Krieg. Manchmal, wenn man einen Gesprächspartner darauf hinweist, dass in Europa schon seit Jahren Krieg geführt wird, erntet man verständnislose Blicke. Welcher Krieg? Weit weg geschoben wird die Tragödie, die auf dem Territorium der Ukraine vor sich geht und schnell immer breitere Bevölkerungsschichten in den Krieg hineinzieht. Das, worauf die Erzählerin im Verlauf dieses Kapitels wiederholt hinweist, ist der Krieg, welcher mit der Annexion der Halbinsel Krim (2014) und dem von Russland provozierten Aufstand in der Region Donbass (ab 2014) immer wieder die Medien beschäftigt hat. Es ist ein Zeichen für die Unerbittlichkeit der Entwicklung, dass heute, im Jänner 2022, russische Truppen erneut mit martialischer Drohgebärde an der Grenze zur Ukraine stehen, um den latenten Krieg weiter zu eskalieren. Die zunächst lokale Kriegsgefahr hat sich zu einer globalen Krise verdichtet. "
Cyberkrieg" findet schon längst statt und schürt die Hysterie nur noch weiter.
Eines zeigt die thematische Bearbeitung des Krieges in Osanens Roman vor allem: dass es nicht nur die Verwerfungen der postsowjetischen Gesellschaft sind, die das materielle und psychische Elend der Romanfiguren verursacht, sondern der Krieg ein Übriges tut, um die moralischen Regeln der Gesellschaft zu verrohen und jede realistische Hoffnung begraben.
"Nur einen Steinwurf von unserem ehemaligen Zuhause gab es möglicherweise Hunderttausende russische Soldaten. (...) Diese hohen Zahlen und die Mengen der Militärstiefel drangen mit einer Macht in mein Bewusstsein, dass mir die Ohren klangen."
Die Erzählerin spricht es an, in einer Sprache, die Entwürdigendes seltsam geschönt beim Namen nennt. Frauen bleiben in der verrohten und von Männern dominierten Kriegsökonomie nur wenig Möglichkeiten, sich selbst zu versorgen: mit ihren Männern und an ihnen zu leiden, sich (für viele überraschend) in die ukrainische Armee zu inskribieren oder ihren Körper und ihre Identität zu verkaufen. Das heisst dann "Modelling", "Hostessendienst", "Leihmutterschaft" oder "Eizellenspende". Welch Verharmlosung der Sprache, die ihre Ungeheuer gebiert, das Unsagbare, das vielleicht auch Undenkbare.
Nur in der Hierarchie der illegalen Tätigkeit ist für die kriminell Tüchtigen und Starken ein Fortkommen möglich, ebenso wie die Lösung vom Verkauf des eigenen Ichs. Der moralisierende Charakter von "ehrlicher" Arbeit hat sich desavouiert und als Trugbild herausgestellt: weil es keine mehr gibt. Auch für Männer nicht, zumindest nicht in Legalität. Im Übrigen passt man sich notgedrungen den politischen Verhältnissen an: patriotische Ukraine oder scheinheilige Russophilie, beides kann dem Geschäftsmodell nur nützlich sein: nur gewusst wann, wo und wie. Und sogar Wohltätigkeit dient dem schlechten Zweck. Es hat sich in bitterer Konsequenz für die Erzählerin als richtig herausgestellt, dem Heimatort entflohen zu sein ebenso wie einer rasch geschlossenen Ehe: "Wäre das alles mit dem Krieg zusammengebrochen, wären auf meinem Esstisch verbrannte Leichenteile geknallt, hätte mein Sohn Hülsen und Splitter zum Spielen gesammelt ..." Es gibt keine Option für die Heimat.
So wird der Westen zum Zufluchtsort, ein Paris etwa oder ein Wien und auch ein Helsinki. Denn übrig bleibt nur der Weggang aus dem alten Zuhause in ein neues Entwurzeltsein. Aus der eigenen Biographie ist die Herkunft zu streichen, denn Krieg und Armut haben sie zerstört. Aber auch der Westen ist nur vorübergehender Zufluchtsort, denn er ist die Gegenwelt, die ebenfalls Ungeheuer gebiert: moralbefreite Familien mit ihrem perversen Drang zum Kinderglück um jeden Preis. Und selbst im Paradies des Westens kann man vor der Vergangenheit niemals sicher sein. Das zeigt sich paradigmatisch in jenem kleinen Hundepark in der finnischen Hauptstadt.