3. Leseabschnitt: Buch II. (Seite 151 bis 233)

tinderness

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25. November 2021
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Wien und Wil
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Welpengeruch. Wir sind im nächsten Kapitel, das mich auf verschiedenste Weise überrascht hat. Plötzlich weitet sich der erzählerische Raum, der uns nach dem Stakkato kalter Sprache im Ersten Kapitel gewährt wird: das Sprachtempo wird langsamer, die Hinwendung zum Gegenüber beinahe zärtlich, die Abwägungen der Gedanken und vor allem der eigenen Handlungen vorsichtiger. Zwei Kunden aus dem Inland sind aufgetaucht, mächtige, einflussreiche Kunden, bei denen jeder Fehler eine berufliche Katastrophe bedeuten kann. Die Intimität und Delikatesse des Kinderwunsches von Lada und Viktor Krawez erfordert vorsichtiges, rücksichtsvolles und verständnisvolles Vorgehen, welche in der Sprache des Romans seinen Ausdruck findet. Man hätte den Wechsel des Ductus nicht erwartet, und dennoch war er notwendig, will man den Kunden nicht nur Berechnung unterstellen, sondern ihre Bedürftigkeit und ihre Verzweiflung illustrieren. Das Geschäft mit den Kindern ist nicht nur gnadenlos sondern auch voller Verletzungen und Unwägbarkeiten.

Das ist die hohe literarische Kunstfertigkeit von Sofi Oksanen, dass sie ihre Sprache stets der erzählerischen Herausforderung anpassen kann, mit ihr im besten Sinne spielt, um zu gestalten. Die Situation ist eine andere geworden: auch die Koordinatorin und Erzählerin muss sich in ihrem Verhalten den neuen Gegebenheiten anpassen: "Deshalb erschienen mir die anderen Kunden wie noch blinde Welpen, die an meinen Brüsten hingen und an von denen man deshalb nicht erwarten konnte, dass sie mich sahen.Die Welpen rochen nur die Milch, und ich war für die Kunden nur jemand, der ihnen den Weg zum Babyduft wies." (S.187)

Und noch zwei weitere Handlungsstränge macht dieses Kapitel für die Erzählerin so sensibel: sie trifft auf ihr geliebtes Du und es geht ihr darum (in einer Art Kompensation wofür?) als Eizellenspenderin ihren "Star" Daria zu protegieren: "Wir bewegten uns im intimsten Bereich des Lebens, und deshalb waren wir an alles Mögliche gewöhnt (S.207).

Doch schon ist uns LeserInnen klar geworden dass die Unternehmung letzten Endes scheitern muss: denn sie hat ihre Rechnung ohne die Wirtin gemacht.
 
Zuletzt bearbeitet:

Emswashed

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9. Mai 2020
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Hmm, es wird nicht einfacher! Den Stimmungswechsel, den @tinderness herausgearbeitet hat, habe ich auch bemerkt, namentlich die Annäherung zwischen Olenka und Roman (Du).

Ladas und Viktors Welt ist bestürzend, voller Reichtum und Aberglaube. Mir kommen die beiden vor, wie ein Pharaonenpaar im alten Ägypten, die um jeden Preis, dem Volke sichtbar, eigene Nachkommenschaft zeugen müssen. Hinter den Kulissen wird auf Teufel komm raus getrickst und beschissen (weder Ei noch Same haben mit dem ursprünglichen Paar noch etwas zu tun).
Unter diesen Voraussetzungen musste das Geschäft mit den Eizellenspenden und Leihmüttern einfach erblühen und dem ukrainischen Staat dürfte dieser wichtige Geschäftszweig auch aufgefallen sein und dementsprechend ihre Gesetzgebung ausgerichtet haben.
Die Verknüpfungen dieses "Industriezweiges" in die Kinderheime hinein, dürfte aber für reichlich Zündstoff sorgen. Olenka scheint keinerlei Skrupel zu haben, über die zukünftige Verwendung der Kinder nachzudenken.

Was ich allerdings nicht verstehe, ist das Problem mit Darias Flucht. Kann Olenka nicht einfach zugeben, dass sie verschwunden ist und alle nach ihr suchen lassen? Auch Lada und Viktor haben keinen Anspruch auf eine zweite Dienstleistung von ihr.

Hatte ich anfangs noch Mitleid mit Olenka, habe ich jetzt eher das Gefühl, dass sie, ohne Rückschläge, über Leichen gegangen wäre.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Was ich allerdings nicht verstehe, ist das Problem mit Darias Flucht. Kann Olenka nicht einfach zugeben, dass sie verschwunden ist und alle nach ihr suchen lassen? Auch Lada und Viktor haben keinen Anspruch auf eine zweite Dienstleistung von ihr.
Hm, ich vermute, da geht es nicht mehr um die Frage, was die beiden beanspruchen können. Die sind so ungeheuer mächtig, dass sie praktisch alles verlangen können.
Seltsam ist, dass Viktor mehrmals vor der Erzählerin so viel von sich preisgibt. Er spricht mit ihr wie mit einer Beichtmutter. Bei einem solchen Menschen muss man es mit der Angst bekommen, da kann jedes Wissen über intime Details des Privatlebens gefährlich werden.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Die Verknüpfungen dieses "Industriezweiges" in die Kinderheime hinein, dürfte aber für reichlich Zündstoff sorgen. Olenka scheint keinerlei Skrupel zu haben, über die zukünftige Verwendung der Kinder nachzudenken.
Dieser Abschnitt hat mich hier am meisten bestürzt. Bisher hatte ich Olenka (wahrscheinlich noch viel zu viel) Mitleid entgegengebracht. Sie war erst selbst Spenderin aus der Not heraus und hat sich selbst gerettet, indem sie in der Firma aufstieg. So schien es zunächst. Die im vorherigen Leseabschnitt sich anbahnende Kaltblütigkeit weitet sich hier massiv aus. Kinder, die direkt "ab Werk" geliefert werden, um zur weiteren Produktion bereit zu stehen. Da rückt auch die angeblich geplante Rettung von Daria hin zum Modeln und weg vom Spenden in den Hintergrund.

Da sich Olenka in so vielen Facetten zeigt/beschreibt, wird für mich immer deutlicher, dass sie ja hier die Erzählerin ist und auch ihre Darstellung der Geschichte drehen und wenden kann, wie sie möchte. Eine sicherlich nicht allzu zuverlässige Erzählerin.

Auch Lada und Viktor haben keinen Anspruch auf eine zweite Dienstleistung von ihr.
Vielleicht ja doch, wer weiß was alles in dem ausgehandelten Vertrag drinsteht. Und es würde auch ein massiv schlechtes Licht auf die "seriöse Agentur" werfen, wenn eine Spenderin (warum auch immer, ich verstehe es auch nicht) "flüchten" muss. Da bin ich auf die Auflösung gespannt.

Was ich noch nicht ganz verstehe ist die Öffentlichkeitsarbeit der Agentur. Wenn es auf Seite 170 heißt:
Ich besuchte eine einschlägige Veranstaltung nach der anderen... Kinder und Wohltätigkeit...Konferenzen und Festen...bedeutende Philantropen. ...UNICEF mochte mich..." usw.
Warum gerade UNICEF? Warum mag ein Kinderhilfswerk eine Frau, die Eizellspenderinnen und Leihmütter vermittelt, wenn doch, um es mal plakativ zu sagen, so viele Kinder unvermittelt in Kinderheimen leben müssen? Wird dieser Geschäftsbereich wirklich so hofiert? Wenn ja, unglaublich!

Ja und dann hinterlässt uns Sofi Oksanen wieder einmal so einen Cliffhanger am Ende des Buchabschnitts. Das scheint wirklich ihre Spezialität zu sein. Nun hoffe ich, dass ab Mitte des Buches nicht immer mehr lose Fäden hinzukommen, sondern auch langsam mal Zusammenhänge hergestellt werden. Ich bin jedenfalls weiterhin begeistert vom Roman.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Die im vorherigen Leseabschnitt sich anbahnende Kaltblütigkeit weitet sich hier massiv aus.
Sie ist mittlerweile in einer Position, die sie nicht mehr verlieren möchte. Es geht ihr in erster Linie um sich selbst, keineswegs will sie wieder dahin zurück, wo sie herkam.
Ja, sie ist keine Sympathieträgerin. Die Verhältnisse, aus denen sie kommt, haben sie hart werden lassen. Überall, wo sie ist, herrscht Kampf ( daheim, in der Modelbranche und in ihrem neuen Geschäft). Da darf man keine Schwäche zeigen, sonst nehmen andere deinen Platz ein.
Natürlich wäre mehr Menschlichkeit wünschenswert.
Vielleicht ja doch, wer weiß was alles in dem ausgehandelten Vertrag drinsteht.
Schon gut möglich, dass es im Vertrag heißt, dass die Spenderin für weitere Spenden zur Verfügung stehen muss. Die Paare möchten hier wahrscheinlich keinen Wechsel, schon um die Ähnlichkeit unter den Geschwistern zu gewährleisten.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Ich oute mich mal als Leserin, der Olenka durchaus sympathisch ist. Ihre Skrupellosigkeit ist abstoßend, auch für mich, aber das ist - wiederum für mich - reine Verstandessache. Emotional neige ich immer wieder dazu, ihrer Sprachgewalt, ihrem Witz, ihrer Schonungslosigkeit - auch was ihre eigenen gescheiterten Illusionen angeht - zu verfallen. Vermutlich liegt das an mir, ich kenne mich selbst gut genug, um zu wissen, wie leicht ich auf zungenfertige Erzähler hereinfalle. :rolleyes:
 

Querleserin

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Der Cliffhanger verleitet tatsächlich dazu, direkt weiterlesen zu wollen, glücklicherweise ist das Wochenende nah.
Olenka ist mir auch nicht direkt unsympathisch, aber sie ist wirklich kaltherzig. Das mit den Kinderheimen ist wirklich bestürzend, da zeigt sich einerseits ihr Geschäftssinn, andererseits hat sie selbst „Mist“ gebaut und muss jetzt liefern. Insofern hat sie auch Mitleid verdient, sie hat sich in diese Situation hinein manövriert.
Wenn ich versagte, würde meine Mutter im nächsten Jahr mit ihren Möhrensäcken in einer ebensolchen Bude bibbern. (222)
Sie agiert so „kaltblütig“, um ihre Familie zu schützen.

Wir wissen jetzt, wer Du ist und ein Faden, der im letzten LA ausgelegt wurde, taucht wieder auf:
Der Augenblick ging vorüber, in dem ich von meinem Vater hätte erzählen können, von all dem, was in Snischne passiert war und warum ich über Snischne gelogen hatte, sowohl in Bezug auf mich als auch auf Daria. Ich hätten die Richtung meines Schicksals ändern können… (222)
Warum ist es so wichtig, dass sie Roman nicht die Wahrheit über ihre Herkunft erzählt hat und was hat sie Darias Familie angetan?
Ihr Vater ist bei einem Unfall beim illegalen Kohleabbau ums Leben gekommen. Er wäre fast ins Gefängnis gekommen. (37) In welche Geschäfte war er verwickelt?
Ich hoffe, der nächste LA beantwortet Fragen, statt immer neue zustellen ;)
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Olenka ist mir auch nicht direkt unsympathisch, aber sie ist wirklich kaltherzig.
Insofern hat sie auch Mitleid verdient, sie hat sich in diese Situation hinein manövriert.
Diese Eindrücke kann ich auch bestätigen und für mich persönlich macht dies auch einen Reiz des Buches aus. Hier ist niemand eindeutig gut oder böse. Die Figuren sind vielschichtig angelegt. Ihre Hintergrundgeschichten haben sie geformt. Das ist gut gemacht.
 

Literaturhexle

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Da rückt auch die angeblich geplante Rettung von Daria hin zum Modeln und weg vom Spenden in den Hintergrund.
Im Grunde sind das für mich alles halbseidene Tätigkeiten, Kompromisse, die notwendig sind, weil die Frauen weder Ausbildung noch Perspektive haben. Wenn man sich nicht in den niedrigsten Lohnschichten mit Putzen verdingen will (oder Prostitution!), erscheinen diese Möglichkeiten auf den ersten Blick vielleicht angenehmer. (Wobei ich Modeln keineswegs mit der Spenderei gleichsetzen will, aber es bleibt für viele ein Traum, den nur extrem wenige realisieren können.)
Erstaunlich auch für mich, dass die Eizellenspende dort ein anerkanntes Business ist, mit dem man auch in angesehenen Geschäftshäusern Räume anmieten kann. Ich hätte das eher in einer "Schmuddelecke" verortet.

Die Sprache wird tatsächlich weicher. Olenka führt uns durch ihre Erinnerungen, in denen sie Viktor und "Du" kennenlernte. Da ist zuviel Emotion im Spiel, als das sie die kalte, erbarmungslose Sprache aus dem ersten Teil beibehalten könnte. Zweifellos muss man diese sprachliche Kompetenz der Autorin zu Gute halten.

Der wichtige Kunde birgt eine Chance, aber auch ein ebensolches Risiko. Wir wissen im Grunde ja schon, dass es dramatisch endete - auch wenn wir die Details noch nicht kennen. Vom Aufbau her (incl. Cliffhanger) toll gemacht!

Eine sicherlich nicht allzu zuverlässige Erzählerin.
Auf alle Fälle. Wir haben hier nur ihre Perspektive, die nicht der objektiven Wahrheit entsprechen muss. Den Eindruck, dass sie uns bewusst manipuliert, habe ich bislang nicht.

Hier ist niemand eindeutig gut oder böse. Die Figuren sind vielschichtig angelegt. I
Das ist ein riesengroßes Plus dieses Romans. Die gleiche Geschichte in den Händen einer Herz-Schmerz-Autorin - ich will mir gar nicht vorstellen, was daraus werden würde.

All die offenen Fragen habt ihr genannt, die interessieren mich auch brennend! Was ist da so entscheidend schief gelaufen?
 

otegami

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17. Dezember 2021
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Erstaunlich auch für mich, dass die Eizellenspende dort ein anerkanntes Business ist, mit dem man auch in angesehenen Geschäftshäusern Räume anmieten kann. Ich hätte das eher in einer "Schmuddelecke" verortet.
Oh ja, da war ich auch total erstaunt - hatte ich so nicht erwartet!

Wir haben hier nur ihre Perspektive, die nicht der objektiven Wahrheit entsprechen muss. Den Eindruck, dass sie uns bewusst manipuliert, habe ich bislang nicht.
Es erzählt ja jeder nur aus seiner eigenen Perspektive und ich bin überzeugt, dass die wenigstens dabei jemanden manipulieren wollen. (Habe gelesen, es spräche von Intelligenz, wenn man die Perspektiven auch wechseln könne! ;) )
 

Literaturhexle

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Es erzählt ja jeder nur aus seiner eigenen Perspektive und ich bin überzeugt, dass die wenigstens dabei jemanden manipulieren wollen.
Das ist schon klar. Ich persönlich verbinde mit dem "unzuverlässigen Erzähler", der weiter oben genannt wurde, eine Erzählinstanz, die bewusst Tatsachen verdreht, bewusst uneindeutig bleibt, Dinge absichtlich verschweigt, sich selbst widerspricht usw.
Ich fühle mich bislang nicht manipuliert. Persönliche Perspektive ist natürlich immer auch subjektiv.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ich habe eigentlich den Eindruck, dass die Erzählerin relativ ehrlich mit sich selbst und mit uns ist. Dass sie einen anderen Erfahrungshorizont hat als wir und die Dinge (Themen Korruption, der Mohnanbau, die Vermarktung der Frauen) etwas anders beurteilt, ist selbstverständlich. Da urteilt jeder Mensch aufgrund seiner Lebensumstände.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Auf alle Fälle. Wir haben hier nur ihre Perspektive, die nicht der objektiven Wahrheit entsprechen muss. Den Eindruck, dass sie uns bewusst manipuliert, habe ich bislang nicht.
So sehe ich das auch. Den typischen „ unzuverlässigen Erzähler“ haben wir hier nicht. Olenka erzählt nicht ( bewusst) die Unwahrheit, nur ihre Version der Geschichte.
Das ist schon klar. Ich persönlich verbinde mit dem "unzuverlässigen Erzähler", der weiter oben genannt wurde, eine Erzählinstanz, die bewusst Tatsachen verdreht, bewusst uneindeutig bleibt, Dinge absichtlich verschweigt, sich selbst widerspricht usw.
Ich fühle mich bislang nicht manipuliert. Persönliche Perspektive ist natürlich immer auch subjektiv.
Habe erst jetzt Deinen Kommentar dazu gelesen.
 

otegami

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17. Dezember 2021
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Erstaunt war ich auch über die Schilderung des Umgangs mit den 'Heilern' Allan Tschumak und Anatoli Kaschpiowski. (Es war allerdings nicht das erste Mal, wo ich von ihnen las.)
Ich persönlich bin da zu nüchtern dazu, aber ich finde es schon wieder faszinierend, wie viele 'fans', sprich Gläubige die haben!