3. Leseabschnitt: DER KEIM IM STAUB - Kapitel 1 bis 10 (Seite 113 bis 166)

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ich habe noch 'Das Mädchen auf der Himmelsbrücke' da stehen
Dazu empfehle ich dir unbedingt unsere (kontroverse) Leserunde, die mir viel Erkenntnisreichtum gebracht hat.

Die komplette Familie ist innerhalb weniger Momente zerstört worden.
Das ist Wirklichkeit ein starkes Argument, Christian! Gerade vor dem Hintergrund hätte der Vater gleich etwas gütiger auftreten sollen - ich will ihm da seine Überforderung zu Gute halten.
 
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Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Man könnte dafür oder auch dagegen argumentieren. Ein Gericht würde Rolv bei seiner Tat immer zugute halten, dass es der Mörder seiner Schwester war, den er spontan erschlagen hat.
Man kann sich die Tragödie der Eltern, die, wie Christian schreibt, fast auf einmal beide Kinder verloren haben, kaum vorstellen. Trotzdem würde ich anstelle der Eltern Rolv wahrscheinlich mit aller Macht verteidigen wollen. M.M.n. wäre das die erste natürliche Regung. Viel eher würde ich wahrscheinlich die Nachbarn und die anderen Beteiligten mitverantwortlich machen, dass sie ihn nicht zurückgehalten haben.
Aber das nur theoretisch - so richtig hineinversetzen kann man sich da kaum und jeder reagiert anders.
 

dracoma

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16. September 2022
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Irritierend finde ich, dass Inga kaum eine Rolle spielt -
Weder wird um sie getrauert noch spürt man irgendeine Fassungslosigkeit über ihren sinnlosen Tod.
Alles sehr verhalten, das schon, aber ich sehe im Verhalten der Eltern eine tiefe tiefe Trauer. "Karl Li trug an einer Bürde" (S. 133). Der Vater ist eigentlich sprachlos vor Kummer, aber trotzdem: er bemüht sich, seinen Sohn zu retten, auch er - meine ich - fürchtet, dass er sich etwas antut. Er will nicht das zweite Kind verlieren.
Er kann ihn nicht freisprechen und kein Verständnis für die Tat formulieren, aber er bietet ihm den Rückhalt der Familie. Das Gespräch Vater-Sohn hat mir gut gefallen. Karl formuliert, dass die Familie Schutz gewährt, indem sie das Unglück mitträgt.

Mari verhält sich wie ihr Mann, obwohl wir nichts von einer Absprache zwischen beiden lesen: als Rolv nach Hause kommt, betont sie auch die Wichtigkeit des Zuhauses. Karl und Mari sind einander verbunden in ihrem Denken.

Die Trauer der Mutter ist etwas ganz Eigenes und Ungewöhnliches. Sie stellt das Zimmer mit Kerzen und Leuchtern voll, sie erhellt es mit allem, was ihr zur Verfügung steht - und Karl sieht das und fühlt, dass man das Zimmer mit der toten Tochter nun leichter betreten kann, weil es so hell ist. Ihr Mann ist ihr sehr dankbar dafür (S. 165).
Der Tod der Tochter wird für ihn leichter.

Mir gefällt das Bild so gut: "als wäre das Zimmer ein Schiff" (S. 164), dieses Bild des Toten, der auf einem Schiff bzw. über das Wasser aus dem Leben fährt - ob das Charon und die Flüsse Lethe, Styx, Acheron (und wie sie alle heißen) sind - mir fallen natürlich Böcklins Gemäde "Toteninsel" ein - hier setzt der Autor viele Assoziationen frei. Und was wichtig ist: Mari "war mit an Bord" (S. 165). Sie entfernt sich mit der Tochter aus dem Leben. Eine kürzere Beschreibung von Trauer und Verzweiflung habe ich noch nie gelesen.

Ob Kari an die Totengöttin Hel erinnern soll?

Und Karl erkennt ihre große Angst um den Sohn: "dass sie sich selbst wohl jetzt als kinderlos begriff" (S. 165).

Da scheint eine große Liebe zu sein zwischen den Eheleuten, in dieser extremen Situation, und diese Liebe führt auch dazu, dass Karl sich so sehr um den Sohn bemüht.
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Was für ein überragender Abschnitt. Die über der Insel wie eine Wolke schwebende Leichtigkeit ist KOMPLETT verschwunden, alle pröddeln und ziehen allein vor sich hin, lassen keinen mehr an sich ran, ziehen sich in sich selbst zurück und haben den nächsten "Schuldigen" gefunden: Rolv. Auch er wandert rastlos von Ost nach West, von Nord nach Süd über die Wiesen und Felder, wirft dadurch einen im wahrsten Sinne des Wortes vielseitigen Blick auf sein Zuhause...Haug und Dal erinnern mich an eine finstere Version von Waldorf und Stadler :rofl. Ich habe mir noch ein paar Seiten notiert, die ich sehr bedeutend fand; dazu dann gleich mehr...
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Die Eltern müssten dem Sohn in dieser Situation beistehen. Er hat ja nicht Hand an irgendeinen gelegt, sondern an den Mörder seiner Schwester. Man muss diese Rache nicht gutheißen, aber man muss sie verstehen, dem Sohn Halt geben, damit er sich nicht am Ende auch noch das Leben nimmt.
Das sehe ich auch so! :cool:
Weder wird um sie getrauert noch spürt man irgendeine Fassungslosigkeit über ihren sinnlosen Tod.
Es wird schon getrauert, aber anders als wir das evtl. erwarten würden. Aber gibt es die "richtige", die EINE Art zu trauern?
Ich empfinde manche Inselbewohner als schadenfroh, wenn sie sich darüber unterhalten, dass all die Bücher und Schulbildung die Lis nicht vor diesem Schicksalsschlag bewahren konnten. Neid und Hohn in Bezug auf die Scheune vom Anfang fallen mir da wieder ein. Das Leben auf der Insel hat wohl funktioniert, idyllisch und harmonisch war es aber auch vor den Morden nicht.
Ja, das war auch eine der Stellen, die ich mir notiert hatte und die ich sehr intensiv fand!
Und warum 'Der Keim'?
Der Keim ist die Grundlage der Saat, der Keim treibt aus und erblüht. Hier könnte man sagen "Die Saat des Bösen trägt Früchte." :cool:
Am meisten freue ich mich für den Guggolz Verlag, dem ich jeden Verkaufserfolg von Herzen gönne.
Da bin ich ganz bei dir!

Mir gefällt das Bild so gut: "als wäre das Zimmer ein Schiff" (S. 164), dieses Bild des Toten, der auf einem Schiff bzw. über das Wasser aus dem Leben fährt - ob das Charon und die Flüsse Lethe, Styx, Acheron (und wie sie alle heißen) sind - mir fallen natürlich Böcklins Gemäde "Toteninsel" ein - hier setzt der Autor viele Assoziationen frei. Und was wichtig ist: Mari "war mit an Bord" (S. 165). Sie entfernt sich mit der Tochter aus dem Leben. Eine kürzere Beschreibung von Trauer und Verzweiflung habe ich noch nie gelesen.
Ja, das fand ich auch ganz großartig - da hatte ich beim Lesen eine dicke fette Gänsepelle. Danach musste ich das Buch auch erst mal zuklappen - zu intensiv war das letzte Kapitel bzw. der ganze Abschnitt...
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Stellen, die ich auch als sehr intensiv empfand waren folgende:
Die beiden armen Männer Haug und Dal sannen darüber nach, was es denn half, dass das hier der wohlhabendste Hof war [...]. Was half das alles? Das Grauen drang ja dennoch ein. (S. 123)
Es dämmerte in ihnen selbst. Sie begriffen es nicht. Die Dämmerung kam von einem unvertrauten Ort. Aus Abgründen, die sich aufgetan hatten. (S. 147)
Die Scheune zog sie an. Aber nicht wegen der herrlichen Möglichkeiten, mit denen sie verbunden war - nein, wegen des bleischweren Gewichtes, das sie heute Nacht beherbergte. Hier war gewissermaßen das schlechte Gewissen aller abgelegt, jetzt kamen sie, um nachzusehen. (S. 158)

Wer kann heutzutage noch solche Textpassagen schreiben? :cool:
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Als wenn nicht alles eh schon schlimm genug wäre, wird Rolv nun zum Ausgestoßenen. Ich kann seine Flucht irgendwie verstehen, denn auch wenn der Vater ihm versichert hat, sie seien nach wie vor als Familie für ihn da, muss sich das nach der Rede ganz anders anfühlen. Dabei verstehe ich den Vater sogar irgendwie, er musste seinem Sohn sagen, was er davon hält, wie soll man denn sonst langfristig eine Basis finden? Es hätte zwischen ihnen gestanden, und Karls Verhalten beeinflusst. Und nun? Eine Gerichtsverhandlung? Doch dort müsste sich dann nicht nur Rolv verantworten, denn er hat niemanden gezwungen mitzumachen? Echt schwierig das Ganze
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Diese Scheinheiligkeit schreit für mich zum Himmel, auch wenn sie etwas Reales, Glaubwürdiges ausstrahlt.
Wenn man es liest ist man sich mit seinem Urteil sicher, doch wenn man in eine ähnliche Situation hineingezogen werden würde? Was würde man wohl selbst mit dem Mörder der Schwester, der Tochter, des Sohnes tun? Ich denke man kann diese Frage gar nicht konkret beantworten, denkbar sind diese Reaktionen jedenfalls durchaus
Was für eine merkwürdige Sache, dass Kari Nes überall herumgeht und die Leute zur Scheune schickt. Ich gespannt, was dabei herauskommt.
Ich auch, es wirkt fast so, als habe sie ihre Freude daran
Dass er Selbstjustiz vehement ablehnt, ist richtig, aber er hätte auch Mitleid mit seinem Sohn haben oder zeigen können.
Vielleicht hat er Angst, dass er ihm dadurch das Gefühl gibt, es sei in Ordnung.
, indem man sich versucht, in die Figur Karl hineinzuversetzen und zum Schluss kommt, dass er innerhalb kürzester Zeit praktisch beide Kinder verloren hat. Inga war bereits tot, was für die Familie schlimm ist, aber in gemeinsamer Trauer vielleicht hätte bewältigt werden können. Doch durch Rolvs Tat bleibt ihm nicht einmal mehr das zweite Kind. Die komplette Familie ist innerhalb weniger Momente zerstört worden.
Soweit habe ich noch gar nicht gedacht, aber du hast Recht