2. Leseabschnitt: Zweiter Teil Buch I. (Seite 91 bis 149)

tinderness

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Wien und Wil
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Krieg. Manchmal, wenn man einen Gesprächspartner darauf hinweist, dass in Europa schon seit Jahren Krieg geführt wird, erntet man verständnislose Blicke. Welcher Krieg? Weit weg geschoben wird die Tragödie, die auf dem Territorium der Ukraine vor sich geht und schnell immer breitere Bevölkerungsschichten in den Krieg hineinzieht. Das, worauf die Erzählerin im Verlauf dieses Kapitels wiederholt hinweist, ist der Krieg, welcher mit der Annexion der Halbinsel Krim (2014) und dem von Russland provozierten Aufstand in der Region Donbass (ab 2014) immer wieder die Medien beschäftigt hat. Es ist ein Zeichen für die Unerbittlichkeit der Entwicklung, dass heute, im Jänner 2022, russische Truppen erneut mit martialischer Drohgebärde an der Grenze zur Ukraine stehen, um den latenten Krieg weiter zu eskalieren. Die zunächst lokale Kriegsgefahr hat sich zu einer globalen Krise verdichtet. "Cyberkrieg" findet schon längst statt und schürt die Hysterie nur noch weiter.

Eines zeigt die thematische Bearbeitung des Krieges in Osanens Roman vor allem: dass es nicht nur die Verwerfungen der postsowjetischen Gesellschaft sind, die das materielle und psychische Elend der Romanfiguren verursacht, sondern der Krieg ein Übriges tut, um die moralischen Regeln der Gesellschaft zu verrohen und jede realistische Hoffnung begraben. "Nur einen Steinwurf von unserem ehemaligen Zuhause gab es möglicherweise Hunderttausende russische Soldaten. (...) Diese hohen Zahlen und die Mengen der Militärstiefel drangen mit einer Macht in mein Bewusstsein, dass mir die Ohren klangen."

Die Erzählerin spricht es an, in einer Sprache, die Entwürdigendes seltsam geschönt beim Namen nennt. Frauen bleiben in der verrohten und von Männern dominierten Kriegsökonomie nur wenig Möglichkeiten, sich selbst zu versorgen: mit ihren Männern und an ihnen zu leiden, sich (für viele überraschend) in die ukrainische Armee zu inskribieren oder ihren Körper und ihre Identität zu verkaufen. Das heisst dann "Modelling", "Hostessendienst", "Leihmutterschaft" oder "Eizellenspende". Welch Verharmlosung der Sprache, die ihre Ungeheuer gebiert, das Unsagbare, das vielleicht auch Undenkbare.

Nur in der Hierarchie der illegalen Tätigkeit ist für die kriminell Tüchtigen und Starken ein Fortkommen möglich, ebenso wie die Lösung vom Verkauf des eigenen Ichs. Der moralisierende Charakter von "ehrlicher" Arbeit hat sich desavouiert und als Trugbild herausgestellt: weil es keine mehr gibt. Auch für Männer nicht, zumindest nicht in Legalität. Im Übrigen passt man sich notgedrungen den politischen Verhältnissen an: patriotische Ukraine oder scheinheilige Russophilie, beides kann dem Geschäftsmodell nur nützlich sein: nur gewusst wann, wo und wie. Und sogar Wohltätigkeit dient dem schlechten Zweck. Es hat sich in bitterer Konsequenz für die Erzählerin als richtig herausgestellt, dem Heimatort entflohen zu sein ebenso wie einer rasch geschlossenen Ehe: "Wäre das alles mit dem Krieg zusammengebrochen, wären auf meinem Esstisch verbrannte Leichenteile geknallt, hätte mein Sohn Hülsen und Splitter zum Spielen gesammelt ..." Es gibt keine Option für die Heimat.

So wird der Westen zum Zufluchtsort, ein Paris etwa oder ein Wien und auch ein Helsinki. Denn übrig bleibt nur der Weggang aus dem alten Zuhause in ein neues Entwurzeltsein. Aus der eigenen Biographie ist die Herkunft zu streichen, denn Krieg und Armut haben sie zerstört. Aber auch der Westen ist nur vorübergehender Zufluchtsort, denn er ist die Gegenwelt, die ebenfalls Ungeheuer gebiert: moralbefreite Familien mit ihrem perversen Drang zum Kinderglück um jeden Preis. Und selbst im Paradies des Westens kann man vor der Vergangenheit niemals sicher sein. Das zeigt sich paradigmatisch in jenem kleinen Hundepark in der finnischen Hauptstadt.
 

tinderness

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Wien und Wil
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Unsichtbar. So heisst das mit diesem Leseabschnitt abgeschlossene Erste Buch. Beim Nachdenken darüber fiel mir auf: Unsichtbar wollen beide sein, die Erzählerin, welche im Hundepark die finnische Familie beobachtet und Daria, welche ebendort zusätzlich auch noch die Erzählerin beobachtet. Unsichtbar mussten beide Frauen sich bewusst auch machen, nachdem sie (aus unterschiedlichen Gründen) die Flucht ergriffen haben. Unsichtbar werden auch all die jungen Frauen, die ihre Eizellen zur Verfügung gestellt haben: zum Wohle der nunmehr offiziellen Eltern. Das wird zynisch auch Diskretion genannt. Und unsichtbar bleibt das Elend der Menschen in Armut, Korruption und Krieg. Unrecht gedeiht meist gut versteckt vom Licht des öffentlichen Interesses. Da wie dort.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Ich bin überrascht und herausgefordert vom zweiten Leseabschnitt; hat er doch soviel weniger Seiten, wie der vorherige und wirft dabei umso mehr Fragen auf.
Jetzt beginnt man langsam zu ahnen, wer denn das angesprochene "Du" sein könnte und dass dieses "Du" es nicht mehr so gut mit Olenka meint.
Olenka hat einen Sohn, aber der lebt nicht mehr. Er soll in der Urne mit ihrer Mutter zusammen in die Ukraine zurückfliegen. Was ist mit dem Sohn passiert?
Und warum ist Daria nach Finnland gekommen und hat all diese Fotos gemacht? Wird sie erpresst?
Der Abschuss der malayischen Maschine über der Ukraine im Juli 2014 ist fest eingebunden in die Geschichte und verdeutlicht die Hilflosigkeit eines ganzen Landes: "Jetzt, wo soviele Nationen involviert waren, musste es doch Hilfe aus allen Richtungen geben...".
Olenka will fliehen, nur ist ihre Ausgangsposition nicht mehr dieselbe, wie bei ihrer ersten Flucht.
Die Spannung steigt.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Die Autorin nutzt in diesem Abschnitt die Mittel des Thrillers (als Thriller wird das Buch ja auch im Klappentext bezeichnet): sie legt so viele einstweilen noch unverständliche Spuren, dass man das Gefühl leichter Überforderung bekommt. Bei mir ist es jedenfalls so. Wenn man es genau nimmt, müsste man diesen Abschnitt nach Abschluss nochmal lesen, um zu prüfen, ob auch alles zusammenpasst bei dieser Verrätselung.
Immerhin kann ich mir jetzt von der Erzählerin selbst ein genaueres Bild machen. Die Szene, als sie ihren Koffer in Augenschein nimmt, ist sehr ausdrucksvoll.

Angestrichen habe ich mir die Passage mit dem "Erdbeerfrieden" (S. 103) - bei uns in Deutschland würde man vielleicht auch von Spargelfrieden sprechen. Wie sieht es damit wohl nach den jüngsten Eskalationen aus?
 

tinderness

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Wien und Wil
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Die Autorin nutzt in diesem Abschnitt die Mittel des Thrillers (als Thriller wird das Buch ja auch im Klappentext bezeichnet): sie legt so viele einstweilen noch unverständliche Spuren, dass man das Gefühl leichter Überforderung bekommt.
Ja, das stimmt. Doch entspricht dies aus meiner Sicht mehr der Logik des Nachdenkens und Raisonnierens einer Person, denn einem bewussten Spurenlegen, um die Spannung zu erhöhen. Auf alle Fälle würde ich vor einer "Überpretation" warnen; wenn etwa Irene Binal auf dlf-kultur überzogen meint: "In der oft verwirrenden Handlung mit ihren Zeitsprüngen und rätselhaften Andeutungen spiegelt sich die Verwirrung eines Landes..."
 

otegami

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17. Dezember 2021
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Der Abschuss der malayischen Maschine über der Ukraine im Juli 2014 ist fest eingebunden in die Geschichte und verdeutlicht die Hilflosigkeit eines ganzen Landes: "Jetzt, wo soviele Nationen involviert waren, musste es doch Hilfe aus allen Richtungen geben...".
Die Beschreibung fand ich auch heftig! Wir vernahmen es in den Nachrichten, bedauerten die Opfer und Hinterbliebenen, aber was dies für die Menschen bedeutete, die im Absturzgebiet lebten, daran hatte ich nicht gedacht. (Muss ich ehrlich zugeben!:oops:)
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Nach diesem Anschnitt bleiben viele Fragen. Hier gab es nun auch keine zwei Erzählstränge, sondern die Handlungsebene ist im Helsinki 2016 angesiedelt. Gleichzeitig wurden dem Leser immer wieder einzelne Brocken aus der Vergangenheit hingeworfen. Diese Puzzleteile lassen sich aber noch nicht so richtig in das Ganze einfügen.
 

otegami

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Angestrichen habe ich mir die Passage mit dem "Erdbeerfrieden" (S. 103) - bei uns in Deutschland würde man vielleicht auch von Spargelfrieden sprechen.
Sehr gut gefiel mir auch der 'Putin-Käse'! (Als Käse-fan sprach er mich natürlich besonders an *gg*!)
Da sind ja etliche Fragen aufgetaucht: Lada Krawez und deren Beziehung zu 'Du'? 'Du und ich und unser Sohn? Ist Oleschko, der Sohn, auf die Welt gekommen oder war er das Blut auf dem Laken am nächsten Morgen? Wer war das Baby, das die Nachbarin gehört hatte? 'Du' ist so nahe der Schwieto und Enkelkinder des Chefs? Und wer ist Viktor, den Olenka nicht getötet haben will?
Ufffff, das sind mehr Fragen als Antworten in diesem Leseabschnitt! :oops:
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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ch bin überrascht und herausgefordert vom zweiten Leseabschnitt
So geht es mir auch. So viele Andeutungen, die sich sicherlich erst in den nächsten Kapiteln auflösen werden.
Wenn man es genau nimmt, müsste man diesen Abschnitt nach Abschluss nochmal lesen, um zu prüfen, ob auch alles zusammenpasst bei dieser Verrätselung.
Das ist eine gute Idee. Merken wir uns für später ;)
Hmmmm, wenn die Schwangerschaft schon weit fortgeschritten war.............. (Wir wissen nicht, wie in Finnland damit umgegangen wird!) Was mich aber auch irritierte: das Babygeschrei!
Den Gedanken zur Urne hatte ich auch. Es muss ja schon entscheiden werden, was mit kleinen Babys passiert, die z.B. im Endstadium der Schwangerschaft versterben. Meines Wissens können diese auch in Deutschland regulär auf einem Friedhof begraben werden. Also vielleicht auch Feuerbestattung mit Urne und in Finnland darf man vielleicht diese mit nachhause nehmen. Das Babygeschrei ist meines Erachtens eher ein psychotisches Schreien von Olenka gewesen. Sie hat sich vielleicht in Fantasien um ein problemlos ausgetragenes Baby nineingesteigert und dabei selbst Geräusche gemacht.
Der Abschuss der malayischen Maschine über der Ukraine im Juli 2014 ist fest eingebunden in die Geschichte und verdeutlicht die Hilflosigkeit eines ganzen Landes
Bei dieser Begebenheit hatte ich erst gestutzt, dass die Autorin dem so viel Raum einräumt, aber natürlich wurde mir später klar, dass es für die Erzählerin durchaus Sinn macht, den Absturz und die Folgen genaustens zu beschreiben, da ihr Vater ja aus der Stadt stammt, sie selbst dort kurz gewohnt hat und sie damit eine noch engere Verbindung zu dem Thema hat. Zunächst hielt ich es für eine doch zu offensichtliche Holzhammermethode, um den Krieg in der Ostukraine zu verdeutlichen.
 

otegami

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Das Babygeschrei ist meines Erachtens eher ein psychotisches Schreien von Olenka gewesen. Sie hat sich vielleicht in Fantasien um ein problemlos ausgetragenes Baby nineingesteigert und dabei selbst Geräusche gemacht.
Auf S. 145 'Dann begriff ich, dass die Frau vom Weinen des Babys aufgewacht sein musste, und öffnete die Tür.'
Und Du kannst Dir vorstellen, dass Olenka das selbst verursacht hat, selbst wie ein Baby geweint hat? (So gut, dass das für die Nachbarin überzeugend war?) Das fände ich schon sehr schräg!
 
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GAIA

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27. Dezember 2021
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Und Du kannst Dir vorstellen, dass Olenka das selbst verursacht hat, selbst wie ein Baby geweint hat? (So gut, dass das für die Nachbarin überzeugend war?) Das fände ich schon sehr schräg!
Tatsächlich würde ich es nicht ausschließen. Außerdem ist es Olenkas Vermutung, dass die Nachbarin durch "das Babygeschrei" aufgewacht ist. Die Nachbarin hat ja nichts dergleichen gesagt. Die Nachbarin könnte also auch von Geschrei/Töne/Geräusche (welcher Art auch immer), die Olenka selbst im Wahn produziert hat, wach geworden sein und hat gefragt, ob Olenka Hilfe brauche. Jemand, der in einer psychotischen Störung nach einem traumatischen Erlebnis gefangen ist, würde jeden äußeren Reiz in den eigenen Wahninhalt einbinden. Für Olenka wäre es dann vollkommen logisch, dass die Nachbarin nur vom Babygeschrei wach geworden ist, obwohl in der Realität es etwas ganz anderes und ganz eigenes gewesen sein könnte.
 

otegami

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@GAIA, ich bin gespannt, ob das noch aufgelöst wird ;) ! Wie es so schön heißt: wir behalten das im Auge!
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
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Wir wissen jetzt auch, dass die Familie im Hundepark mit beiden Frauen verknüpft ist. Der Junge ist Olenkas Sohn, das Mädchen Darias Tochter. Olenka stammt die Familie regelrecht, sie sucht einen Kontakt- das heile Familienleben im Kontrast zu ihrem eigenen Leben. Daher steht Hundepark auf ihrer Liste ganz oben.
Aus der Parkbank wurde ein weicher Kinosessel, in dem ich versank, um an nichts anderes zu denken. (109)
Ich fing die Winterlandschaft und den vor Familienglück strahlenden Augenblick ihres Aufenthalts im Freien in einer Weise ein, zu der nur ein Mensch imstande ist, dem ein solcher Traum fehlt.
Daria war auch eine Hoffnung Olenkas all dem zu entfliehen, was ist geschehen? Olenka hat „Du“ Darias wahre Herkunft verschwiegen,
hätte sie es getan, wäre vielleicht nichts schiefgegangen. (117)
 
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