3. Leseabschnitt: DER KEIM IM STAUB - Kapitel 1 bis 10 (Seite 113 bis 166)

Literaturhexle

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2. April 2017
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Dieser Abschnitt ist unglaublich dicht. Viele Figuren kommen zu Wort. Alle sind sie geschockt über die Treibjagd und deren fatales Ende. Alle wollen sich reinwaschen. Sie suchen kollektiv einen Sündenbock und machen Rolv aus: Er war wohl besonders dicht am Mörder dran, soll ihn sogar erstochen haben.
Der Mob distanziert sich. Auf einmal hat Rolv die anderen angestachelt, so dass sie sich als Opfer seiner Wut stilisieren können. Diese Scheinheiligkeit schreit für mich zum Himmel, auch wenn sie etwas Reales, Glaubwürdiges ausstrahlt.

Was ich gar nicht nachvollziehen kann, ist das Verhalten der Eltern Li. Der Vater hat das Sagen. Er wirkt in keiner Weise gebrochen. Er verurteilt die Tat seines Sohnes weit stärker als die des Mörders. Wie ist das zu erklären? Wenn einem Menschen die Tochter brutal ermordet wird, ist man da wirklich so christlich und gerecht, dass man den Mob verurteilt, der die Tat "Auge um Auge" gerächt hat? Im Angesicht der toten Tochter? Mir erscheint Karl entsetzlich gefasst und selbstgerecht. Die Eltern müssten dem Sohn in dieser Situation beistehen. Er hat ja nicht Hand an irgendeinen gelegt, sondern an den Mörder seiner Schwester. Man muss diese Rache nicht gutheißen, aber man muss sie verstehen, dem Sohn Halt geben, damit er sich nicht am Ende auch noch das Leben nimmt.

Die Dynamik der Vorgänge wird sehr fesselnd, dicht und authentisch beschrieben. Jeder versucht sich selbst freizusprechen. Nur Rolv bekennt sich klar. er glaubte, "es tun zu müssen" 133.

Sehr intensiv das Gespräch zwischen Else und Rolv: Wie sich das Trennende zwischen den beiden manifestiert. Tolle Dialoge!

Kari Nes bekommt erneut Bedeutung. Sie ist es, die die Gemeinschaft zum Treffen an der roten Scheune zusammenkommen lässt. (Das Ende des LA ist zufällig perfekt gewählt.)
"Es fällt kein Vogel zu Boden, ohne dass Gott es will", sagt Kari
Rolv durchstreift rastlos die Insel. Die Menschen haben Angst vor ihm und gehen ihm aus dem Weg. Er wird wie ein Aussätziger behandelt. Die schwangere Gudrun zieht sich offenbar aber auch von ihrem Ivar zurück, denn früher hat man sie doch fast nur zusammen gesehen. Die losgetretene Gewalt wirkt befremdlich auf die friedliebenden Insulaner.

Diese sozialen Entwicklungen halte ich für glaubwürdig. Der Roman ist 1940 erschienen. Da drängt sich doch die Parallele zum Nationalsozialismus auf. Da wurden auch Sündenböcke gesucht und gejagt. Das mag aber mit Deutschland gar nichts zu tun haben. Die Strukturen wären überall ähnlich. Andreas ist zudem auch nicht schuldlos ins Fadenkreuz der Hetzer geraten.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Diese sozialen Entwicklungen halte ich für glaubwürdig. Der Roman ist 1940 erschienen. Da drängt sich doch die Parallele zum Nationalsozialismus auf. Da wurden auch Sündenböcke gesucht und gejagt. Das mag aber mit Deutschland gar nichts zu tun haben. Die Strukturen wären überall ähnlich. Andreas ist zudem auch nicht schuldlos ins Fadenkreuz der Hetzer geraten.

An der Stelle frage ich mich natürlich, ob uns Vesaas deshalb so im Unklaren über die eigentliche Tat gelassen hat, weil er im von Deutschen besatzten Norwegen nicht wirklich seine Meinung kundtun konnte (sonst hätte er vielleicht den Mord einem Inselbewohner untergeschoben, oder einen Unfall passieren lassen.)
Der Wahn in Andreas Augen wurde mir zu stark betont, als dass ich ihn nicht als Wink mit dem Zaunpfahl, dass schon allein jüdisches Aussehen bei den Deutschen ein Schuldeingeständnis war (arische Rasse usw.), ergo dieser Wahn über jegliches merkwürdige Verhalten der eigenen Inselbeohner steht.... falls das jetzt verständlich war.
Auch war dieses Gespräch zwischen Rolv und seinen Eltern sehr intensiv. "Wenn es richtig schlimm zugeht, nutzt es nichts, ins Unnekannte zu fliehen" (127) und weiter "Wir dürfen so etwas nicht verstehen."(134)
Da könnte man auf die Idee kommen, dass es nicht mehr "nur" um den Totschlag Andreas geht.
 

Irisblatt

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15. April 2022
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Der Wahn in Andreas Augen wurde mir zu stark betont, als dass ich ihn nicht als Wink mit dem Zaunpfahl, dass schon allein jüdisches Aussehen bei den Deutschen ein Schuldeingeständnis war (arische Rasse usw.), ergo dieser Wahn über jegliches merkwürdige Verhalten der eigenen Inselbeohner steht.... falls das jetzt verständlich war.
Ich weiß nicht, was du meinst. Kannst du es bitte nochmal erklären.
 

Irisblatt

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15. April 2022
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Mir tat Rolv in diesem Abschnitt leid. Auch er weiß, dass es falsch ist, jemanden umzubringen, selbst wenn es der Mörder der Schwester ist.
Er sehnt sich deshalb auch gar nicht nach einem Freispruch, fleht regelrecht um Anteilnahme, etwas Verständnis. Er ist völlig alleine, die Mutter zu schwach gegenüber ihrem Mann, um ihm beizustehen. Ich halte diese Szenen für glaubwürdig. Die einzige indirekte Unterstützung seitens des Vaters ist, dass er Rolv nicht als alleinschuldig ansieht. Alle, die mitgemacht haben, tragen ebenso Verantwortung. Sie hätten Rolv stoppen können/müssen. Jetzt reden sie sich alle heraus, wälzen die Schuld auf Rolv ab.
Vesaas versteht meisterhaft das Unbehagen auszudrücken, das jeden Inselbewohner in Erinnerung an die Hetzjagd überfällt.
Die Mutter fürchtet zurecht, Rolv könne Selbstmord begehen.
Warum macht sie sich nicht auf die Suche nach ihm?
Haug und Das bewachen den Leichnam von Andreas. Es kommt mir so vor als ob das eine Form der selbstauferlegten Buße für sie ist.
Und wieder Kari Nes - wie wird das wohl alles enden?
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Irritierend finde ich, dass Inga kaum eine Rolle spielt - alles wird überschattet vom 2. Mord.
Genau auch mein Problem. Weder wird um sie getrauert noch spürt man irgendeine Fassungslosigkeit über ihren sinnlosen Tod. Andreas wird reingewaschen, weil er "irre" ist und Rolv verurteilt, weil er die Hetze angeführt hat. Für ihn gibt es wenig mildernde Umstände. Im Gegenteil: die Insulaner machen ihn zum Hauptschuldigen.
Was will uns Vesaas damit sagen?
 

Irisblatt

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15. April 2022
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Genau auch mein Problem. Weder wird um sie getrauert noch spürt man irgendeine Fassungslosigkeit über ihren sinnlosen Tod. Andreas wird reingewaschen, weil er "irre" ist und Rolv verurteilt, weil er die Hetze angeführt hat. Für ihn gibt es wenig mildernde Umstände. Im Gegenteil: die Insulaner machen ihn zum Hauptschuldigen.
Auch Andreas hat bisher wenig Bedeutung. Von "Reinwaschen" würde ich nicht reden. Der Vater erwähnt zwar, dass es die Tat eines Verrückten war, aber auch eher nebenbei.
Was will uns Vesaas damit sagen?
Das weiß ich auch noch nicht genau. Für mich geht es bisher auch um Gruppendynamik, Extremsituationen, die den Menschen zum "Tier" machen können, Schuld auf unterschiedlichen Ebenen ...
 

Irisblatt

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15. April 2022
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Ich empfinde manche Inselbewohner als schadenfroh, wenn sie sich darüber unterhalten, dass all die Bücher und Schulbildung die Lis nicht vor diesem Schicksalsschlag bewahren konnten. Neid und Hohn in Bezug auf die Scheune vom Anfang fallen mir da wieder ein. Das Leben auf der Insel hat wohl funktioniert, idyllisch und harmonisch war es aber auch vor den Morden nicht.
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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62
Essen
Die Lynchjustiz aus dem 2. LA zieht hier m 3. ihre Folgen nach sich. Wie ist die Wirkung auf einzelne Personen und die geschlossene Gesellschaft auf dieser kleinen Insel insgesamt. der Sündenbock ist ausgemacht: Rolv. Doch jeder andere sieht auch seinen teil der Schuld auf seinen/ihren schultern lasten. wie geht man damit um. Die Flucht in die Einsamkeit oder das Gemeinschaftsgefühl als Sicherungsnetz? Rolv und die Haug und Dal entscheiden sich für die Einsamkeit. Genauso wie Mari Li in ihrer Trauer um die tote Tochter (und den verlorenen Sohn). Die anderen suchen eher die Gemeinschaft, wohl um sich dort der gemeinsamen Interpretation des Durchlebten zu vergewissern und den gemeinsamen Sündenbock festzulegen, um den eigenen Anteil möglichst gering zu halten.
Auch diese Gruppen- und Einzelreaktionen auf das scheußliche Geschehen des 2. LA hat Vesaas wieder atmosphärisch dicht und überzeugend dargestellt.
Es wird sehr deutlich, dass hier viele menschliche Seelen ihren Abgründen sehr nahe gekommen sind oder diese sogar überschritten haben. Es gärt darum in dieser kleinen, geschlossenen Gesellschaft und es stellt sich die Frage, wie sich dieses Gären Bahn brechen und seinen Ausbruch finden wird im nächsten LA. Spannend und interessant!
 

Federfee

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13. Januar 2023
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49
Ein rätselhafter Beginn dieses neuen Teils; ich verstehe ihn vorerst nur schemenhaft … beim zweiten Lesen habe ich mehr verstanden.

Jetzt sind alle Beteiligten geschockt, durcheinander und wissen nicht, was sie von sich selbst halten sollen. Da setzen die Mechanismen ein, die wir schon von anderen Romanen kennen: die Schuld bei anderen suchen, sich Rechtfertigungen zurechtbasteln, über 'die mit der großen Scheune' herziehen. Jetzt wälzen sie alle Schuld auf Rolv und wollen nicht einsehen, welche Mitschuld sie alle trifft. Das Ganze treibt die Menschen auseinander, z.B. zwischen Ivar und Gudrun tritt etwas, das noch nicht ganz zu verstehen ist.​

Rolv ist selbst völlig außer sich und sucht Verständnis bei Mutter und Vater. Karl vertritt eine ganz klare Linie: keine Selbstjustiz. Und da ist das Problem: wir alle müssen uns an die Gesetze halten, sonst würde Mord und Totschlag herrschen und der Willkür Tür und Tor geöffnet sein. Es ist nicht eindeutig erwiesen, dass Andreas Inga ermordet hat, auch wenn es eigentlich nicht anders sein kann.

Das mit der Selbstjustiz ist ein ewiges zwischenmenschliches Problem: Wenn es einen persönlich betrifft, könnte es doch sein, dass man eine Ausnahme macht, Verständnis hat oder selbst so etwas tun würde, einerseits verständlich im Einzelfall, aber grundsätzlich nicht. Der Vater vertritt da eine klare Linie, alle anderen sind unentschlossen: die Mutter und auch Else. Der Vater meint, dass Rolv für seine Tat büßen muss, d.h. sich verantworten. Er hätte ihm allerdings auch ein tröstendes Wort sagen können.

Was für eine merkwürdige Sache, dass Kari Nes überall herumgeht und die Leute zur Scheune schickt. Ich gespannt, was dabei herauskommt. Und warum 'Der Keim'?​
 

Federfee

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13. Januar 2023
2.164
8.960
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Alle sind sie geschockt über die Treibjagd und deren fatales Ende. Alle wollen sich reinwaschen.
Der Mob distanziert sich. Auf einmal hat Rolv die anderen angestachelt, so dass sie sich als Opfer seiner Wut stilisieren können. Diese Scheinheiligkeit schreit für mich zum Himmel, auch wenn sie etwas Reales, Glaubwürdiges ausstrahlt.
Anscheinend ein typisches Verhalten, ein Massenphänomen und das muss man ansprechen, offenlegen, diskutieren, was wir ja hier auf Anregung von Vesaas tun.
Wenn einem Menschen die Tochter brutal ermordet wird, ist man da wirklich so christlich und gerecht, dass man den Mob verurteilt, der die Tat "Auge um Auge" gerächt hat? Im Angesicht der toten Tochter? Mir erscheint Karl entsetzlich gefasst und selbstgerecht. Die Eltern müssten dem Sohn in dieser Situation beistehen. Er hat ja nicht Hand an irgendeinen gelegt, sondern an den Mörder seiner Schwester. Man muss diese Rache nicht gutheißen, aber man muss sie verstehen, dem Sohn Halt geben, damit er sich nicht am Ende auch noch das Leben nimmt.
Ich wundere mich auch, wie gefasst Karl das hinnimmt und auch Mari, seine Frau, hat an ihm keinen Trost. Dass er Selbstjustiz vehement ablehnt, ist richtig, aber er hätte auch Mitleid mit seinem Sohn haben oder zeigen können. Es ist wirklich zu befürchten, dass Rolv das alles nicht verkraftet.
Mir tat Rolv in diesem Abschnitt leid. Auch er weiß, dass es falsch ist, jemanden umzubringen, selbst wenn es der Mörder der Schwester ist.
Er sehnt sich deshalb auch gar nicht nach einem Freispruch, fleht regelrecht um Anteilnahme, etwas Verständnis. Er ist völlig alleine,
Da muss man Angst um ihn haben; noch ein sinnloser Tod wäre fatal und würde allen noch mehr Schuld aufbürden.
Was will uns Vesaas damit sagen?
Irisblatt:
Das weiß ich auch noch nicht genau. Für mich geht es bisher auch um Gruppendynamik, Extremsituationen, die den Menschen zum "Tier" machen können, Schuld auf unterschiedlichen Ebenen ...
Das sehe ich auch so, zeitlose Themen.
 

Lesehorizont

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29. März 2022
2.577
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49
53
Mainz
Irritierend finde ich, dass Inga kaum eine Rolle spielt - alles wird überschattet vom 2. Mord.
Damit tue ich mich auch etwas schwer. Den zweiten Mord gab es ja nur wegen dem ersten, also müsste dieser als Auslöser auch eine Rolle spielen. Stattdessen ist es ausgerechnet der Vater, der die Vergeltungstat absolut veruteilt. Böses darf nicht mit Bösem vergolten werden.
Für ihn gibt es wenig mildernde Umstände. Im Gegenteil: die Insulaner machen ihn zum Hauptschuldigen.
Was will uns Vesaas damit sagen?
Dass Mord nie zu entschuldigen ist - egal was dazu geführt hat? Und dass jeder einzelne Verantwortung für die gesamte Gemeinschaft hat?
Was für eine merkwürdige Sache, dass Kari Nes überall herumgeht und die Leute zur Scheune schickt. Ich gespannt, was dabei herauskommt. Und warum 'Der Keim'?
Zu diesen Fragen habe ich auch noch keine Ideen und bin sehr gespannt.
 

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29. März 2022
2.577
9.749
49
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Mainz
Das Werk fesselt mich inzwischen enorm und ich verstehe die Begeisterung, die der Autor bei Vielen auslöst.
Dieser Abschnitt beschreibt ein allgemeines Phänomen: Fassungslosigkeit nach der Erkenntnis, wozu man selbst fähig ist, das Verschieben der Verantwortung dafür auf einen Sündenbock, der schnell gefunden ist.
Diese Versammlung, initiiert von Kari Nes macht mir etwas Angst. Wird das Ganze weiter esaklieren und möglicherweise zu einem dritten Mord führen? Die Rolle von Kari Nes bleibt mir weiter etwas unklar.
Rolv selbst steht zu seinem Anteil, den er am Mord hat. Andere tun sich da schwer, sich ihren eigenen Anteil einzugestehen.
Er tut mir schon fast etwas leid.
Die Reaktion seines Vaters ist sehr ambivalent: einerseits verurteilend, andererseits sich seiner Verantwortung bewusst, zum Kind zu stehen. Mal sehen, wie dies nun bei der Versammlung aussieht...
In jedem Fall nicht nur ein fesselndes, sondern auch schockierendes Werk Vesaas'...
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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9.827
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Ich weiß nicht, was du meinst. Kannst du es bitte nochmal erklären.
Dadurch das Vesaas es vermied Andreas Schuld direkt auszusprechen, habe ich vermutet, das dies mit voller Absicht geschah, um eine Parallele zu den Propagandareden der Nazis zu zeichnen, die auch mit z. Bsp. Rassenmerkmalen Rückschlüsse auf die allgemeine Schuld der Juden für die Miseren der Arier zogen. Da reichte dann ein kurzer Ruf, um die Menschen zum Lynchen der Juden aufzustacheln, ähnlich dem Ruf Rolvs Andreas zu jagen.
 

Irisblatt

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15. April 2022
1.326
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49
53
Dadurch das Vesaas es vermied Andreas Schuld direkt auszusprechen, habe ich vermutet, das dies mit voller Absicht geschah, um eine Parallele zu den Propagandareden der Nazis zu zeichnen, die auch mit z. Bsp. Rassenmerkmalen Rückschlüsse auf die allgemeine Schuld der Juden für die Miseren der Arier zogen. Da reichte dann ein kurzer Ruf, um die Menschen zum Lynchen der Juden aufzustacheln, ähnlich dem Ruf Rolvs Andreas zu jagen.
Das ist ein interessanter Gedanke, an dem durchaus etwas dran sein könnte. Wir wissen, weil Vesaas uns in Andreas Kopf blicken lässt, dass er der Täter ist. Anders sieht es mit den Inselbewohnern aus, die sofort auf den Fremden zeigen und ihn zu jagen beginnen, aber ohne dabeigewesen zu sein.
 

Barbara62

Bekanntes Mitglied
19. März 2020
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Baden-Württemberg
mit-büchern-um-die-welt.de
Ich bin wie ihr gefesselt und schockiert zugleich. Die gruppendynamischen Prozesse sind unglaublich eindrucksvoll beschrieben. Einerseits rotten sich nach der Tat alle gegen Rolv zusammen, andererseits sind auch Brüche zu erkennen, weil jeder jedem wegen seines Anteils am Geschehen misstraut. Selbst Haug und Dal sind nicht mehr ein Herz und eine Seele.

Unsicher bin ich mir noch immer über Kari Nes' Rolle. Plötzlich erscheint sie den Leuten riesengroß. Sie treibt alle in die Scheune, warum? Warum gehorchen ihr auf einmal alle? Sie kommt mir gar nicht so richtig verrückt vor. Gibt es sie wirklich oder verkörpert oder ist sie nur ein Bild für das Gewissen der Insulaner?

Die beiden Frauen mit den Milchkannen auf S. 148 erinnern mich an Janet Lewis' Draußen die Welt: Dort war es das Spülen, das man auch noch ausführen muss, wenn die Welt untergeht, hier ist es Essen, Milch und Kühe, die dafür sorgen, dass es weitergeht.

Was Inga betrifft, so kommt mir Maris und Karls Verhalten auch etwas seltsam vor. Allerdings finde ich Karl nicht so hart wie ihr. Er kann zwar nicht anders, als Rolvs Tat zu verurteilen, nimmt ihn aber mit ins Haus und sagt ausdrücklich: "Wir stehen zu dir" (S. 137)

Was die politischen Bezüge betrifft, so will ich sie nicht überinterpretieren. Andererseits kann ich mir auch schwer vorstellen, dass Tarjei Vesaas in der Zeit der heraufziehenden Nazigefahr so ein Buch ohne Hintergedanken geschrieben hat. Er ist in der Zeit vor dem Krieg durch Europa gereist, hat eine Weile in München gelebt und hatte sicher eine Ahnung, was kommen würde.

Ich freue mich unglaublich, dass auch "Der Keim" so ein tolles Buch ist. Am meisten freue ich mich für den Guggolz Verlag, dem ich jeden Verkaufserfolg von Herzen gönne.
 
Zuletzt bearbeitet:

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Diese Scheinheiligkeit schreit für mich zum Himmel, auch wenn sie etwas Reales, Glaubwürdiges ausstrahlt.
Das fand ich auch ganz schrecklich. Die Menschen können Rolv kaum noch ansehen, obwohl ein Großteil von ihnen offenbar selbst an der Jagd und an der Tat beteiligt waren. Einen Sündenbock zu finden, geht immer sehr leicht.
Er verurteilt die Tat seines Sohnes weit stärker als die des Mörders. Wie ist das zu erklären?
Vielleicht, indem man sich versucht, in die Figur Karl hineinzuversetzen und zum Schluss kommt, dass er innerhalb kürzester Zeit praktisch beide Kinder verloren hat. Inga war bereits tot, was für die Familie schlimm ist, aber in gemeinsamer Trauer vielleicht hätte bewältigt werden können. Doch durch Rolvs Tat bleibt ihm nicht einmal mehr das zweite Kind. Die komplette Familie ist innerhalb weniger Momente zerstört worden.
 

Federfee

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13. Januar 2023
2.164
8.960
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Ich bin wie ihr gefesselt und schockiert zugleich. Die gruppendynamischen Prozesse sind unglaublich eindrucksvoll beschrieben. Einerseits rotten sich nach der Tat alle gegen Rolv zusammen, andererseits sind auch Brüche zu erkennen, weil jeder jedem wegen seines Anteils am Geschehen misstraut. Selbst Haug und Dal sind nicht mehr ein Herz und eine Seele.
Ja, diese gruppendynamischen Prozesse - ein Verdienst von Vesaas, uns das noch mal richtig eindringlich und deutlich vor Augen zu führen. Sehr gut von dir gesehen, dass selbst Haug und Dal, die vorher als Einheit erschienen, jetzt auseinanderdriften.
Unsicher bin ich mir noch immer über Kari Nes' Rolle. Plötzlich erscheint sie den Leuten riesengroß. Sie treibt alle in die Scheune, warum? Warum gehorchen ihr auf einmal alle? Sie kommt mir gar nicht so richtig verrückt vor. Gibt es sie wirklich oder verkörpert oder ist sie nur ein Bild für das Gewissen der Insulaner?
Ich glaube, dass es sie gibt und sie ist sicher nicht so verrückt, wie die Insulaner denken. Über ihre symbolische oder sonstige Bedeutung bin ich mir aber noch nicht so richtig im Klaren.
Die beiden Frauen mit den Milchkannen auf S. 148 erinnern mich an Janet Lewis' Draußen die Welt: Dort war es das Spülen, das man auch noch ausführen muss, wenn die Welt untergeht, hier ist es Essen, Milch und Kühe, die dafür sorgen, dass es weitergeht.
Das ist anscheinend ein nicht zu unterschätzender Aspekt. Es sind Strohhalme, an die sich die Menschen klammern. Das kann man auch in der Ukraine sehen, wie verzweifelt die Menschen versuchen, eine Art von Leben oder Normalität aufrecht zu halten.
Was die politischen Bezüge betrifft, so will ich sie nicht überinterpretieren. Andererseits kann ich mir auch schwer vorstellen, dass Tarjei Vesaas in der Zeit der heraufziehenden Nazigefahr so ein Buch ohne Hintergedanken geschrieben hat. Er ist in der Zeit vor dem Krieg durch Europa gereist, hat eine Weile in München gelebt und hatte sicher eine Ahnung, was kommen würde.
Ich habe das ja abgelehnt, aber noch ein bisschen darüber nachgedacht. Es könnte schon sein, dass Vesaas mit solchen Gruppendynamiken und dem Mitläufertum auch die Vorgänge in der Nazizeit im Hinterkopf hatte.
Ich freue mich unglaublich, dass auch "Der Keim" so ein tolles Buch ist. Am meisten freue ich mich für den Guggolz Verlag, dem ich jeden Verkaufserfolg von Herzen gönne.
Ich freue mich auch sehr, ein so wunderbares Buch gelesen zu haben und der Guggolz-Verlag, das ist für mich der Beste! Ich habe noch 'Das Mädchen auf der Himmelsbrücke' da stehen und das ist sicher nicht das letzte Buch von Guggolz.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
2.651
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Auch diesen Abschnitt habe ich als äußerst intensiv empfunden. Der Roman und die Gemeinde konzentrieren sich komplett auf Rolv und dessen Schuld und Einsamkeit nach der furchtbaren (aber gemeinschaftlich ausgeführten) Tat.

Ich finde es spannend, wie Tarjei Vesaas immer wieder die Perspektiven wechselt und dadurch eine Art gesellschaftliches Panorama der Insel aufzeigt.

Kari scheint dabei eine Sonderrolle einzunehmen. Ich glaube, die Menschen verachten sie einerseits, fürchten sie aber auch als eine Art Todesengel, da ihre Geschichte mit den Angehörigen ja bekannt ist. Vielleicht folgen sie auch deshalb lieber ihrem Ratschlag, zur Scheune zu kommen.

Könnte es hier den nächsten Mob geben? Wird die Inselgemeinschaft Karl und Mari für die Tat ihres Sohnes und dessen Begleiter bestrafen oder verurteilen?

Ich bin wirklich gespannt, in welche Richtung sich der Roman im letzten Abschnitt entwickeln wird.