönheit.

Diese Geschichte finde ich todlangweilig. Gut, dann passt sie zum Tod.
 
Zuletzt bearbeitet:

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.442
49.882
49
Den Rest mag ich nicht. Die Leute, die so abgehoben über Kunst sprechen und zum banalen Schluss kommen, Kunst ist alles und Kunst ist die Schönheit.
Ja, die Leute kamen mir genauso verzerrt vor wie des Malers Bilder. Die Sprüche über Kunst wurden eingeflochten, um die Bonmots Grützkes einzuflechten, glaube ich.
Ein Hospiz ist kein Krankenhaus. Alles, was du so beschreibst, kann ich bestätigen. Der Bewohner steht im Mittelpunkt, ihm will man seine verbleibende Zeit so angenehm wie möglich machen. Grützke will diese skurrile Party - also kann er sie machen.
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.442
49.882
49
Klär mich auf: wo kommt Johannes Grützke noch vor? Ich habe vorher auch noch nie von diesem Maler gehört...
Ich hätte schwören können, dass der Name schon in einer anderen Erzählung fiel. Gut, dass ich nicht gewettet habe. Dann bin ich wohl überstimmt und zum Nachforschen ist es mir nicht wichtig genug:p
 

kingofmusic

Bekanntes Mitglied
30. Oktober 2018
7.308
18.956
49
48
Ich hätte schwören können, dass der Name schon in einer anderen Erzählung fiel. Gut, dass ich nicht gewettet habe. Dann bin ich wohl überstimmt und zum Nachforschen ist es mir nicht wichtig genug:p
Du könntest aber genauso Recht haben. Dann habe ich es aber auch überlesen. Überhaupt "rauscht" das Buch mehr an mir vorbei, als dass es sich irgendwie festsetzt. Werde es heute Abend beendet haben.
 

Emswashed

Bekanntes Mitglied
9. Mai 2020
2.733
9.771
49
Ich würde das Buch wirklich nur Menschen empfehlen wollen, die sich im Kunstbetrieb auskennen und sich dafür interessieren.

Vielleicht erwischt man aber auch ein paar Kunstbanausen und weckt schlafende Hunde?!

Zumindest ergeht es mir so mit dieser letzten und für mich beeindruckensten Geschichte so.

Schulze, der sich scheut ins Hospiz zu gehen, sich selbst mit seinem Arbeitsauftrag legitimiert, verärgert, weil irritiert, ist und sich schließlich dieser Inszenierung hingibt, erfährt vielleicht so (auf unkonventionlle Art) mehr über seinen Auftraggeber und sein Werk, wie er es mit einem Interview nicht gekonnt hätte.
Mich beschlich anfangs auch das ungute Gefühl in die Sphären des Sichtums hineingezogen zu werden, konnte mich dann aber auch fallen lassen und den Text ... genießen? Doch! Der Schrecken des Todes, wo doch " jedes Argument zunichte gemacht wird", bekommt einen würdigen, tragbaren Abschluss.
Diesesmal war es wohl kein Gerät und kein Bild, es war der Künstler selbst, der seine Figuren "antanzen" lässt und zeichnet, was er denkt.