Zu dieser Erzählung findet man an sich schnell einen Zugang. Erneut steht der Maler Johannes Grützke im Mittelpunkt. Um die Geschichte besser einordnen zu können, sollte man sich im Internet ein paar seiner Bilder anschauen. Er malt gerne Gruppen, die Figuren wirken verzerrt. Mit Vorliebe baute er auch real existente oder historische Persönlichkeiten ein. Beeindruckt hat mich das Werk "Einzug der Parlamentarier", das in der Paulskirche in Ffm hängt und das ich tatsächlich schon besichtigt habe. Das Werk wirkt sehr befremdlich. Grützke hat Fantasiewesen, Gnome und allerlei skurriles Zeug eingearbeitet. Sämtliche Gesichter ähneln sich und gleichen Fratzen.
So, lange Vorrede. Nur mit diesem Hintergrund wage ich mich an eine Interpretation der vorliegenden Erzählung heran. Die ganze Situation, der Menschenauflauf im Hospizzimmer, der zeichnende Todkranke, Spaß, Kuchen und Musik, dazu der Autor, der sich einen ernsthaften Arbeitstermin wünscht - das Ganze wirkte zunächst völlig surreal auf mich (eben wie Grützkes Bilder). Auf den Schriftsteller ebenfalls. Er hatte sich vor dem Aufenthalt im Hospizzimmer mächtig gefürchtet und nicht einen glücklich-zufriedenen Grützke erwartet von einer fröhlich-bunten Entourage umgeben.
Die Geschichte heißt "Die Vorlesung". Dabei liest gar keiner. Aber ist nicht Maler Grützke derjenige, der "liest"? Er zeichnet Skizzen, reicht sie weiter, hat teils verschiedene Adressaten, alle rätseln, wen er damit meint oder was er sagen will. Die Gäste fühlen sich gut unterhalten - wie es ein Autor im Idealfall bei einer Lesung zu erreichen versucht. Dieses komische Potpourri an Menschen wirkt auf mich wie einem Grützke-Werk entsprungen. Der Autor Schulze wirkt dabei zunächst entsetzlich normal und deplatziert. Allmählich gewöhnt er sich daran, gewinnt die Einsicht, dass dieses seltsame Treffen gewollt ist und ihm etwas für die geplante Bildbesprechung mitgeben soll, quasi den Arbeitstermin darstellt. Es geht ja um ein "Gedankenspiel". Die kleine Hospizgesellschaft spielt ja geradezu mit Gedanken, wirft sie sich gegenseitig zu. "Der Maler bestimmte, was Wirklichkeit war und als angemessen gilt." (153)
(Das Bild "Die Vorlesung" wird auch beschrieben, ich habe aber im www kein Foto davon gefunden)
Erlaubte sich Maler Grützke durch die Auswahl gerade dieses Bildes einen Scherz mit mir, weil ich ihm bei unserer ersten Begegnung gestanden hatte, als herumreisender Vorleser mein Geld zu verdienen... vgl. 141
Schulze hat auch einige kolportierte Bonmots des Malers in die Dialoge einfließen lassen:
- Der Zukunftslose ist der Vergangenheitsreiche
- Wir sind keine modernen Künstler, wir sind Klassiker
- Das Bild ist immer klüger als der Maler
- Die wahre Kunst hat mit der Kunst nichts zu tun
und einige mehr
Am Ende bekommt Schulze das Bild der kleinen Gesellschaft: "Das sind wir! Ein Drache mit 6 Köpfen!" wird ausgerufen. "Schreiben Sie darüber!" 157
Ein klarer Arbeitsauftrag, der zu diesem Maler und seinem Werk passen will. Schaut euch mal die kleinen im Netz verfügbaren Filmchen zu Grützke an. Er muss ein bunter, skurriler Vogel gewesen sein - seine Bilder passen zu ihm.
Interessant finde ich, dass der Ich-Erzähler zwar in allen Erzählungen Ingo Schulze heißt, er aber real weder 3 Söhne hat (sondern 2 Töchter) noch mit einer Zahnärztin verheiratet ist. In seinem letzten Roman lässt er ja auch einen Schriftsteller namens Ingo Schultze (mit tz) auflaufen - muss ein kleiner Tick sein